Titel:
Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme, Altersfeststellungsverfahren, Medizinisches Gutachten zur Volljährigkeit (unzureichend)
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
SGB VIII § 42a
SGB VIII § 42f
Schlagworte:
Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme, Altersfeststellungsverfahren, Medizinisches Gutachten zur Volljährigkeit (unzureichend)
Fundstelle:
BeckRS 2023, 25361
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme durch das Stadtjugendamt der Antragsgegnerin mit Bescheid vom ... wird bis zur Feststellung der Volljährigkeit des Antragstellers durch ein fachgerechtes medizinisches Gutachten zur Altersbestimmung angeordnet.
II. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Beendigung seiner vorläufigen Inobhutnahme.
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Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben kongolesischer Staatsangehöriger und reiste am … … … in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am selben Tag wurde der Antragsteller, der angab am … … … geboren zu sein, von dem Stadtjugendamt der Antragsgegnerin gemäß § 42a SGB VIII vorläufig in Obhut genommen.
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Bei der Festlegung des Alters auf Grundlage des Erstgesprächs gemäß § 42f SGB VIII am … … … kam die Antragsgegnerin zu dem Ergebnis, dass ein Zweifelsfall vorliege. Daraufhin wurde das Universitätsklinikum … mit der Erstellung eines rechtsmedizinischen Gutachtens zur Altersbestimmung des Antragstellers beauftragt.
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Die rechtsmedizinische Untersuchung des Antragstellers fand am … … … statt.
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In dem daraufhin erstellten Gutachten vom … … … wurde ausgeführt, dass nach dem subjektiven Eindruck des untersuchenden Arztes das Lebensalter zwischen 16 und 18 Jahren liege. Es ergäben sich keine Hinweise auf Erkrankungen oder sonstige hormonelle Gegebenheiten, die eine andere als die übliche Methodik zur Alterseinstufung erforderlich machen würde.
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Hinsichtlich der zahnärztlichen Untersuchung wurde festgehalten, dass der Antragsteller ein vollständiges Erwachsenengebiss aufweisen würde. Unter Heranziehung der Studien von Demirijan und Olze und unter Betrachtung des Wurzelwachstums sowie der Eruption der Weisheitszähne sei ein Alter von mindestens 18 Jahren anzunehmen. Für diese Annahme habe das Mindestalterkonzept Anwendung gefunden. Unter Heranziehung der Durchschnittswerte der Studien von O. und D., sei daher ein Alter des Antragstellers von 21 Jahren wahrscheinlich. Der radiologische Untersuchungsbefund würde als Beurteilung festhalten, dass ein bildmorphologisch abgeschlossenes Knochenwachstum der linken Hand vorliege und aufgrund der partiellen Fusion der medialen Clavicula links das Alter unter 18 Jahren liege. In Zusammenschau der Befunde sei aus rechtsmedizinischer Sicht zu konstatieren, dass die Zahnentwicklung aufgrund der eindeutigen Befundlage als ausschlaggebendes Kriterium überwiege und somit ein Mindestalter von 18 Jahren angenommen werden müsse.
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Mit Bescheid vom 2. Mai 2023 wurde die vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers gemäß § 42a SGB VIII durch die Antragsgegnerin beendet. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass im Rahmen der ärztlichen Untersuchung die Volljährigkeit des Antragstellers festgestellt worden sei.
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Mit Schreiben vom 1. Juni 2023, eingegangen am 2. Juni 2023, erhob der Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht München gegen den Bescheid vom 2. Mai 2023 (M 18 K …).
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Gleichzeitig ist im vorliegenden Verfahren beantragt worden,
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gemäß § 123 VwGO die Antragsgegnerin zu verpflichten, den Antragsteller sofort vorläufig in Obhut zu nehmen und in einer geeigneten Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung unterzubringen.
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Mit Schriftsatz vom … … … begründete der Antragsteller Klage und Eilantrag im Wesentlichen damit, dass die in dem Bescheid vom 2. Mai 2023 aufgeführten Untersuchungsergebnisse der Rechtsmedizin teilweise falsch seien. Zu den inhaltlichen Angaben werde im Gutachten lediglich ausgeführt, dass der Antragsteller angegeben habe, knapp 16 Jahre alt zu sein. Das Verhalten werde im Gutachten nicht erwähnt. Sollten sich diese Angaben auf die qualifizierte Inaugenscheinnahme beziehen, sei zu berücksichtigen, dass der Antragsteller aufgrund der traumatischen Erlebnisse in seinem Heimatland und auf der Flucht eine schwere depressive Episode sowie eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt habe und das Verhalten sowie die inhaltlichen Angaben nur bedingt berücksichtig werden könnten, da die Erkrankungen einen Einfluss auf das Verhalten sowie auf die kognitiven Fähigkeiten hätten. Zudem habe die Untersuchung des Schlüsselbeines aufgrund der partiellen Fusion der medialen Clavicula ein Alter unter 18 Jahren ergeben. Die Zahnuntersuchung ergebe die Annahme eines Alters von mindestens 18 Jahren. Diese seien nicht überlappend und stellten damit höchstens ein schwaches, wenn nicht fragliches Indiz für die Volljährigkeit dar. Könne selbst nach ärztlicher Untersuchung das Alter nicht sicher festgestellt werde, sei mit Blick auf die Schutzverpflichtung von einer Minderjährigkeit auszugehen und die vorläufige Inobhutnahme durchzuführen. Zudem sei nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Bayern eine exakte Bestimmung des Lebensalters weder auf medizinischem, psychologischem, pädagogischem oder anderem Wege möglich. Alle bekannten Verfahren – auch eine ärztliche Untersuchung – könnten allenfalls Näherungswerte liefern, manche medizinischen Untersuchungsmethoden wiesen zum Teil eine Schwankungsbreite von bis zu fünf Jahren auf. Wenn nach einer ärztlichen Untersuchung weiterhin Zweifel an der Volljährigkeit bestehen, gelte gemäß der Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) und Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes der Grundsatz „im Zweifel pro Minderjährigkeit“.
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Als Anlage war eine psychiatrische Stellungnahme einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie vom … … … beigefügt, wonach sich der Antragsteller vom … … … … … … … in stationärer Behandlung befand. Als Diagnose wurden eine schwere depressive Episode [F32.2] sowie eine posttraumatische Belastungsstörung [F43.1] festgehalten.
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Mit gerichtlichem Schreiben vom 7. Juni 2023 wurde den Parteien mitgeteilt, dass der Eilantrag sachgerecht als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ausgelegt wurde, da die zunächst erfolgte vorläufige Inobhutnahme mit Bescheid vom 2. Mai 2023 beendet wurde.
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Mit Schriftsatz vom 19. Juni 2023 hat die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Unter Berücksichtigung des rechtsmedizinischen Gutachtens sei davon auszugehen, dass der Antragsteller volljährig sei. Das Alterseinschätzungsteam der Antragsgegnerin habe alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Alterseinschätzung ausgeschöpft. Es seien keinerlei Ausweisdokumente vorgelegt worden, die Inaugenscheinnahme habe zunächst zu keinem eindeutigen Ergebnis und die rechtsmedizinische Untersuchung stelle abschließend zusammenfassend zweifelsfrei ein Lebensalter von über 18 Jahren fest.
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Mit Schriftsatz vom 28. Juni 2023 bestellten sich die Bevollmächtigten des Antragstellers.
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Durch Beschluss der Kammer vom 30. August 2023 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 VwGO zu Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten im vorliegenden Verfahren und in dem Verfahren M 18 K … sowie auf den Inhalt der vorgelegten Behördenakte verwiesen.
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Der entsprechend auszulegende Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig und begründet.
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Der gestellte Antrag war gemäß §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der zulässig eingelegten Klage des Antragstellers vom … … … gegen die Beendigung seiner vorläufigen Inobhutnahme mit Bescheid vom 2. Mai 2023 gem. § 80 Abs. 5 VwGO auszulegen.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht in Fällen, in denen gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage oder des Widerspruchs entfällt, diese auf Antrag anordnen oder wiederherstellen.
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Die Antragsgegnerin hat am … … … die vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers beendet. Gemäß § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII haben Widerspruch und Klage gegen die Entscheidung des Jugendamts, aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII abzulehnen oder zu beenden, keine aufschiebende Wirkung, sodass ein Fall nach § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO vorliegt und der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig ist.
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Der zulässige Antrag ist begründet.
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Im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine originäre Ermessensentscheidung, bei der es zwischen dem in der gesetzlichen Regelung – hier § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII – zum Ausdruck kommenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen hat. Bei der zu treffenden Abwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen.
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Ergibt die im Rahmen des Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf in der Hauptsache voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der zugrundeliegende Bescheid bei dieser Prüfung hingegen als rechtswidrig und das Hauptsacheverfahren damit voraussichtlich als erfolgreich, ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung regelmäßig zu verneinen. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens hingegen offen, kommt es zu einer allgemeinen Abwägung der widerstreitenden Interessen.
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Die Abwägung gebietet es hier, dem privaten Aufschubinteresse des Antragstellers gegenüber dem öffentlichen Interesse Vorrang zu gewähren. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist davon auszugehen, dass der angegriffene Bescheid der Antragsgegnerin vom 2. Mai 2023 rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt.
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Das von der Antragsgegnerin für ihre Altersfeststellung zu Grunde gelegte rechtsmedizinische Gutachten genügt nach summarischer Prüfung nicht den Anforderungen. Die darauf beruhende Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme dürfte sich daher als rechtswidrig darstellen.
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Nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird.
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Die Art und Weise der Altersfeststellung bei infrage kommenden ausländischen Personen ist in § 42f SGB VIII normiert. Nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen. In Zweifelsfällen ist auf Antrag des Betroffenen, seines Vertreters oder von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen (§ 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII).
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Aus der Formulierung des § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, wonach die Altersfeststellung „im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme“ durchzuführen ist, ist zu schließen, dass eine vorläufige Inobhutnahme – wie vorliegend auch zurecht am … … … geschehen – auch zu erfolgen hat, wenn das Altersfeststellungsverfahren noch nicht durchgeführt und damit das Alter des jungen Menschen noch nicht sicher festgestellt wurde. Dies bestätigt auch § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, der sich ausdrücklich auf eine Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme „aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift“ bezieht (vgl. Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand: 1.8.2022, § 42f SGB VIII Rn. 28 ff.). Das Ergebnis der Alterseinschätzung ist also nicht Voraussetzung für eine vorläufige Inobhutnahme, vielmehr ist die Alterseinschätzung selbst erst Aufgabe im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 31). Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass – und so sah es offensichtlich auch der Gesetzgeber vor (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 42f SGB VIII: BT-Drs. 18/6392 S. 20) – die ausländische Person erst dann aus der vorläufigen Obhut des Jugendamtes zu entlassen ist, wenn deren Volljährigkeit festgestellt worden ist. Die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme ist daher erst dann gerechtfertigt, wenn die von Gesetzes wegen aufgestellten Vorgaben zur Feststellung des Alters vom jeweiligen Jugendamt korrekt durchlaufen wurden.
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Diers dürfte vorliegend nicht gegeben sein. Zwar hat die Antragsgegnerin zurecht nach der Durchführung einer qualifizierten Inaugenscheinnahme des Antragstellers mit dem Ergebnis eines Zweifelfalls eine medizinische Begutachtung zur Altersfeststellung veranlasst. Das Gutachten dürfte jedoch nicht den Anforderungen entsprechen.
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Nach allgemeinen Grundsätzen müssen Sachverständigengutachten geeignet sein, die für die Überzeugungsbildung notwendige sachliche Grundlage zu vermitteln. Diese Eignung fehlt, wenn das Gutachten grobe, offen erkennbare Mängel oder unlösbare Widersprüche aufweist, etwa, weil es nicht auf dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft beruht, wenn es lückenhaft ist, von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder der Unparteilichkeit des Gutachters gibt (ständige Rspr., zuletzt BVerwG, B.v. 27.3.2013 – 10 B 34.12 – juris Rn 4).
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Die im Gutachten angewandte Methode der Kombination aus körperlicher und zahnärztlicher Untersuchung sowie der radiologischen Untersuchung der linken Handwurzel sowie der Schlüsselbeine zur Feststellung der Minder- bzw. Volljährigkeit ist grundsätzlich geeignet, entspricht dem aktuellen Stand der anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnis (siehe Empfehlungen für Altersschätzungen bei Lebenden im Strafverfahren der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin (AGFAD) vom 14. März 2008 – abrufbar unter: https://www.dgrm.de/fileadmin/PDF/AG_FAD/empfehlungen_ strafverfahren.pdf) und ist sowohl in der deutschen als auch der schweizerischen (worauf der Antragsteller Bezug nimmt, vgl. OVG Bremen, U.v. 4.6.18 – 1 B 82/18 – juris Rn. 26 m.w.N.) Rechtsprechung anerkannt (vgl. VG München, B.v. 24.11.2022 – M 18 E 22.5655 – juris Rn. 22 m.w.N.; OVG Bremen, B.v. 10.5.2019 – 1 B 56/19 – juris Rn. 4 ff.).
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Wendet man das Mindestalterkonzept an, lässt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass eine tatsächlich minderjährige Person versehentlich als volljährig eingeschätzt wird. Die Anwendung des Mindestalterskonzepts stellt sicher, dass das forensische Alter der begutachteten Person keinesfalls zu hoch angegeben wird, sondern praktisch immer unter dem tatsächlichen Alter liegt. Das Mindestalter ergibt sich aus dem Altersminimum der Referenzstudie für die festgestellte Merkmalsausprägung; es ist das Alter der jüngsten Person der Referenzpopulation, die die jeweilige Merkmalsausprägung aufweist. Bei der Untersuchung mehrerer Merkmalssysteme ist das höchste festgestellte Mindestalter maßgeblich (VG München, B.v. 24.11.2022 – M 18 E 22.5655 – juris Rn. 22 m.w.N.; OVG Bremen, U.v. 4.6.18 – 1 B 82/18 – juris Rn. 24 ff.).
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Das vorliegende Gutachten enthält nach summarischer Prüfung Mängel, welche die Aussage, dass der Antragsteller das 18. Lebensjahr vollendet hat, nicht ausreichend wahrscheinlich macht, so dass weiterhin ein Zweifelsfall im Sinne des § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII vorliegt.
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Zwar dürfte das zahnärztliche Gutachten, welches auf Grund des Wurzelwachstums sowie der Eruption der Weisheitszähne unter Benennung der Referenzstudien ein Alter von mindestens 18 Jahren und ein Lebensalter von 21 Jahren als wahrscheinlich benennt, noch ausreichend sein, wenn auch die mit der Anwendung der Referenzstudien auf die zu untersuchende Person verbundenen altersrelevanten Variationsmöglichkeiten, wie abweichende genetischgeographische Herkunft, unterschiedlicher sozioökonomischer Status und damit möglicherweise anderer Akzelerationsstand und entwicklungsbeeinflussende Erkrankungen des Betroffenen mit ihren Auswirkungen auf die Altersdiagnose nicht diskutiert und bezüglich ihrer quantitativen Konsequenzen eingeschätzt werden (so aber: Empfehlung der AGFAD, a.a.O.).
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Das Gutachten zu der radiologischen Untersuchung erscheint jedoch wenig aussagekräftig, insbesondere fehlen hinreichende Angaben zu den angewandten Referenzstudien sowie die Angaben des sich daraus sowohl für die Handwurzel- als auch die Schlüsselbeinuntersuchung ergebende jeweiligen Mindestalters und der Streubreiten (vgl. Empfehlungen der AGFAD – a.a.O.). Das radiologische Gutachten führt lediglich aus, dass die mediale Clavicula links einen erkennbaren Ossifikationskern, rechts einen erahnbaren Kern habe und somit „Schmeling frühes Stadium 2b der Ausfreifung“ gegeben sei. Aufgrund der partiellen Fusion der medialen Clavicula liege das Alter unter 18 Jahren. Weder wird eine sich daraus ergebende Alterspanne, noch ein Mindestalter genannt. Vielmehr ist die Aussage „Alter unter 18 Jahren“ unklar. Nach dem üblichen Sprachgebrauch dürfte damit wohl zum Ausdruck gebracht worden sein, dass der Antragsteller auf Grund des Untersuchungsergebnisses zwingend unter 18 Jahren sein müsse. Hierfür dürfte auch die Angabe des “Stadiums 2b“ sprechen, welches – zumindest soweit dem Gericht aus anderen Verfahren bekannt – deutlich gegen eine Volljährigkeit spricht.
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Auf der Grundlage der einzelnen Gutachten ist eine zusammenfassende Beurteilung durch den koordinierenden Gutachter zu treffen. Das wahrscheinlichste Alter des Betroffenen wird auf der Grundlage der zusammengefassten Einzeldiagnosen und der kritischen Diskussion des konkreten Falls ermittelt (VG München, B.v. 4.2.2021 – M 18 S 21.170 – juris Rn. 41 ff..; Empfehlung der AGFAD, a.a.O.). Die mit der Anwendung der Referenzstudien auf die zu untersuchende Person verbundenen altersrelevanten Variationen wie abweichende ethnische Zugehörigkeit, abweichender sozioökonomischer Status und damit möglicherweise andere Akzelerationsstand oder entwicklungsbeeinflussende Erkrankungen des betroffenen Menschen sind im zusammenfassenden Gutachten mit ihren Auswirkungen auf die Altersdiagnose kritisch zu diskutieren und bezüglich ihrer Konsequenzen für die gutachterliche Beurteilung einzuschätzen (Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik – Methoden, Aussagesicherheit, Rechtsfragen, Deutsches Ärzteblatt 2016, 113 – im Internet abrufbar unter: Forensische Altersdiagnostik (aerzteblatt.de)).
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Diese Gesamtwürdigung erfolgte vorliegend nach summarischer Prüfung nicht in ausreichendem Umfang. Im Gutachten wird insoweit lediglich ausgeführt, dass in der Zusammenschau der Befunde zu konstatieren sei, dass die Zahnentwicklung aufgrund der eindeutigen Befundlage als ausschlaggebendes Kriterium überwiege und somit ein Mindestalter von 18 Jahren angenommen werden müsse.
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Insoweit erscheint bereits irritierend, dass davon ausgegangen wird, dass das zahnärztliche Gutachten zu einer „eindeutigen“ Befundlage komme. Denn insbesondere in Bezug auf die zahnärztlichen Befundergebnisse muss der Einfluss der Ethnie Berücksichtigung finden (Schmeling, Habilitationsschrift „Forensische Altersdiagnostik bei lebenden im Strafverfahren“, im Internet abrufbar unter: Forensische Altersdiagnostik bei Lebenden im Strafverfahren (d-nb.info)), was vorliegend offenbar weder im Rahmen der zahnmedizinischen Beurteilung selbst, noch in der Gesamtwürdigung erfolgte.
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Zudem müssen divergierende Altersschätzungen diskutiert werden und ggf. weitere diagnostische Abklärungen erfolgen (Schmeling et al., a.a.O). Nachdem vorliegend davon auszugehen sein dürfte, dass die Schlüsselbeinuntersuchung zu dem Ergebnis der deutlichen Minderjährigkeit gelangt ist, divergieren die Altersschätzungen der Einzelbegutachtungen und belassen keinen deckungsgleichen Raum, so dass für diesen Fall wohl eine weitere diagnostische Abklärung erforderlich wäre. Es erscheint hingegen nicht nachvollziehbar, dass das Gutachten vorliegend dem zahnmedizinischen Befund die ausschlaggebende Bedeutung zukommen lässt. Zwar kommt der zahnmedizinischen Untersuchung eine besondere Bedeutung beim der Altersfeststellung zu (vgl. OVG Bremen – U.v. 4.6.18 – 1 B 82/18 – juris). Dies gilt jedoch auch für die Schlüsselbeinossifikation (vgl. Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik III – neue Forschungsergebnisse und aktuelle Debatten, Rechtsmedizin 2014, 457 f. a.E.; so auch das von dem Antragsteller zitierte Urteil des schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts vom 13.10.2020 (A-1455/2020 Punkt 6.1 – abrufbar unter: https://entscheidsuche.ch/docs/CH_BVGer/CH_BVGE_001_A-1455-2020_2020-10-13.pdf).
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Dementsprechend dürfte, da das „Mindestalter bei der schlüsselbeinrespektiven Skelettaltersanalyse oder der zahnärztlichen Untersuchung unter 18 Jahren liegt und die sich anhand der beiden Analysen ergebenden Altersspannen nicht überlappen“, nur „ein sehr schwaches oder gar fragliches Indiz für Volljährigkeit gegeben sein“, sofern es hierfür keine plausible medizinische Erklärung gibt (so: Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht, a.a.O., Ziffer 6.1).
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Dies reicht jedoch für die Annahme der Volljährigkeit des Antragstellers nicht aus, so dass sich die Beendigung der Inobhutnahme nach summarischer Prüfung als rechtswidrig erweist und dem Antrag stattzugeben war.
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.