Titel:
Einstweilige Anordnung (Stattgabe), Anspruch auf Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege, Kapazitätserschöpfung
Normenketten:
VwGO § 123
SGB VIII § 24 Abs. 2
Schlagworte:
Einstweilige Anordnung (Stattgabe), Anspruch auf Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege, Kapazitätserschöpfung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 25357
Tenor
I. Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses vorläufig einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege mit einem Betreuungsumfang von mindestens acht Stunden montags bis freitags nachzuweisen.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Gründe
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Die am ... geborene Antragstellerin begehrt den Nachweis eines Betreuungsplatzes.
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Die Eltern der Antragstellerin meldeten den Bedarf für einen Betreuungsplatz ab 1. September 2023 jeweils werktags von 7:30 Uhr bis 16:00 Uhr bzw. freitags bis 14.00 Uhr am 1. März 2023 bei ihrer Wohnortgemeinde. Mit E-Mail vom 30. Mai 2023 teilte die Wohnortgemeinde mit, dass kein Betreuungslatz angeboten werden könne. Die Mutter der Antragstellerin wandte sich daraufhin am selben Tag per E-Mail an den Antragsgegner, welcher ebenfalls am 30. Mai 2023 antwortete, dass man keinen Einblick in die Betreuungsplatzvergabe vor Ort habe. Die Kindseltern sollten sich abermals an die Wohnortgemeinde melden bzw. sich für eine generelle Beratung bezüglich Kindertagespflegeeinrichtungen telefonisch melden.
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Der Bevollmächtigte der Antragstellerin erhob für diese am 25. August 2023 Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragte die Verpflichtung des Antragsgegners, der Klägerin eine dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz nachzuweisen (M 18 K …*).
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Zudem wurde mit Schriftsatz vom selben Tag beantragt,
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den Antragsgegner zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder Kindertagespflege im Umfang von täglich mindestens 8 Stunden montags bis freitags zum 1. September 2023 nachzuweisen.
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Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass die Eltern berufstätig seien und die Kindsmutter beabsichtige, ab dem beantragten Betreuungsbeginn weiterhin in Vollzeit zu arbeiten. Auch der Kindsvater arbeite in Vollzeit.
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Der Antragsgegner beantragte mit Schriftsatz vom 31. August 2023,
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Rechtmäßigkeit der Angaben der Antragstellerseite angenommen werde, weitere Akten lägen nicht vor. Der gesetzliche Anspruch bestehe zwar faktisch, der Landkreis habe jedoch keine Kapazitäten, um diesem gerecht zu werden. Dies zum einen aufgrund Betreuungsplatzmangels, zum anderen aber auch deswegen, weil selbst bei Schaffung entsprechender Plätze keinerlei Fachpersonal vorhanden sei.
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Durch Beschluss der Kammer vom 6. September 2023 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 VwGO zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakte auch im Verfahren M 18 K … verwiesen.
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Der Antrag hat Erfolg.
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Einstweilige Anordnungen sind nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
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Für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds ist grundsätzlich Voraussetzung, dass es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
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Grundsätzlich dient die einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Mit der vom Antragsteller begehrten Entscheidung wird die Hauptsache aber in zeitlicher Hinsicht vorweggenommen. In einem solchen Fall sind an die Prüfung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch qualifizierte Anforderungen zu stellen, d.h. der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache jedenfalls dem Grunde nach spricht und der Antragsteller ohne die einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt wäre (vgl. BayVGH, B.v. 18.3.2016 – 12 CE 16.66 – juris Rn. 4).
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Nach diesen Maßgaben hat die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
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Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Nachweis eines bedarfsgerechten Platzes in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege gegen den Antragsgegner im Umfang von werktäglich 8 Stunden ausreichend glaubhaft gemacht.
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Gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII hat ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Voraussetzung der Zuweisung eines Betreuungsplatzes ist gemäß § 24 Abs. 5 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG, dass die Erziehungsberechtigten die Gemeinde und bei einer gewünschten Betreuung durch eine Tagespflegeperson den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe mindestens drei Monate vor der geplanten Inanspruchnahme in Kenntnis setzen.
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Diese Anspruchsvoraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
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Die Antragstellerin hatte bereits am … … … das 1. Lebensjahr vollendet und damit einen Anspruch auf einen Betreuungsplatz entsprechend des individuellen Bedarfs.
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Die Bedarfsmeldung zum 1. September 2023 erfolgte erstmals am … … … gegenüber einer kommunalen zuständigen Stelle. Gemäß dem von Antragstellerseite vorgelegten Ausdruck dieser elektronischen Meldung ist insoweit sowohl davon auszugehen, dass damit nicht lediglich eine einrichtungsbezogene Anmeldung für eine oder mehrerer bestimmte Einrichtungen erfolgte, sondern der Anspruch auf Nachweis eines geeigneten Betreuungsplatzes gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII geltend gemacht wurde (vgl. hierzu: BayVGH, U.v. 20.7.2016 – 12 BV 15.719 – juris Rn. 25; VG München, B.v. 30.6.2023 – M 18 E 23.1161 – juris Rn. 6 m.w.N.). Zudem ist diese Bedarfsmeldung gegenüber der Wohnortgemeinde auch dem Antragsgegner zuzurechnen, denn die Gemeinde war für den Fall der Nichterfüllung durch die Gemeinde zur Weiterleitung an den Antragsgegner gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I verpflichtet (VG München, B.v. 30.6.2023 – M 18 E 23.1161 – juris Rn. 6 m.w.N.). Schließlich erfolgte eine unmittelbare Kontaktaufnahme mit dem Antragsgegner am 30. Mai 2023 und damit ebenfalls rechtzeitig unter Berücksichtigung der Frist gemäß § 24 Abs. 5 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG. Im Übrigen räumt der Antragsgegner in seiner Antragserwiderung vom 31. August 2023 sowohl den Sachverhalt als auch das Bestehen des Anspruchs der Antragstellerin ein und kann eine Überprüfung des Gerichts mangels jedweder Aktenführung durch den Antragsgegner auch nicht erfolgen.
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Der Anspruch der Antragstellerin wäre daher entsprechend dem Antrag am 1. September 2023 durch den Antragsgegner zu erfüllen gewesen. Hingegen kann vorliegend – trotz Argumentation des Bevollmächtigten insoweit – offenbleiben, ab welchem Zeitpunkt ein Anspruch darauf besteht, bereits vorab über den Nachweis eines Betreuungsplatzes zum begehrten Termin informiert zu werden (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 28.5.2019 – OVG 6 S 25.19 – juris Rn. 4; VG München, B.v. 6.8.2019 – M 18 E 19.3248 – juris Rn. 23), denn bereits bei Antragstellung bei Gericht umfasste dieser Zeitraum lediglich noch vier Werktage.
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Zudem besteht der – vorliegend geltend gemachte – Anspruch nach § 24 Abs. 2 SGB VIII auch im Umfang der geltend gemachten acht Stunden werktäglich. Inwieweit hingegen unter Berücksichtigung des Kindeswohls auch ein zeitlich darüber hinausgehender Betreuungsanspruch besteht (vgl. VG München, B.v. 25.1.2023 – M 18 E 22.5844 – juris Rn. 33 ff., 40 m.w.N.), wie der Bevollmächtigte der Antragstellerin ausführt, kann mangels Entscheidungserheblichkeit ebenfalls offenbleiben.
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Dem Anspruch der Antragstellerin aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII kann auch nicht entgegengehalten werden, dass der Antragsgegner der Antragstellerin nach seinen Angaben mangels entsprechender Kapazitäten keinen Betreuungsplatz zur Verfügung stellen kann. Denn der Anspruch steht nicht unter einem Kapazitätsvorbehalt und wird daher durch die vom Antragsgegner behauptete Kapazitätserschöpfung nicht berührt. Der Anspruch auf Förderung in einer Einrichtung oder in Kindertagespflege besteht nämlich nicht nur im Rahmen vorhandener Kapazitäten, sondern verpflichtet den Jugendhilfeträger dazu, eine ausreichende Zahl von Betreuungsplätzen selbst zu schaffen oder durch geeignete Dritte bereitzustellen. Es handelt sich insoweit um eine unbedingte Bereitstellungs- bzw. Gewährleistungspflicht, der der Jugendhilfeträger nicht mit dem Einwand der Unmöglichkeit begegnen kann, weil der Anspruch nicht auf den vorhandenen Vorrat an Plätzen begrenzt, sondern – sofern diese Plätze nicht ausreichend sind – auf die Schaffung neuer Plätze, also auf die Erweiterung der vorhandenen Kapazitäten gerichtet ist, bis ein dem Bedarf in qualitativer und quantitativer Hinsicht gerecht werdendes Angebot besteht. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist gemäß § 79 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII verpflichtet zu gewährleisten, dass ein dem Bedarf in qualitativer und quantitativer Hinsicht gerecht werdendes Angebot an Fördermöglichkeiten in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege vorgehalten wird. Ihm obliegt es im Rahmen seiner aus § 79 Abs. 1 und § 80 SGB VIII folgenden Planungsverantwortung, eine plurale Betreuungsinfrastruktur sicherzustellen und gegebenenfalls auch die vorhandenen Kapazitäten so zu erweitern, dass sämtlichen anspruchsberechtigten Kindern ein ihrem Bedarf entsprechender Betreuungsplatz nachgewiesen werden kann (BVerwG, U.v. 26.10.2017 – 5 C 19/16 – juris Rn. 35; BVerfG, U.v. 21.11.2017 – 2 BvR 2177/16 – juris Rn. 134). Ein Kapazitätsvorbehalt würde dagegen den vom Gesetzgeber ausdrücklich als zwingenden Rechtsanspruch ausgestalteten § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII leerlaufen lassen, da die Jugendhilfeträger sich dann durch den bloßen Hinweis auf ausgeschöpfte Kapazitäten ihrer gesetzlichen Verpflichtung entziehen könnten. Fachkräftemangel, räumliche Probleme oder andere Schwierigkeiten entbinden den Jugendhilfeträger daher nicht von dieser unbedingten gesetzlichen Verpflichtung (stRspr; vgl. zuletzt: VG Münster, B.v. 7.6.2023 – 6 L 409/23 – juris Rn. 23 mit umfangreichen weiteren Nachweisen).
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Es liegt auch kein Fall der objektiven Unmöglichkeit vor, der die Verpflichtung aus § 24 Abs. 2 SGB VIII entfallen ließe (vgl. VG München, B.v. 24.8.2022 – M 18 E 22.3914 – juris Rn. 30 m.w.N.).
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Die Antragstellerin hat zudem auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
27
Unabhängig von der Frage, ob bereits in der irreversiblen Nichterfüllung eines unaufschiebbaren Anspruchs ein Anordnungsgrund zu sehen ist oder darüber hinaus im Rahmen der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ein Nachweis der fehlenden Betreuungsmöglichkeit zu erfolgen hat (vgl. zum Streitstand: VG München, B.v.25.1.2023 – M 18 E 22.5844 – juris Rn. 34 m.w.N.), haben die Eltern der Antragstellerin noch – wenn auch ohne jede Vorlage von belegenden Dokumenten – hinreichend glaubhaft gemacht, auf einen Betreuungsplatz im Umfang von werktäglich acht Stunden angewiesen zu sein. Ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache ist nicht zuzumuten. Zur Vermeidung weiterer Nachteile für die Antragstellerin und ihrer Eltern ist eine Vorwegnahme der Hauptsache daher angezeigt.
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Dem Antragsgegner ist zur Erfüllung des Anspruchs eine Frist bis zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses einzuräumen (vgl. VG München, B.v. 25.1.2023 – M 18 E 22.5844 – juris Rn. 44 m.w.N.).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
30
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.