Inhalt

VG München, Beschluss v. 14.09.2023 – M 18 E 23.3992
Titel:

Vorläufige Inobhutnahme als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling

Normenketten:
VwGO § 123
SGB VIII § 41, § 42a, § 42f
Leitsätze:
1. Gibt ein Asylantragsteller an, minderjährig zu sein, ist er regelmäßig zunächst vorläufig in Obhut zu nehmen, im Folgenden die Altersfeststellung durchzuführen und die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme erst dann gerechtfertigt, wenn die von Gesetzes wegen aufgestellten Vorgaben zur Feststellung des Alters vom jeweiligen Jugendamt korrekt durchlaufen wurden. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter eines Jugendamts kann gemäß § 42f Abs. 1 S. 1 Alt. 2 SGB VIII lediglich dann als zur Altersfeststellung geeignet angesehen werden, wenn es darum geht, für jedermann ohne Weiteres erkennbare (offensichtliche), gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle evidenter Minderjährigkeit festzustellen oder eindeutiger Volljährigkeit auszuscheiden (vorliegend bei Verhaltensauffälligkeiten verneint). (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einstweilige Anordnung, Vorläufige Inobhutnahme, Altersfeststellungsverfahren, Zweifelsfall, Verhaltensauffälligkeiten, Prozesskostenhilfe, einstweilige Anordnung, vorläufige Inobhutnahme, unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, Minderjährigkeit, Verhaltensauffälligkeit
Fundstelle:
BeckRS 2023, 25356

Tenor

I. Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragsteller einstweilen vorläufig bis zur Feststellung der Volljährigkeit des Antragstellers durch ein medizinisches Gutachten zur Altersbestimmung in Obhut zu nehmen.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller begehrt im Wege einer einstweiligen Anordnung einstweilen vorläufig von dem Antragsgegner in Obhut genommen zu werden.
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Der Antragsteller ist eigenen Angaben zufolge Staatsangehöriger der Republik Sierra Leone und ist (wohl) seit 29. Januar 2023 in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber untergebracht. Er beantragte am 14. April 2023 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seine Anerkennung als Asylberechtigter. In der Niederschrift zum Asylantrag wird als Geburtsdatum der ... 2004, unter „...“ das Geburtsdatum ... 2007 genannt.
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Mit E-Mail vom 7. Juni 2023 teilte eine Mitarbeiterin der Flüchtlings- und Integrationsberatung dem Antragsgegner mit, dass u.a. der Antragsteller in der Beratung vorstellig geworden sei und angebe, minderjährig und am ... 2007 geboren zu sein. Auf Nachfrage des Antragsgegners wurde mit weiterer E-Mail vom 12. Juni 2023 mitgeteilt, dass es sich nach Einschätzung der Mitarbeiterin um einen Minderjährigen handle, der unsichere, schüchterne und auffällige Verhaltensweisen zeige und daher dringend um Alterseinschätzung und vorläufige Inobhutnahme gebeten werde.
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Am 4. Juli 2023 führte der Antragsgegner ein Alterseinschätzungsgespräch durch. Gemäß dem in der Behördenakte befindlichen Formular gab der Antragsteller hierbei an, 17 Jahre zu sein, jedoch sein Geburtsdatum mit dem ... 2007 benannt zu haben. Zudem wird in dem Formular an einer Stelle ausgeführt, dass der Antragsteller keine Dokumente aus der Heimat vorlegen habe können, während an anderer Stelle eine handschriftliche Geburtsurkunde erwähnt wird.
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Mit Bescheid vom 31. Juli 2023 lehnte der Antragsgegner die vorläufige Inobhutnahme ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die handschriftlich ausgefüllte Kopie einer Geburtsurkunde kein Geburtsjahr enthalte. Laut Ergebnis der Altersfeststellung sei der Antragsteller 18 Jahre alt, bzw. inzwischen 19 Jahre und volljährig. Als Geburtsdatum werde der 26. Juli 2004 festgelegt. Die Überzeugung von der Volljährigkeit stützt sich im Wesentlichen auf folgende Gründe: „Äußeres Erscheinungsbild: eher erwachsen, Stimmlage, körperlich ausgewachsen und auch leicht muskulös mit Körperbehaarung, allerdings wenig Falten, Haare, Bartwuchs, Gesichtszüge, Hände, Körperbau. Verhalten/Sonstiges: Entsprechend einer volljährigen Person“. Er habe auf alle Fragen adäquat antworten können und zu keiner Zeit minderjährig gewirkt. Sein Verhalten sei im Gespräch mehr als auffällig, allerdings nicht glaubhaft gewesen. Augenscheinlich liege keine geistige Behinderung vor, welche das extreme kindliche Verhalten hätte erklären können.
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Ein Zustellungsvermerk hinsichtlich des Bescheids findet sich in der Behördenakte nicht.
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Die Bevollmächtigten des Antragstellers erhoben am 10. August 2023 beim Verwaltungsgericht München Klage gegen den Bescheid vom 31. Juli 2023 und beantragten, den Antragsteller vorläufig in Obhut zu nehmen (M 18 K 23.3991). Zudem beantragten sie,
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den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller bis zur endgültigen Klärung seines Alters im Rahmen des anhängigen Hauptsacheverfahrens in Obhut zu nehmen und in einer jugendgerechten Einrichtung unterzubringen sowie
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dem Antragsteller unter Beiordnung des Unterzeichners Prozess- bzw. Verfahrenskostenhilfe zu gewähren.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Bezugnahme auf ein Identitätspapier im Bescheid fehlerhaft sei, da keines vorliege. Die vorgenommene Alterseinschätzung habe nicht den Vorgaben der Rechtsprechung entsprochen habe. Eine medizinische Untersuchung habe nicht stattgefunden. Aus dem Bescheid ergebe sich auf Grund der Formulierung auch nicht, ob die aufgeführten Merkmale für die Minderjährigkeit oder Volljährigkeit sprächen. Auch das Verhalten des Antragstellers spräche für seine Minderjährigkeit. Der Antragsteller zeige sowohl im Gespräch zur qualifizierten Inaugenscheinnahme als auch in anderen (Beratungs-)Situationen in der Unterkunft kindliches Verhalten. Es könne daher nicht von einer bewussten Verhaltenssteuerung mit Täuschungswillen während der qualifizierten Inaugenscheinnahme ausgegangen werden. Als Anlage war eine Stellungnahme der Mitarbeiterin der Flüchtlings- und Integrationsberatung vom 9. August 2023 beigefügt, nach deren Einschätzung das von dem Antragsteller angegebenen Alter glaubhaft erscheine und welche u.a. weitere Ausführungen zu seinem Verhalten in der Einrichtung enthielt.
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Ebenfalls mit Schreiben vom 10. August 2023 beantragten die Bevollmächtigten für den Antragsteller beim Antragsgegner eine ärztliche Altersbestimmung.
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Mit Schriftsatz vom 17. August 2023 legte der Antragsgegner die Behördenakte vor und beantragte,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass die im Ablehnungsbescheid erwähnte handschriftliche Geburtsurkunde nicht vom Antragsteller stamme und diesem vom Antragsgegner versehentlich zugeordnet worden sei. Die Annahme des Antragstellers, dass bereits dann ein Zweifelsfall vorhanden ist, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis der Minderjährigkeit kommen würde, sei nicht vertretbar. Denn nach dieser Ansicht seien kaum Anwendungsfälle denkbar, in welchen ein Zweifelsfall verneint werden könne. Die Regelung in § 42f Abs. 1 S.1 Alt. 2 SGB VIII zur qualifizierten Inaugenscheinnahme wäre damit ihres Anwendungsbereichs beraubt. Nach vorzugswürdiger Auffassung liege ein Zweifelsfall daher erst dann vor, wenn die zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel nicht für eine sichere Überzeugungsbildung hinsichtlich des Alters ausreichen würden. Dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall gewesen. Sowohl in der Niederschrift zur Befragung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge als auch in der Aufenthaltsgestattung sei das Geburtsdatum des Antragstellers mit dem 26. Juli 2004 angegeben. Der Antragsteller habe in diesen Dokumenten die Festsetzung seines Alters nicht angezweifelt. Die Gründe für die Volljährigkeit seien im Wesentlichen auf das äußere Erscheinungsbild, der adäquat beantworteten Fragen und dem nicht glaubhaften Verhalten eines Grundschulkindes, wie in der Dokumentation der Inaugenscheinnahme festgehalten, aufgeführt.
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Durch Beschluss der Kammer vom 14. September 2023 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 VwGO zu Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten auch im Verfahren M 18 K 23.3991 sowie der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
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Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat auch in der Sache Erfolg.
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Nachdem der Antragsgegner mit Bescheid vom 31. Juli 2023 die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII abgelehnt hat und nicht eine zuvor erfolgte vorläufige Inobhutnahme beendete, kann der Antragsteller einen einstweiligen Rechtsschutz in der vorliegenden Verfahrenssituation ausschließlich über einen Antrag nach § 123 VwGO erreichen (vgl. hierzu allgemein: VG München, B.v. 22.10.2020 – M 18 E 20.4933 – juris Rn. 25 f.).
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO. Für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds ist grundsätzlich Voraussetzung, dass es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2011 – 12 CE 11.2215 – juris Rn. 6).
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Nach diesen Maßgaben hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
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Ein Anordnungsanspruch liegt vor.
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Nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird.
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Die Art und Weise der Altersfeststellung bei infrage kommenden ausländischen Personen ist in § 42f SGB VIII normiert. Nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen. In Zweifelsfällen ist auf Antrag des Betroffenen, seines Vertreters oder von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen (§ 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII).
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Bereits das Vorgehen des Antragsgegners, den Antragsteller nach seiner Meldung als Minderjähriger durch eine Mitarbeiterin der Flüchtlings- und Integrationsberatung zunächst über einen Monat bis zur Durchführung des Altersfeststellungsgesprächs nicht vorläufig in Obhut zu nehmen erscheint fehlerhaft. Denn aus der Formulierung des § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, wonach die Altersfeststellung „im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme“ durchzuführen ist, ist zu schließen, dass eine vorläufige Inobhutnahme auch zu erfolgen hat, wenn das Altersfeststellungsverfahren noch nicht durchgeführt und damit das Alter des jungen Menschen noch nicht sicher festgestellt wurde. Dies bestätigt auch § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, der sich ausdrücklich auf eine Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme „aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift“ bezieht (vgl. Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand: 1.8.2022, § 42f SGB VIII Rn. 28 ff.). Das Ergebnis der Alterseinschätzung ist also nicht Voraussetzung für eine vorläufige Inobhutnahme, vielmehr ist die Alterseinschätzung selbst erst Aufgabe im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 31). Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass – und so sah es offensichtlich auch der Gesetzgeber vor (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 42f SGB VIII: BT-Drs. 18/6392 S. 20) – die ausländische Person erst dann aus der vorläufigen Obhut des Jugendamtes zu entlassen ist, wenn deren Volljährigkeit festgestellt worden ist. Der Antragsteller ist daher regelmäßig zunächst vorläufig in Obhut zu nehmen, im Folgenden die Altersfeststellung durchzuführen und die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme erst dann gerechtfertigt, wenn die von Gesetzes wegen aufgestellten Vorgaben zur Feststellung des Alters vom jeweiligen Jugendamt korrekt durchlaufen wurden.
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Auch dieses von § 42f Abs. 1 und 2 SGB VIII vorgesehene Verfahren zur Altersfeststellung wurde von dem Antragsgegner vorliegend nicht ordnungsgemäß durchgeführt. Denn der Antragsgegner hat verkannt, dass ein sog. Zweifelsfall i.S.d. § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII vorlag, der das Jugendamt – zunächst zur vorläufigen Inobhutnahme und im Folgenden – zur Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung zur Altersfeststellung verpflichtet hätte.
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Da (aussagekräftige) Ausweispapiere oder sonstige die Feststellung des Alters des Antragstellers ermöglichende Dokumente nicht vorgelegt wurden und auch dessen Selbstauskunft keinen zweifelsfreien Beleg für die behauptete Minderjährigkeit bot, hat der Antragsgegner zurecht zunächst eine qualifizierte Inaugenscheinnahme des Antragstellers durchgeführt. Auch der Antragsgegner hat in seiner Antragserwiderung eingeräumt, dass die sowohl in dem Formular über das Altersfeststellungsgespräch als auch im Bescheid erwähnte Geburtsurkunde fehlerhaft dem Antragsteller zugeordnet wurde.
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Ob ein Zweifelsfall vorliegt, unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum umfassender verwaltungsgerichtlicher Kontrolle; eine Einschätzungsprärogative des Jugendamts besteht nicht (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 34).
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Entgegen der Argumentation des Antragsgegners in seiner Antragserwiderung kann – aus Gründen des Minderjährigenschutzes nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (grundlegend: BayVGH, B.v. 13.12.2016 – 12 CE 16.2333 – juris), der sich auch die Kammer seit langem angeschlossen hat, eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter eines Jugendamts gemäß § 42f Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB VIII lediglich dann als zur Altersfeststellung geeignet angesehen werden, wenn es darum geht, für jedermann ohne Weiteres erkennbare (offensichtliche), gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle evidenter Minderjährigkeit festzustellen oder eindeutiger Volljährigkeit auszuscheiden. In allen anderen Fällen ist hingegen – ausgehend von der Tatsache, dass eine exakte Bestimmung des Lebensalters weder auf medizinischem, psychologischem, pädagogischem oder anderem Wege möglich ist, alle bekannten Verfahren (auch eine ärztliche Untersuchung) allenfalls Näherungswerte liefern können, manche medizinischen Untersuchungsmethoden zum Teil eine Schwankungsbreite von bis zu fünf Jahren aufweisen und allgemein von einem Graubereich von ca. ein bis zwei Jahren (über der gesetzlichen Altersgrenze von 18 Jahren) auszugehen ist – regelmäßig vom Vorliegen eines Zweifelsfalls auszugehen, der entweder auf Antrag des Betroffenen bzw. seines gesetzlichen Vertreters oder aber von Amts wegen durch das Jugendamt zur Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zwingt (vgl. BayVGH, B.v. 16.12.2021 – 12 CE 21.3033 – n.v.; B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 38; B.v. 16.8.2016 – 12 CS 16. 1550 – juris Rn. 23; B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – juris, Rn. 19; B.v. 13.12.2016 – 12 CE 16.2333 – juris, Rn. 31; hierauf Bezug nehmend: OVG NW, B.v. 5.5.2021 – 12 B 477/21 – juris Rn. 49 ff; Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand: 1.8.2022, § 42f SGB VIII Rn. 28 ff). Die von dem Antragsgegner insoweit in Bezug genommen Literatur (LPK-SGB VIII/Jan Kepert/Andreas Dexheimer, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 42f Rn. 5) überzeugt hingegen nicht. Denn selbst ohne Bezugnahme auf die von dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zur Argumentation herangezogenen Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 S. 2 der RL 2013/32/EU (a.a.O., Rn. 40) gilt der Grundsatz „im Zweifel für die Minderjährigkeit“ im Jugendhilferecht (vgl. OVG Bremen, B.v. 22.6.21 – 2 B 166/21 Rn. 30 a.E.; OVG NW, B.v. 5.5.2021 – 12 B 477/21 – juris Rn. 54), so dass zu Gunsten der Antragsteller ein Zweifelsfall immer dann anzunehmen ist, sofern die Minderjährigkeit nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann.
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Vorliegend belegen bereits die von dem Antragsgegner selbst gemachten Ausführungen einen Zweifelsfall und gerade keine eindeutige Volljährigkeit.
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Soweit sich der Antragsgegner auf das äußere Erscheinungsbild des Antragstellers zum Nachweis der Volljährigkeit beruft, ist darauf hinzuweisen, dass das (i.ü. weder datierten noch unterschriebene) Protokoll zur Alterseinschätzung hinsichtlich der Beurteilung der äußerlichen Merkmale des Antragstellers lediglich die Aussage enthält, dass er „eher erwachsen“ sei. Zudem ist den Bevollmächtigten des Antragstellers zuzustimmen, dass die Formulierungen im Bescheid vom 31. Juli 2023 ebenfalls zumindest unklar sind. Unabhängig hiervon ist jedoch allgemein bekannt, dass selbst eine körperliche Untersuchung im Rahmen einer Alterseinschätzung nur hinweisgebend sein kann und dementsprechend im Rahmen einer medizinischen Alterseinschätzung dieser keine besondere Aussagekraft zukommt. Keinesfalls kann daher den lediglich äußeren Merkmalen (bis auf Extremfälle) eine Eindeutigkeit entnommen werden, wozu sich offenbar vorliegend auch der Antragsgegner nicht in der Lage sah.
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Auch die Ausführungen des Antragsgegners zu dem Verhalten des Antragstellers erscheinen bereits in sich widersprüchlich. Denn erkennbar zeigte der Antragsteller ein äußerst auffälliges, kindliche Verhalten, was ebenso bereits im Vorfeld von der Mitarbeiterin der Flüchtlings- und Integrationsberatung gegenüber dem Antragsgegner per E-Mail und nunmehr nochmals in der Stellungnahme vom 9. August 2023 beschrieben wurde. Nachdem der Antragsgegner jedoch (auf welchen Fachkenntnissen bzw. Kriterien auch immer beruhend) zu dem Ergebnis gelangt, dass „augenscheinlich keine geistige Behinderung“ vorliege, die das „extrem kindliches Verhalten erklären“ könne, wird im Folgenden ausgeführt, dass er „zu keiner Zeit minderjährig“ gewirkt habe und sein Verhalten „nicht glaubhaft“ sei. Eine hinreichende Auseinandersetzung mit dem – offenkundig durchgängig und seit längerem gezeigtem auffälligem Verhalten des Antragstellers – was eine Unglaubwürdigkeit im Sinne einer Vortäuschung extrem unwahrscheinlich macht – erfolgt hingegen in keiner Weise.
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Bereits auf Grund der Feststellungen des Antragsgegners ist daher nicht davon auszugehen, dass der Antragsteller für jedermann ohne weiteres erkennbar, offensichtlich und ohne jeden vernünftigen Zweifel volljährig ist. Der Antragsgegner hätte daher eine ärztliche Untersuchung zur Altersfeststellung veranlassen müssen. Das Gericht geht insoweit – insbesondere auch wegen des mit Schreiben der Bevollmächtigten des Antragstellers vom 10. August 2023 gestellten Antrags gegenüber dem Antragsgegner auf Veranlassung einer medizinischen Alterseinschätzung – davon aus, dass der Antragsteller zu einer solchen Untersuchung sein Einverständnis erklärt.
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Auch ein Anordnungsgrund liegt vor.
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Der Antragsteller kann nicht darauf verwiesen werden, bis zur ordnungsgemäß durchgeführten Alterseinschätzung einstweilen in einer Asylbewerberunterkunft für Erwachsene zu verbleiben, da eine Unterbringung dort mit einer solchen in einer Jugendhilfeeinrichtung oder einer Pflegefamilie nicht annähernd gleichwertig ist und den Antragsteller erheblichen Gefahren aussetzen könnte (vgl. BayVGH, B. v. 23.9.2014 – 12 CE 14. 1833 – juris Rn. 27; VG München, B.v. 20.2.2020 – M 18 E 19.5771 – n.v. Rn. 33). Vorliegend erscheint vielmehr eine weitergehende Abklärung hinsichtlich der Verhaltensauffälligkeiten des Antragstellers – selbst wenn es sich um einen jungen Volljährigen handeln sollte – durch den Antragsgegner ggf. nach § 41 SGB VIII zwingend erforderlich.
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Der Antragsgegner ist nach alledem vorliegend verpflichtet, den Antragsteller vorläufig in Obhut zu nehmen und zunächst ein ordnungsgemäßes Alterseinschätzungsverfahren nach oben aufgezeigten Maßstäben durchzuführen.
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.
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Nachdem dem Antrag des Antragstellers entsprochen wurde und der Antragsgegner die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe, sodass über diesen nicht mehr zu entscheiden war (BVerfG, B.v. 24.7.2019 – 2 BvR 686/19 – juris Rn. 48; B.v.17.1.2017 – 2 BvR 2013/16 –, juris 25; BayVGH B.v. 13.12.2016 – 12 CE 16.2333 – juris Rn. 45).