Inhalt

LG München II, Beschluss v. 07.08.2023 – 1 O 1001/23 Hei
Titel:

Beauftragung eines mit naturheilkundlichen Verfahren vertrauten Facharztes für Gynäkologie zur Klärung einer Heilpraktikerhaftung

Normenketten:
BGB § 630a Abs. 2
HeilPraktG § 2
HeilprGDV § 2 Abs. 1 S. 1 lit. i
Leitsätze:
1. Zur haftungsrechtlichen Beurteilung von Behandlungen durch Heilpraktiker empfiehlt sich die Beauftragung ärztlicher Sachverständiger des Fachgebiets, dem die Behandlung zuzurechnen ist, wobei die Gutachter mit den angewandten Verfahren vertraut sein sollten. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Heilpraktiker schulden den Standard, welcher von sorgsamen und gewissenhaften Behandlern bei den zur Anwendung gekommenen Verfahren erwartet werden kann. Dabei darf das Fundament komplementärmedizinischer Vorstellungen zugrunde gelegt werden, wissenschaftliche Erkenntnisse und evidenzbasiert-klinische Erfahrungen dürfen dabei jedoch nicht außer Betracht bleiben. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
3. Je mehr die Umstände aus Sicht des Heilpraktikers dafür sprechen, dass der Patient die alleinige Behandlungsverantwortung in seine Hände gelegt hat, umso mehr nähert sich die von ihm geschuldete Sorgfalt derjenigen an, welche von einem Facharzt der Fachrichtung erwartet werden kann, in welches die Behandlung der vorliegenden Erkrankung fällt. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
4. Während für nicht-ärztliche Therapeuten wie Physiotherapeuten und Logopäden in aller Regel in Ausbildungsordnungen festgelegt wird, welche Verfahren sie zu beherrschen und welches Wissen sie zu erwerben haben und es mithin Standards iSd § 630a Abs. 2 BGB gibt, wird für Heilpraktiker weder ein Beherrschen bestimmter vorgegebener Behandlungen erwartet, noch ist ihr Behandlungsspektrum von vorneherein auf bestimmte Erkrankungen oder Therapien beschränkt. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
5. Es liegt in der Verantwortung eines Heilpraktikers, die Behandlung nur zu übernehmen, wenn er angesichts der bestehenden (Verdachts-)Diagnose im jeweiligen Einzelfall über die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten zur gefahrlosen Durchführung der Behandlung verfügt. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
6. Unter Heilpraktikern existiert keine wissenschaftliche und organisatorische Struktur, welche wissenschaftliche Erkenntnisse und evidenzbasiert-praktische Erfahrungen in einer Weise bündeln und zu Standards oder Leitlinien verschiedener Evidenzgrade entwickeln würde, wie dies bei den medizinischen Fakultäten und unter Ärzten geschieht. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Heilpraktikerhaftung, ärztlicher Sachverständiger, Sorgfaltsstandard, Schulmedizin, Naturheilverfahren
Fundstellen:
LSK 2023, 24873
DS 2023, 296
BeckRS 2023, 24873

Tenor

Um Erstellung des gemäß Beschluss vom 21.07.2023 einzuholenden Gutachtens wird – sofern die Parteien sich nicht gütlich einigen sollten, wie dies von der Kammer im Hinblick auf OLG München (Urt. v. 25. März 2021 – 1 U 1831/18) vorgeschlagen worden ist – gebeten:
Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Zusatzbezeichnung (u.a.) Naturheilverfahren Prof. Dr. B.

Gründe

I.
1
Der Beklagte ist als Heilpraktiker tätig. Die Klägerin befand sich in seiner Behandlung. Ab Herbst 2013 war auch ein Knoten in der Brust Gegenstand der Behandlung (nach Behauptung der Klägerin erst nach 30.09.2013, nach Behauptung des Klägers ab 24.09.2013). Der Beklagte behandelte die Klägerin u.a. mit der Injektion von „Horvi“Enzymen. Die Klägerin befand sich zunächst auch in schulmedizinischer Behandlung, brach diese jedoch sodann ab. In der Zeit nach 11.02.2014 übergab die Klägerin dem Beklagten ein Schreiben eines Leitenden Arztes eines Brustzentrums vom 23.01.2014 (Anlage K 3). In diesem heißt es: „…wir haben zuletzt vor 2 Monaten telefoniert. Sie versprachen mir damals, sich Mitte Dezember wieder zu melden zur weiteren Abklärung und Behandlung Ihres Brusttumors. Leider haben Sie sich bisher noch nicht gemeldet. Ich habe deshalb, da ich Sie leider auch telefonisch nicht erreichen kann, Kontakt mit Herrn Dr. M. und Dr. H. aufgenommen. Herr Dr. H. teilte mir mit, daß er bei Ihnen derzeitig eine Behandlung mit Vitamin C und Selen macht, die sicherlich zu Ihrer Stabilisierung beiträgt, er Sie aber auch aufgefordert hat, sich jetzt zur weiteren Behandlung wieder zu melden. Die Behandlung von Herrn Dr. H ist keine Behandlung Ihres Tumors. Bitte melden Sie sich dringend bei uns in der Klinik zur weiteren Diagnostik und Behandlung.“
2
Die Klägerin behauptet, sie habe den Beklagten mittels Schreiben u.a. vom 30.09.2013 und 10.10.2013 sowie mündlich informiert, dass ärztlicherseits der hochgradige Verdacht eines bösartigen Tumors bestünde. Der Beklagte habe von einer schulmedizinischen Behandlung abgeraten und ihr immer wieder versichert, dass die Behandlung allein durch ihn wirksam erfolgen könne. Nach Amputation der Brust im Januar 2022 werde die Klägerin wegen Metastasen im Skelett und in 15 Lymphknoten nun nur noch palliativ behandelt.
3
Der Beklagte behauptet, die Klägerin habe ihm lediglich das Schreiben des leitenden Arztes des Brustzentrums vom 23.01.2014 gegeben, nicht jedoch weitergehende ärztliche Befunde. Er habe ihr bereits am 22.10.2013 geraten (und diese Empfehlung auch in seiner handschriftlichen Dokumentation festgehalten), die schulmedizinische Behandlung fortzusetzen und diesen Rat stets wiederholt. Zugleich habe der Beklagte der Klägerin auch mitgeteilt, dass es ihre autonome Entscheidung sei, ob, von wem und wie sie sich in Bezug auf den festgestellten Knoten in der Brust behandeln ließe. Der Beklagte habe der Klägerin angeboten, sie, unabhängig von ihrer Entscheidung für oder gegen eine schulmedizinische Behandlung, zu unterstützen und bei einer Behandlung – welcher auch immer – medizinisch im Rahmen seiner Möglichkeiten zu begleiten. Die von ihm durchgeführte Enzymtherapie solle nicht den Knoten selbst direkt angreifen (wie zum Beispiel eine Operation), sondern hatte zum Ziel, das Lymphsystem der Klägerin zu so aktivieren und zu stärken, dass die (insoweit ertüchtigte) körpereigene Immunabwehr der Klägerin die Zellen des Knotens erkenne, angreife, unschädlich mache und über das Lymphsystem abführe. Insoweit sei diese Behandlungsmethode in den Einwirkungen mit einer Chemotherapie vergleichbar. Bei der Chemotherapie würden allerdings auch gesunde Zellen erfasst und unter Umständen mit zerstört. Die Chemotherapie sei mit vielfachen und höchst belastenden Nebenwirkungen verbunden.
II.
4
Im vorliegenden Fall war die Beauftragung eines mit naturheilkundlichen Verfahren vertrauten Facharztes für Gynäkologie angezeigt.
5
1. Zur haftungsrechtlichen Beurteilung von Behandlungen durch Heilpraktiker empfiehlt sich die Beauftragung ärztlicher Sachverständiger des Fachgebiets, dem die Behandlung zuzurechnen ist, wobei die Gutachter mit den angewandten Verfahren vertraut sein sollten. Heilpraktiker schulden den Standard, welcher von sorgsamen und gewissenhaften Behandlern bei den zur Anwendung gekommenen Verfahren erwartet werden kann. Dabei darf das Fundament komplementärmedizinischer Vorstellungen zugrunde gelegt werden, wissenschaftliche Erkenntnisse und evidenzbasiert-klinische Erfahrungen dürfen dabei jedoch nicht außer Betracht bleiben. Dabei kommt es neben dem Wissen über das angewandte Verfahren auch auf die in der medizinischen Wissenschaft gesicherten und in der praktischen Erfahrung (auch unter Ärzten, nicht nur unter Heilpraktikern) verbreiteten Erkenntnisse an, welche sich auf die Behandlung gerade der bei dem Patienten (mutmaßlich) vorliegenden Erkrankung beziehen. Je mehr die Umstände aus Sicht des Heilpraktikers dafür sprechen, dass der Patient die alleinige Behandlungsverantwortung in seine Hände gelegt hat, umso mehr nähert sich die von ihm geschuldete Sorgfalt derjenigen an, welche von einem Facharzt der Fachrichtung erwartet werden kann, in welches die Behandlung der vorliegenden Erkrankung fällt.
6
Bei der Auswahl der Sachverständigen kommt es auf den Standard des medizinischen Fachgebiets an, in das die Behandlung fällt; zur Frage, in welches Fachgebiet eine Behandlung fällt, können die Weiterbildungsordnungen herangezogen werden (BGH VersR 2009, 257 ff.). Häufig ist dies diejenige Berufsgruppe bzw. dasjenige Fachgebiet, der bzw. dem der Beklagte angehört. Sofern ein Behandler die Grenzen seines Bereichs verlässt, gilt jedoch der Standard des Fachgebiets, in das er sich begeben hat. Damit hat der auszuwählende Sachverständige nicht automatisch immer dieselbe Ausbildung und Qualifikation wie der beklagte Behandler (BGH VersR 2018, 935 (937)). Soweit die Behandlung auf Wunsch des Patienten dem Gebiet der Alternativmedizin zuzuordnen ist, muss sich der Sachverständige allerdings auch mit dieser Art der Behandlung befasst haben (BGH MedR 2018, 43; von Pentz MedR 2018, 283 f.). Für nichtärztliche Therapeuten wie Physiotherapeuten und Logopäden ist in aller Regel in Ausbildungsordnungen festgelegt, welche Verfahren sie zu beherrschen und welches Wissen sie zu erwerben haben. Hier gibt es mithin vorgegebene Standards iSd. § 630a Abs. 2
7
BGB, an denen diese Therapeuten haftungsrechtlich gemessen werden können. Grundlegend anders ist dies bei Heilpraktikern. Von ihnen wird weder ein Beherrschen bestimmter vorgegebener Behandlungen erwartet, noch ist ihr Behandlungsspektrum von vorneherein auf bestimmte Erkrankungen oder Therapien beschränkt. Vielmehr wird die Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde gem. §§ 2 HeilPrG und 2 Abs. 1 S. 1 Buchst. i HeilPrG-DVO nur dann nicht erteilt, wenn sich aus einer Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Antragstellers ergibt, dass die Ausübung der Heilkunde durch den Betreffenden eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung oder für die ihn aufsuchenden Patientinnen und Patienten bedeuten würde. Eine formalisierte Prüfung im Sinne einer Leistungskontrolle, die auf den Nachweis einer Fachqualifikation abzielt, ist diese Überprüfung jedoch nicht, weil für den Heilpraktikerberuf eine bestimmte fachliche Ausbildung nicht vorgeschrieben ist. Stattdessen wird im Sinne eines „Negativtests“ überprüft, ob der Anwärter die Grenzen seiner persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zuverlässig einschätzen kann sowie sich der Gefahren bei Überschreitung dieser Grenzen bewusst und bereit ist, sein Handeln angemessen daran auszurichten. Vorausgesetzt werden rechtliche sowie fachlich-medizinische medizinische Grundlagenkenntnisse, zB in Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie, zur Erkennung und Erstversorgung von akuten Notfällen, in der Krankheitslehre und betreffend Schmerzzustände oder betreffend die Therapie von unterschiedlichen physischen und psychischen Erkrankungen. Nachzuweisen sind ferner anwendungsorientierte Kenntnisse wie das Verständnis von (Labor-)Befunden und die Fähigkeit zur korrekten Anamnese und Anwendung angemessener Diagnoseverfahren (Spickhoff/Schelling, 4. Aufl. 2022, Heilpraktikergesetz-DVO § 2 Rn. 9, 11 und 13 je mwN.). Es liegt daher in der Verantwortung des Heilpraktikers, die Behandlung nur zu übernehmen, wenn er angesichts der bestehenden (Verdachts-)Diagnose im jeweiligen Einzelfall über die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten zur gefahrlosen Durchführung der Behandlung verfügt. Wenn und soweit er invasive Behandlungsmethoden anwendet, müssen an ihn bezüglich seines Wissens und seiner Fortbildung die Sorgfaltsanforderungen wie an einen Allgemeinmediziner gestellt werden, der solche Methoden ebenfalls anwendet (BGH NJW 1991, 1535 (1537); Saalfrank/Dautert/Jorzig, Handbuch des Medizin- und Gesundheitsrechts, 10. EL August 2022, § 2 Rn. 100). Die geschuldeten Standards bemessen sich daher weniger nach irgendeiner unter Heilpraktikern verbreiteten Praxis, welche sich im Einzelfall oft angesichts der vielfältigen Betätigungsmöglichkeiten, die Heilpraktikern nach den gesetzlichen Grundlagen eingeräumt werden, gar nicht feststellen lassen wird. Entscheidend ist vielmehr, welche Sorgfalt angesichts der im Raum stehenden (Verdachts)Diagnose und in Bezug auf die angewandten Verfahren sowie in Anbetracht parallel laufender Behandlungen bei anderen Behandlern notwendig erscheint. Welche Sorgfalt insoweit erforderlich ist, bemisst sich nach den in der medizinischen Wissenschaft gesicherten und in der praktischen Erfahrung (auch unter Ärzten, nicht nur unter Heilpraktikern) verbreiteten Erkenntnissen, über die sich ein Heilpraktiker im Einzelfall zu informieren hat. Die gutachterliche Überprüfung, welche Sorgfalt in derartigen Fällen geboten war, vermag in aller Regel am ehesten ein mit dem zur Anwendung gekommenen (ggf.: komplementär)medizinischen Verfahren vertrauten Facharzt der Fachrichtung zu erbringen, in welche die Behandlung der im Raum stehenden (Verdachts)Diagnose fällt.
8
Während komplementärmedizinische Verfahren inklusive der Naturheilkunde auch Teil des ärztlichen Wissens und Könnens sind, existiert keine wissenschaftliche und organisatorische Struktur unter Heilpraktikern, welche wissenschaftliche Erkenntnisse und evidenzbasiert-praktische Erfahrungen in einer Weise bündeln und zu Standards oder Leitlinien verschiedener Evidenzgrade entwickeln würde, wie dies bei den medizinischen Fakultäten und unter Ärzten geschieht.
9
2. Nach diesen Grundsätzen war im vorliegenden Fall die Beauftragung eines mit naturheilkundlichen Verfahren vertrauten Facharztes für Gynäkologie angezeigt.
10
a) Die Behandlung einer Tumorerkrankung der Brust erfordert grundsätzlich (zumindest auch) frauenärztliches Fachwissen und Können.
11
b) Der Beklagte erfuhr in der Zeit nach 11.02.2014, dass die Klägerin die schulmedizinisch für erforderlich erachtete Behandlung über einen Zeitraum von mind. 2 Monaten nicht mehr wahrgenommen hatte. Auch, wenn er der Klägerin zur Fortsetzung der schulmedizinischen Therapie geraten haben möchte, so hat er doch aus der zumindest zeitweisen Nichtwahrnehmung dieser Behandlung durch die Klägerin erkennen können und müssen, dass die Klägerin der schulmedizinischen Krebstherapie skeptisch und zögerlich gegenübersteht. Vor diesem Hintergrund musste ihm klar sein, dass er die Klägerin in einer Ablehnung der schulmedizinischen Behandlung durch sein Angebot nur bestärkte, sie, unabhängig von ihrer Entscheidung für oder gegen eine schulmedizinische Behandlung, zu unterstützen und bei einer Behandlung – welcher auch immer – medizinisch im Rahmen seiner Möglichkeiten zu begleiten; dies insbesondere vor dem Hintergrund seiner Auffassung, die von ihm durchgeführte Behandlung sei in den Einwirkungen mit einer Chemotherapie vergleichbar. Der Beklagte hat somit sehenden Auges (zumindest aber fahrlässig) die gesamte Behandlungsverantwortung auf sich genommen.