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OLG München, Hinweisbeschluss v. 24.08.2023 – 33 U 1983/22
Titel:

VW-Dieselskandal: Kein Anspruch auf Differenzschaden bei Motortyp EA 288

Normenketten:
BGB § 31, § 823 Abs. 2, § 826
Fahrzeugemissionen-VO Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
ZPO § 522 Abs. 2
Leitsätze:
1. Zu – jeweils verneinten – (Schadensersatz-)Ansprüchen von Käufern eines Fahrzeugs, in das ein Diesel-Motor des Typs EA 288 eingebaut ist, vgl. auch BGH BeckRS 2022, 11891; BeckRS 2022, 18404; BeckRS 2023, 22177; BeckRS 2023, 26995; OLG Koblenz BeckRS 2023, 25585; OLG München BeckRS 2023, 22881; OLG Stuttgart BeckRS 2021, 50990; OLG Schleswig BeckRS 2022, 10559 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG München BeckRS 2023, 754 (mit weiteren Nachweisen in Leitsatz 1); OLG Koblenz BeckRS 2022, 25075 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG Bamberg BeckRS 2021, 55750 mit zahlreichen weiteren Nachweisen (auch zur aA) im dortigen Leitsatz 1; anders durch Versäumnisurteil OLG Köln BeckRS 2021, 2388; offen gelassen bei BGH BeckRS 2023, 27169. (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Vorwurf der (möglichen) Sittenwidrigkeit entfällt, wenn die Herstellerin Im Zeitpunkt des Fahrzeugerwerbs (hier: Juni 2017) den Einsatz einer Fahrkurvenerkennung gegenüber dem KBA bereits offengelegt hatte. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei einer entsprechenden Nachfrage beim KBA hätte VW die Auskunft bekommen, der Motor EA 288 weise keine unzulässige Abschalteinrichtung auf und wäre damit in dem - damit unvermeidbaren - Irrtum, der Motor genüge den rechtlichen Anforderungen, noch bestärkt worden. (Rn. 20 – 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, EA 288, unzulässige Abschalteinrichtung, Schadensersatz, Thermofenster, Fahrkurvenerkennung, OBD, Differenzschaden
Vorinstanz:
LG München II, Endurteil vom 07.03.2022 – 14 O 3311/21
Fundstelle:
BeckRS 2023, 24732

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 07.03.2022, Az. 14 O 3311/21, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.
3. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für das Berufungsverfahren auf € 18.344,30 festzusetzen.

Entscheidungsgründe

1
Das Urteil beruht weder auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO), noch rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung, § 513 Abs. 1 ZPO.
2
1. Ein Anspruch aus § 826 BGB ist nicht gegeben. Dabei kann offen bleiben, ob beim streitgegenständlichen Fahrzeug objektiv eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut ist oder der Motor ein Thermofenster aufweist. Daher ist eine Beweisaufnahme des Landgerichts zu diesem Punkt zu Recht unterblieben. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Überspannung der Anforderungen an einen substantiierten Vortrag oder das Unterlassen gebotener rechtlicher Hinweise, ist nicht gegeben.
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a) Auch wenn man das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung zu Gunsten der Klagepartei unterstellt, begründet dieser Gesetzesverstoß nicht automatisch die Qualifizierung des Verhaltens der Beklagten als besonders verwerflich. Dazu wären weitere Umstände erforderlich. Die Annahme der Sittenwidrigkeit setzt jedenfalls voraus, dass die verantwortlichen Personen bei der Entwicklung oder Verwendung der emissionsbeeinflussenden Einrichtungen in dem Bewusstsein gehandelt haben, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und dass sie den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen haben (BGH, Beschluss vom 19.01.2021, VI ZR 433/19). Dafür liegen – entgegen den Ausführungen in der Berufungsbegründung – keine greifbaren Anhaltspunkte vor.
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Die Beklagte hat nachvollziehbar dargelegt, dass ein Thermofenster für die Funktionsfähigkeit des Motors erforderlich ist (Motorenschutz) und eine Umschaltlogik wie in Motoren des Typs EA 189 gerade nicht verbaut ist.
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b) Anhaltspunkte für das Vorliegen einer der Umschaltlogik vergleichbaren Abschalteinrichtung lassen sich entgegen der Behauptung der Klagepartei darüber hinaus weder aus dem Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen vom April 2016 (Anlage B 1) oder den Darstellungen der Klagepartei selbst entnehmen.
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aa) Entgegen den Ausführungen der Berufungsbegründung können entsprechende Anhaltspunkte insbesondere nicht aus der von der Klagepartei genannten Applikationsrichtlinie und den in diesem Zusammenhang vorgelegten Unterlagen (K 4 bis K 6) hergeleitet werden. K 4 ist eine Unterlage für ein Treffen mit dem KBA im Oktober 2015, weist also gerade auf eine Offenlegung von vorhandenen Funktionen hin. In K 5 wird mehrmals darauf Bezug genommen, dass die dort beschriebenen Maßnahmen unter Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen. Anlage K 6 befasst sich schon nicht mit dem hier in Rede stehenden Motor EA 288, sondern ist mit „Vorgabe für Freigaben EA189, EU3/4/5/6“ überschrieben.
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bb) Im Rahmen der vom Kraftfahrtbundesamt (künftig: KBA) durchgeführten umfassenden Überprüfungen haben sich – wie von der Beklagten detailliert und u.a. durch die Vorlage amtlicher Auskünfte dargelegt – keine Beanstandungen ergeben. Im Gegenteil kam das KBA nach wiederholter Prüfung des hier eingesetzten Motortyps zu dem Ergebnis, dass eine unzulässige Abschalteinrichtung nicht vorliegt.
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Das festgestellte Thermofenster und die Fahrkurvenerkennung werden ausdrücklich nicht als unzulässige Abschalteinrichtungen eingestuft (vgl. etwa Auskunft des KBA vom 01.02.2021, Anlagenkonvolut B 40). Im Hinblick auf das Vorhandensein einer Fahrkurvenerkennung verweist das KBA auch darauf, dass der bloße Verbau einer Prüfstand- bzw. Fahrkurvenerkennung nicht als unzulässig beurteilt werde, solange die Funktion nicht als Abschalteinrichtung gemäß Art. 3 Abs. 10 der Verordnung (EG) 715/2007 genutzt wird. Dies ist beim Motor EA 288 nicht der Fall, da die zulässigen Grenzwerte auch bei der Deaktivierung der Fahrkurvenerkennung eingehalten wurden (Auskunft des KBA vom 15.12.2020, Anlagenkonvolut B 40).
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Ein Rückruf ist auch dann nicht erfolgt, als die Beklagte das KBA nach ihrem unbestritten gebliebenen Vortrag Ende 2015 – und damit lange vor Kauf des streitgegenständlichen Fahrzeugs durch die Klagepartei im Jahr 2017 – von der Programmierung informiert hat.
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Ein unzulässiger Eingriff in das On-Board-Diagnosesystem ergibt sich nicht daraus, dass dieses keine Fehlermeldung bei einer (behauptet) unzureichenden Abgasreinigung anzeigt. Vielmehr ist es selbstverständlich, dass die Systeme in einem Pkw aufeinander abgestimmt sind und bei programmierungsgemäß arbeitenden Komponenten Fehlermeldungen nicht erscheinen. Im Übrigen überwacht das OBD-System nur die abgasbeeinflussenden Systeme, wirkt aber auf diese nicht ein. Unterbliebene Fehlermeldungen durch das OBD-System haben solange keinen Indizcharakter, als keine hinreichend greifbaren Anhaltspunkte für eine damit verschleierte unzulässige Abschalteinrichtung vorliegen.
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cc) Nicht gefolgt werden kann der Meinung der Klagepartei, die Auskünfte des KBA seien zum Beweis nicht geeignet. Zwar ist der Senat bei der Beurteilung der Frage, ob eine Abschalteinrichtung verbaut ist, nicht an die Einschätzung des KBA gebunden. Die Auskünfte des KBA sind jedoch im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen; das Gericht ist nicht daran gehindert, sich auf der Grundlage dieser Auskünfte eine Überzeugung zu bilden.
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dd) Im Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“ wird festgestellt, dass sich bei Motoren der Baureihe EA 288 keine Hinweise auf Abgasmanipulationen ergeben (Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“, S. 12, Anlage B 1).
13
ee) Auch aus der Rückrufaktion 23Z7 kann nicht auf das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung im streitgegenständlichen Fahrzeug geschlossen werden. Die Beklagte hat hierzu schlüssig vorgetragen, dass Anlass für diesen Rückruf eine festgestellte Konformitätsabweichung (verursacht durch eine zu niedrige Berechnung eines bestimmten Faktors), nicht aber der Einsatz einer Abschalteinrichtung war (vgl. auch Auskunft des KBA vom 16.03.2021, Anlagenkonvolut B 40); eine Einstufung als sittenwidrig ist damit nicht möglich (vgl. OLG Schleswig, 7 U 180/21). Dem Senat ist zudem bekannt, dass das Fahrzeugmodell der Klagepartei nicht in der Liste des KBA über „Betroffene Fahrzeugvarianten im Zuständigkeitsbereich des KBA (ohne VW Motor EA 189)“ enthalten ist.
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c) Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung des KBA und der Untersuchungskommission „Volkswagen“ kann jedenfalls nicht belegt werden, dass die für die Beklagte Handelnden im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens des Fahrzeugs positiv wussten, dass bezüglich der behauptet eingesetzten Fahrkurvenerkennung eine Ausnahme nach Art. 5 Abs. 2 VO 715/2007 nicht eingreift. Angesichts der eindeutigen Positionierung des KBA gerade auch zur Frage der Grenzwertrelevanz kann den für die Beklagte handelnden Personen nicht unterstellt werden, dass sie in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden oder Emissionen gezielt auf dem Prüfstand hätten manipulieren wollen. Im Übrigen wäre auch eine „Grenzwertkausalität“ allein nicht geeignet, den Schluss auf ein Rechtswidrigkeitsbewusstsein der Verantwortlichen der Beklagten zu belegen (vgl. BGH, Beschluss vom 21.03.2022, VIa ZR 334/21).
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Eine möglicherweise falsche, aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Organe der Beklagten muss in Betracht gezogen werden, Daher greifen in diesem Fall die Erwägungen aus dem Urteil des Bundesgerichtshofs zum Motortyp EA 189 (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19) nicht. Vor dem Hintergrund der vorgenannten Einschätzung durch das KBA hätte eine (unterstellte) Fehlvorstellung der Beklagten auch nicht durch eine Anfrage an das KBA vermieden werden können.
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d) Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass die Klagepartei das streitgegenständliche Fahrzeug erst im Juni 2017 gekauft hat. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Beklagte nach ihrem unbestritten gebliebenen Vortrag den Einsatz einer Fahrkurvenerkennung gegenüber dem KBA bereits offengelegt. Da die Beurteilung eines schädigenden Verhaltens als sittenwidrig eine Gesamtwürdigung des Verhaltens des Schädigers voraussetzt, ist spätestens mit diesen Angaben gegenüber dem KBA, durch welche dieses in die Lage versetzt wurde, gezielte eigene Überprüfungen durchzuführen, der Vorwurf der Sittenwidrigkeit entfallen. Nicht erforderlich ist, dass die Beklagte jegliche ihr mögliche Aufklärung geleistet hätte (BGH, Urteil vom 08.12.2020, VI ZR 244/20), so dass es nicht darauf ankommt, ob die Offenlegung in allen Details vollständig und zutreffend war.
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2. Entgegen den Ausführungen in der Berufungsbegründung liegen auch die Voraussetzungen des § 823 Abs. 2 BGB im hier zu entscheidenden Fall nicht vor.
18
a) Der Tatbestand des § 263 StGB ist wegen der fehlenden Stoffgleichheit des erstrebten rechtswidrigen Vermögensvorteils mit einem etwaigen Vermögensschaden nicht erfüllt (BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 5/20).
19
b) Der Bundesgerichtshof hat zwar mit Urteil vom 26.06.2023 (Via ZR 335/21) entschieden, dass einem Käufer, dessen Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 der Verordnung (EG) 715/2007 ausgestattet ist, ein Anspruch auf den Differenzschaden nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zusteht. Unabhängig davon, dass die bisherige Antragstellung der Klagepartei diesen Anspruch nicht umfasst, ist das hierfür erforderliche, zumindest fahrlässige Verhalten der Beklagten jedoch nicht gegeben.
20
Die Beklagte hat in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt. Die Beklagte selbst trägt vor, sie sei zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des streitgegenständlichen Fahrzeugs davon ausgegangen, dass das Fahrzeug die rechtlichen Anforderungen erfülle.
21
Eine Vermeidbarkeit dieses Irrtums der Beklagten ergibt sich auf Grundlage des bisherigen Parteivortrags nicht. Vielmehr hätte die Beklagte auch bei einer entsprechenden Nachfrage beim KBA die Auskunft bekommen, der hier verbaute Motor EA 288 weise keine unzulässige Abschalteinrichtung auf und wäre damit in ihrem Irrtum noch bestärkt worden (vgl. BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, Rn. 65 ff.). Auf gerichtliche Anfrage hat das KBA zu dem hier eingesetzten Motorentyp noch weit nach dem Kauf des streitgegenständlichen Fahrzeugs im Juni 2017 mitgeteilt, dass im Rahmen der dortigen umfangreichen Untersuchungen in keinem Fall eine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt worden sei (Auskunft des KBA vom 11.01.2021, Anlage B 23).
22
c) Bei ihrem Vortrag zu den Emissionen des Pkw im Normalbetrieb verkennt die Klagepartei, dass der europäische Gesetzgeber für die Schadstoffnormen EU 5 und EU 6 nur die Messung im Prüfstandsbetrieb vorgeschrieben hat und allein diese Werte zur Erlangung der Typgenehmigung maßgeblich waren (vgl. zu einem der EU 5-Norm unterfallenden Pkw BGH, Urteil vom 13.07.2021, VI ZR 128/20, Rn. 23). Darauf, ob das Fahrzeug im Normalbetrieb die der Zulassung zugrunde liegenden Werte im NEFZ (Neuen Europäischen Fahrzyklus) einhält, kommt es gerade nicht an. Im Übrigen gälten die vorstehend unter b) gemachten Ausführungen entsprechend.
23
Der Senat regt an, die Berufung zurückzunehmen. Auf Ziffer 1222 des Kostenverzeichnisses wird hingewiesen.