Titel:
Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für Tschetschenen – Russische Föderation
Normenketten:
AsylG § 3, § 3e, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
Für politisch unverdächtige und erwerbsfähige tschetschenische Volkszugehörige besteht in anderen Teilen der Russischen Föderation – jedenfalls außerhalb von Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Dagestan, Nord-Ossetien, Krasnodar und Stawropol – grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative, in denen sie vor Verfolgung sicher sind und ihr Existenzminimum gesichert ist. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Russische Föderation, Inländische Fluchtalternative für Tschetschenen, Gefahr der Rekrutierung im Rahmen der (Teil-)Mobilmachung 2022, tschetschenische Volkszugehörigkeit, inländische Fluchtalternative, Rekrutierung, Flüchtlingseigenschaft, Abschiebungsverbot, Unterstützung von Rebellen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 2470
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Der Kläger ist Staatsangehöriger der Russischen Föderationundtschetschenischer Volkszugehörigkeit. Nach eigenen Angaben reiste er am 2. März 2021 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 23. April 2021 Asyl.
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Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden Bundesamt) am 7. Mai 2021 gab der Kläger im Wesentlichen an, er habe vor seiner Ausreise im …-Bezirk im Bergland gelebt und dort Vieh gezüchtet. Davor habe er in … gelebt. Zwei seiner Brüder seien getötet worden, sein Vater sei kürzlich verstorben. In Tschetschenien lebe noch seine Mutter und seine Tante; bei letzterer hielten sich auch die beiden Kinder des Klägers auf. Er habe außerdem noch drei Brüder, von denen sich einer verstecke und der andere in Irkutsk lebe; mit beiden habe er keinen Kontakt mehr. Sein dritter Bruder sei 2019 in Baku getötet worden.
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Der Kläger habe keine Schulbildung, in seiner Heimat aber als Elektriker und Maler gearbeitet. Er habe je nach Auftragslage monatlich etwa 300.000 bis 600.000 Rubel verdient. Er habe an beiden Tschetschenienkriegen teilgenommen.
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Im Jahr 2020 sei der Kläger zwei Mal von den Leuten Kadyrows mitgenommen und gefoltert worden. Das erste Mal sei im März 2020 gewesen. Es seien schwarz gekleidete Männer gewesen, die ihn gefoltert und nach Rebellen befragt hätten. Danach sei er in … aus dem Auto geworfen worden und sei bewusstlos gewesen. Ein Freund habe ihn gefunden und ins dortige Krankenhaus gebracht, wo er eine Woche verbracht habe. In dieser Zeit habe die Polizei ihn aufgesucht und er habe angegeben, dass er gefoltert worden sei. Mit Hilfe einer Rechtsanwältin habe er deswegen Klage erhoben. Weil er geschlagen worden sei, habe er die Klage aber vor seiner Ausreise wieder zurückgenommen. Im August 2020 sei er erneut abgeholt, gefoltert und danach wieder freigelassen worden. Er könne sich aber nicht mehr daran erinnern. Ende August oder Anfang September 2020, als er sich in den Bergen aufgehalten und in verlassenen Häusern in … gewohnt habe, seien zwei junge Männer im Alter von 19 oder 20 Jahren zu ihm gekommen. Sie seien normal angezogen und unbewaffnet gewesen und hätten darum gebeten, beim Kläger übernachten zu dürfen. Drei Tage, nachdem die beiden bei ihm übernachtet hätten, habe er von einem Bekannten telefonisch erfahren, dass nach den beiden gesucht worden sei. Er sei zu dieser Zeit auf der Bergweide bei den Tieren gewesen. Der Bekannte habe ihm erzählt, dass zwei schwarze Autos vorgefahren seien und nach den beiden Männern gesucht worden sei, weil sie Rebellen wären. Später habe er gehört, dass einer der beiden Männer erschossen worden sei und dem anderen wegen einer Schussverletzung der Arm habe amputiert werden müssen. Seine Mutter, seine Tante und seine Anwältin hätten ihm zur Ausreise geraten. Der Kläger habe dann einen Bekannten in Grosny kontaktiert, der ihm bei der Ausreise habe helfen sollen. Er habe sein Heimatland etwa am 2. November 2020 verlassen und sei mit einem Pkw nach Polen gefahren. Dort habe er sich etwa fünf Monate aufgehalten, sich in dieser Zeit amüsiert und viel getrunken. Weil ihm andere Tschetschenen, die er in Polen kennengelernt habe, gesagt hätten, dass er dort nicht sicher sei, sei er am 1. März 2021 nach Deutschland weitergereist. Vom 7. bis 23. April 2021 habe er sich erneut in Warschau aufgehalten, um sich zu erholen und zu trinken.
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Der Kläger legte dem Bundesamt verschiedene Dokumente vor, auf deren Inhalt Bezug genommen wird, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO, darunter insbesondere zwei Vorladungsschreiben des Ermittlungskomitees Gebiet … an den Kläger zu Vernehmungen am 9. August 2019 und 4. März 2020, eine Anzeige des Klägers bei der Bezirkspolizeiabteilung … vom 17. August 2019 wegen mehrtägiger Mitnahme und Körperverletzung, eine anwaltliche Vollmacht für eine Vertretung seit dem 11. Februar 2020, mehrere Schreiben der Rechtsanwältin des Klägers im Zusammenhang mit der Forderung von Ermittlungen zu den Körperverletzungen seitens Personen in Polizeiuniform sowie zwei Schreiben des zentralen Bezirkskrankenhauses … zu Krankenhausaufenthalten des Klägers vom 17. bis 23. August 2019 (ausgestellt am 17. August 2020) und 11. bis 13. März 20202 (ausgestellt am 13. August 2020).
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Mit Bescheid vom 4. August 2021 wurde der Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus abgelehnt (Ziffern 1-3 des Bescheides). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Ziffer 4 des Bescheides). Der Kläger wurdeaufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. 30 Tage nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Ihmwurde die Abschiebung in die Russische Föderation oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht (Ziffer 5 des Bescheides). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6 des Bescheides). Auf die Begründung des Bescheides wird Bezug genommen, § 77 Abs. 3 des Asylgesetzes (AsylG). Der Bescheid wurde am 5. August 2021 per Einschreiben an die Bevollmächtigte des Klägers versandt.
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Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom23. August 2021, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am gleichen Tage, ließ der KlägerKlage gegen den Bescheid vom 4. August 2021 erheben und beantragen,
I. den Bescheid der Beklagten vom 4. August 2021 mit dem Zeichen … aufzuheben,
II. die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen oder weiter hilfsweise ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
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Für die Beklagte beantragte das Bundesamt mit Schriftsatz vom27. August 2021,
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Mit Schriftsatz vom 11. Juli 2022 trug die Klägerbevollmächtigte zur Klagebegründung vor, dass mit dem Krieg in der Ukraine insbesondere viele tschetschenische Männer für die russischen Streitkräfte mobilisiert würden. Aber auch auf ukrainischer Seite würden Exiltschetschenen kämpfen. Da der Kläger Kamperfahrung habe, bestehe die Gefahr, dass er direkt nach einer Rückkehr in die Russische Föderation eingezogen werde.
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Der Rechtsstreit wurde mit Kammerbeschluss vom 20. Dezember 2022 auf den Berichterstatter zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen.
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Die Klägerbevollmächtigte legte mit Schriftsatz vom 9. Januar 2023, vollständig eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am 12. Januar 2023, die Kopie einer Vorladung des Klägers vom 28. September 2022 vor, mit der dieser im Rahmen der Mobilisierung zu den Streitkräften einberufen worden sei. Das Dokument habe er von Verwandten im Heimatland geschickt bekommen. Auf Grund seiner Kampferfahrung in der tschetschenischen Armee bestehe eine große Gefahr für den Kläger, in den Krieg gezwungen zu werden und dort auch für besonders gefährliche und rechtverletzende Handlungen herangezogen zu werden. Alternativ drohten ihm nicht nur eine Gefängnisstrafe, sondern auch eine unmenschliche Behandlung in der Haft.
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Hinsichtlich des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll vom 16. Januar 2023 Bezug genommen. Ergänzend wird nach § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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1. Die zulässige Klage hatin der Sache keinen Erfolg. Der Bescheid des Bundesamts vom 4. August 2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Er hatim maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weder Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), noch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG, noch auf die Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Insoweit wird auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides Bezug genommen, § 77 Abs. 3 AsylG; ergänzend ist Folgendes auszuführen:
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a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
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aa) Nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
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bb) Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft muss sich das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten Verfolgungsschicksals und der Wahrscheinlichkeit der Verfolgungsgefahr bilden. Eine bloße Glaubhaftmachung in der Gestalt, dass der Vortrag lediglich wahrscheinlich sein muss, ist nicht ausreichend (vgl. grundlegend BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – BVerwGE 71, 180). Es ist vielmehr der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu Grunde zu legen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei darf das Gericht jedoch hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerland, die zur Zuerkennung des internationalen Schutzes oder der Feststellung eines Abschiebungsverbotes führen sollen, keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fragen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig auszuschließen sind (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – BVerwGE 71, 180). Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einer solchen Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU – QualifikationsRL). Dies privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Damit wird für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür begründet, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus. Es obliegt aber dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder auf Grund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (VGH BW, U.v. 27.8.2013 – A 12 S 2023/11 – juris Rn. 35; HessVGH, U.v. 4.9.2014 – 8 A 2434/11.A – juris Rn. 15).
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cc) Hieran gemessen sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht gegeben. Eine Verfolgung des Klägers wegen eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Anknüpfungsmerkmale kommt hier allenfalls im Hinblick auf eine politische Einstellung in Betracht, die dem Kläger zumindest von den tschetschenischen Sicherheitsbehörden zugeschrieben wird, § 3b Abs. 2 AsylG. Nach seinen Angaben wurde ihm insoweit unterstellt, dass er Rebellen unterstütze. Die von Klägerseite außerdem geltend gemachte Gefahr einer möglichen Einziehung zum Militär und einem Einsatz im Krieg in der Ukraine knüpft dagegen ersichtlich nicht an die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG Merkmale an.
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Der Vortrag des Klägers zu seiner angeblichen Verfolgung wegen einer – ihm zumindest unterstellten – Unterstützung von Rebellen blieb sowohl bei seiner Anhörung durch das Bundesamt als auch im gerichtlichen Verfahren aber äußerst vage und oberflächlich. Gerade zu den angeblich von ihm erlittenen eigentlichen Verfolgungshandlungen wäre – zumindest auf Nachfrage – deutlich mehr zu erwarten gewesen, als die bloße Angabe, er sei mitgenommen und gefoltert worden. Insoweit konnte der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung nur einen angeblichen Vorfall in … angeben, ohne diesen sinnvoll zeitlich einordnen zu können oder zu der angeblich einwöchigen Inhaftierung weitere Angaben dazu zu machen, als dass er anhand von Fotos nach verschiedenen Personen befragt, verprügelt sowie anschließend im Krankenhaus behandelt worden sei. Gegenüber dem Bundesamt hatte der Kläger noch angegeben, im März 2020 gefoltert und anschließend im Krankenhaus in … behandelt worden zu sein. Das gleiche habe sich im August 2020 nochmals ereignet, daran könne er sich aber nicht mehr erinnern. Die vom Kläger vorgelegten Unterlagen des Krankenhauses bescheinigen jedoch einen Aufenthalt vom 17. bis 23. August 2019 (in der in der Behördenakte enthaltenen deutschen Übersetzung unzutreffend mit 2020 angegeben), bei dem er von Passanten eingeliefert worden sei und angegeben hatte, verprügelt worden zu sein. Dieser Zeitraum passt auch zu den Zeitangaben in den sonstigen, vom Kläger dem Bundesamt vorgelegten Dokumenten. In der zweiten Bescheinigung des Krankenhauses, die von einer Behandlung vom 11. bis 13. März 2020 spricht, ist dagegen ausgeführt, der Kläger sei von Verwandten eingeliefert worden und habe unter Gereiztheit, Jähzorn, starken Kopfschmerzen, Unzufriedenheit und, nach den Angaben seiner Tante, unter epileptischen Anfällen gelitten. Zudem setzte sich der Kläger mit seinen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung teils in deutlichen Widerspruch zu seinen Angaben gegenüber dem Bundesamt. So gab er gegenüber dem Bundesamt noch an, der entscheidende Auslöser für seine Ausreise sei gewesen, dass nach der Übernachtung der beiden jungen Männer nach ihm gesucht werde. In der mündlichen Verhandlung schilderte er jedoch, dass die Männer zu einem Zeitpunkt bei ihm übernachteten, als er bereits zur Ausreise nach Deutschland entschlossen gewesen sei. Zudem gab der Kläger beim Bundesamt an, dass er, drei Tage nachdem die beiden jungen Männer bei ihm übernachtet hätten, von einem Bekannten telefonisch erfahren habe, dass nach ihm gesucht werde. Er sei bei den Tieren auf der Weide gewesen, sein Bekannter ihm erzählt habe, es seien in seiner Abwesenheit zwei schwarze Autos vorgefahren und man habe sich nach den jungen Männern erkundigt. In der mündlichen Verhandlung führte der Kläger hiervon gänzlich abweichend aus, nachdem die beiden Männer bei ihm übernachtet hätten, seien Vertreter der Sicherheitsbehörden bei seiner Tante erschienen und hätten sich nach dem Kläger erkundigt und auch das Haus der Tante durchsucht. Davon habe ihn seine Tante telefonisch informiert. Angesichts dessen, dass der Kläger im Rahmen seiner Anhörung als konkreten Anlass für seine Ausreise die ihm angeblich drohende Verfolgung wegen der Unterstützung für die beiden jungen Männer angab, ist es nicht nachvollziehbar, weshalb er zu dem entscheidenden Umstand, wie er überhaupt von der ihm drohenden Gefahr erfahren haben will, völlig gegensätzliche Angaben macht. Wenn der Kläger – wie in der mündlichen Verhandlung angegeben – bereits zuvor zur Ausreise entschlossen gewesen sein sollte, bleibt aber völlig unklar, was der Auslöser hierzu gewesen sein sollte, zumal er nach eigenen Angaben etwa ein halbes Jahr zuvor zuletzt gefoltert worden sein will, ohne dass ihn dies unmittelbar zur Ausreise veranlasst hätte.
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Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen glaubhaftem und unglaubhaftem Vortrag ist hier angesichts der deutlichen Widersprüche und Ungereimtheiten nicht mehr möglich. Das Vorbringen des Klägers ist vielmehr – auch im Hinblick auf die weitgehend oberflächlichen Schilderungen – insgesamt als unglaubhaft zu bewerten. Auch die vom Kläger dem Bundesamt vorgelegten Dokumente können die dargestellten Widersprüche nicht aufklären. Es stellt im Übrigen keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar, dass der Sachvortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung als unglaubhaft bewertet wird, ohne dass der Kläger durch das Gericht in der Verhandlung darauf hingewiesen oder ihm die angeführten Widersprüche vorgehalten worden wären. Der Anspruch auf rechtliches Gehör begründet auch in der Ausprägung durch § 86 Abs. 3 VwGO keine generelle Pflicht des Gerichts, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Sachverhalts hinzuweisen. Das folgt schon daraus, dass in aller Regel die Beweiswürdigung, dass daraus folgende Beweisergebnis und die hieraus zu ziehenden Schlussfolgerungen der abschließenden Urteilsfindung des Gerichts vorbehalten bleiben und sich deshalb einer Voraberörterung mit den Beteiligten entziehen. Das gilt auch für den Tatsachenvortrag des Asylbewerbers, der nach § 15, § 25 Abs. 1 Satz 1 AsylG selbst für die Darlegung seiner Asylgründe verantwortlich ist. Das Gericht ist damit im Grundsatz nicht gehalten, den Asylbewerber vorab auf mögliche Ungereimtheiten und Widersprüche in seinem Vorbringen hinzuweisen (vgl. BayVGH, B.v. 7.1.2020 – 11 ZB 19.33226 – juris Rn. 17; BVerwG, B.v. 10.5.2002 – 1 B 392.01 – NVwZ 2002, 1381; B.v. 26.11.2001 – 1 B 347.01, 1 PKH 46/01 – juris Rn. 5 m.w.N.). Dies gilt erst recht, wenn der Sachvortrag des Klägers in der Anhörung durch das Bundesamt von Beklagtenseite – wie hier – bereits im streitgegenständlichen Bescheid als unglaubhaft bzw. nicht nachvollziehbar bewertet wurde und der Kläger in der mündlichen Verhandlung sich hiermit nicht auseinandersetzt.
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dd) Jedenfalls aber steht dem Kläger – selbst wenn man seinen Vortrag hinsichtlich einer Verfolgung durch tschetschenische Sicherheitsbehörden als wahr unterstellt – eine inländische Fluchtalternative i.S.d. § 3e AsylG zur Verfügung. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger in den außerhalb Tschetscheniens liegenden Teilen der Russischen Föderation internen Schutz im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG genießt. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
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Für politisch unverdächtige und erwerbsfähige tschetschenische Volkszugehörige besteht in anderen Teilen der Russischen Föderation – jedenfalls außerhalb von Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Dagestan, Nord-Ossetien, Krasnodar und Stawropol – grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative, in denen sie vor Verfolgung sicher sind und ihr Existenzminimum gesichert ist (vgl. BVerwG, U.v. 27.3.2018 – 1 A 4.17 – juris Rn. 130 ff.; BayVGH München, U.v. 16.7.2019 – 11 B 18.32129 – juris Rn. 46 ff.; OVG LSA, U.v. 28.5.2020 – 2 L 25/18 – juris Rn. 46 ff.).
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Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger sich in besonderer Weise politisch oder anderweitig engagiert hätte, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass er außerhalb Tschetscheniens im Vergleich zu anderen Tschetschenen besonders auffallen würde. Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges einzig und allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Russische Föderation vom 9.11.2022, S. 53). Zwar mag der Kontrolldruck gegenüber „kaukasisch aussehenden“ Personen aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten in der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus erheblich sein. In diesem Zusammenhang erfolgende Personenkontrollen und häufig ohne Durchsuchungsbefehle stattfindende Hausdurchsuchungen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21.5.2021, S. 22 f.) weisen jedoch trotz ihres teilweise durchaus diskriminierenden Charakters nicht eine derartige Intensität auf, dass ein Aufenthalt außerhalb des Kaukasus generell als unzumutbar eingestuft werden müsste (ebenso VG Berlin, U.v. 24.3.2015 – VG 33 K 229.13 A – juris Rn. 21). In der Russischen Föderation leben über einhundert anerkannte Nationalitäten sehr unterschiedlicher Größe, die gegenüber der russischen Bevölkerung in den meisten Gebieten in der Minderheit sind. Eine nach ethnischer oder sprachlicher Zugehörigkeit diskriminierende Gesetzgebung gibt es nicht (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28.9.2022, S. 17 f.). Was die Gefahr fremdenfeindlicher und rassistischer Übergriffe aus Teilen der Bevölkerung anbelangt, so sind solche zwar ebenfalls nicht zu leugnen, die Anzahl ethnisch bedingter Gewalttaten ist aber rückläufig (vgl. dazu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21.5.2021, S. 7; Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Russische Föderation vom 9.11.2022, S. 69). Blutige Zusammenstöße der Ethnien hat es anders als im Kaukasus selbst in anderen Regionen der Russischen Föderation dagegen nicht gegeben. Es ist zwar zutreffend, dass es insbesondere bei den Antiterroroperationen aus Anlass der Bombenattentate in russischen Großstädten in den Jahren 1999 und 2000, für die tschetschenische Kräfte verantwortlich gemacht wurden, zu Kontrollen und Festnahmen insbesondere von Kaukasiern gekommen ist. Dieses – in vielen Fällen aus rechtsstaatlicher Sicht zwar überzogene – Vorgehen hat aber nach Ansicht des Gerichts zum einen einen einsehbaren sicherheitspolitischen Anlass und richtet sich auch nicht in erster Linie gegen Kaukasier, sondern gegen Verdächtige, welche zwar vor allem in den Reihen der Kaukasier vermutet werden, wofür es aber auch sachliche, ermittlungstechnische Anhaltspunkte gab und gibt. Zum anderen ist dieses teilweise überzogene, rechtsstaatlichen Anforderungen und der Achtung der Menschenwürde nicht gerecht werdende Vorgehen in der Praxis jedoch auch weitgehend durch ein allgemein nicht ausgeprägtes oder gar verinnerlichtes rechtsstaatliches Selbstverständnis vieler Amtswalter bzw. eine insoweit fehlende Tradition der Sicherheitsbehörden bedingt, welches bei vergleichbarem Anlass in etwa gleichem Ausmaß auch andere Volkszugehörige treffen würde. Auch wenn der Krieg in Tschetschenien bzw. generell im Kaukasus von offizieller Seite als Vorgehen gegen „Terroristen“ bezeichnet wird und zunehmend die Kennzeichen eines Guerillakrieges annimmt, bestehen doch keine Anhaltspunkte dafür, dass nunmehr jeder Tschetschene und umso mehr jeder Kaukasier allein wegen seiner Volkszugehörigkeit außerhalb des Kaukasus derart intensiv verfolgt wird, dass er in eine ausweglose Lage geriete (vgl. VG Ansbach, U.v. 13.2.2006 – AN 10 K 06.30008). Angesichts der im Verhältnis zur kaukasischen Bevölkerung in der Russischen Föderation (allein in Moskau sollen über 200.000 Tschetschenen leben, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28.9.2022, S. 17) geringen Opferzahlen kann nicht angenommen werden, dass Kaukasier außerhalb ihrer Heimatregionen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich Opfer gewalttätiger Übergriffe werden (vgl. VGH BW, U.v. 15.2.2012 – A 3 S 1876/09 – juris Rn 55; Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Russische Föderation vom 9.11.2022, S. 96). Für ein „flächendeckendes“, eine reale Gefahr begründendes Vorgehen des russischen Staates gegen zehntausende von tschetschenischen Flüchtlingen und zehntausende von jeher außerhalb Tschetscheniens in der übrigen Russischen Föderation lebende Tschetschenen gibt es im Übrigen auch keinen einsehbaren Grund. Hinsichtlich des Interesses, Tschetschenien wieder unter Kontrolle zu bringen, würde den russischen Staat ein Vorgehen gegen Tschetschenen, welche nicht direkt in Tschetschenien kämpfen oder gekämpft haben und auch nicht außerhalb Tschetscheniens Anschläge verüben oder sich sonst besonders für die tschetschenische Sache engagieren, diesem Ziel nicht näher bringen, sondern die Russische Föderation sähe sich dann einem nochmals verstärkten internationalen Druck ausgesetzt und zudem der Erhöhung des Risikos, dass die Auseinandersetzung noch intensiver und großflächiger in die Russische Föderation getragen würde (vgl. VG Ansbach, U.v. 14.9.2007 – AN 10 K 07.30008 – juris).
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Soweit von Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens (und der oben genannten weiteren Regionen) durch die Verweigerung von Registrierungen, polizeiliche Übergriffe, ungerechtfertigte strafrechtliche Anschuldigungen oder fremdenfeindliche Aggressionen auszugehen ist, handelt es sich entweder nicht um asylrelevante Übergriffe oder sie erreichen nicht, auch nicht in der Gesamtschau, eine Häufigkeit bzw. Intensität, dass sie asylrelevante Übergriffe für tschetschenische Flüchtlinge wie den Kläger als nicht ganz entfernte und damit durchaus reale Möglichkeit erscheinen lassen. Es ist auch nicht pauschal davon auszugehen, dass tschetschenische Flüchtlinge wie der Kläger einer realen Gefahr tätlicher Übergriffe in Zusammenhang mit Kontroll- und Durchsuchungsmaßnahmen oder der falschen Beschuldigung eines Verbrechens mittels gefälschter Beweismittel, fremdenfeindlichen Übergriffen von Privatpersonen o.ä. ausgesetzt wäre (vgl. VG Berlin, U.v. 12.3.2008 – 38 X 33.08 – juris Rn. 65 ff. m.w.N.).
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Auch wenn man – die Angaben des Klägers zu seinem Verfolgungsschicksal als wahr unterstellt – von einer Vorverfolgung des Klägers ausgeht, führt dies nicht dazu, dass eine inländische Fluchtalternative i.S.d. § 3e Abs. 1 AsylG zu verneinen wäre. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln betreibt Ramsan Kadyrow als „Oberhaupt“ der Tschetschenischen Republik eine extreme strafrechtliche Verfolgung potentieller Gegner und deren Unterstützer. Dies resultiert daraus, dass Kadyrow die Anti-Terrorismusbekämpfung aufrechterhält, um dem Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin gegenüber das riesige Sicherheitsdispositiv Tschetscheniens zu rechtfertigen. Behörden nutzen jeden Vorwand, um Personen zu verhaften und als Aufständische zu verurteilen. Polizei, Untersuchungsausschuss sowie die Staatsanwaltschaft müssen Ergebnisse in Bezug auf getötete Aufständische, untersuchte Verbrechen oder verurteilte Mitglieder und Unterstützende von illegalen bewaffneten Gruppierungen aufzeigen. Polizei-Departemente müssten monatlich mindestens einen solchen Fall vorbringen (zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Tschetschenien: Aktuelle Menschenrechtslage, 13.5.2016, S. 16). Über Jahre sind die Strafverfolgungsbehörden und Sicherheitskräfte, die unter Kadyrows de-facto-Kontrolle stehen, mit illegalen Methoden gegen mutmaßliche Rebellen und ihre Unterstützer vorgegangen, mit der Zeit sind sie jedoch dazu übergegangen, diese Methoden gegenüber Gruppen anzuwenden, die von den tschetschenischen Behörden als „unerwünscht“ erachtet würden, beispielsweise lokale Dissidenten, unabhängige Journalisten oder auch salafistische Muslime. Die Bekämpfung von Extremisten geht mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Russische Föderation vom 9.11.2022, S. 51). Es ist vor diesem Hintergrund aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln aber nichts dafür ersichtlich, dass der in Tschetschenien bestehende Verfolgungsdruck sich in dieser Form auch in anderen Regionen der Russischen Föderation wiederfinden ließe. Trotz der Rhetorik des tschetschenischen Oberhauptes Kadyrow gilt dessen Machtentfaltung außerhalb der Grenzen der Teilrepublik als beschränkt, und zwar nicht nur formell im Lichte der geltenden russischen Rechtsordnung, sondern auch faktisch durch die offenkundige Konkurrenz zu den föderalen Sicherheitskräften. Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können zwar Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, kann auch versucht werden, Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig zu machen. Möglicherweise greifen die tschetschenischen Behörden nicht auf diese offiziellen Wege zurück, da diese häufig lang dauern und so ein Fall auch schlüssig begründet sein muss. Trotz der Rolle nationaler Datenbanken und Registrierungsgesetze, die eine Rückverfolgung von Personen ermöglichen, besteht für betroffene Personen ein gewisser Spielraum, Anonymität und Sicherheit in Russland zu finden, allerdings abhängig von den spezifischen Umständen. Die russischen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden sind im Allgemeinen oft nicht bereit, als tschetschenische Vollstrecker aufzutreten, da sie oft skeptisch gegenüber Forderungen aus Grosny sind. Die föderalen Sicherheitsbehörden machen einen deutlichen Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die wegen Verbrechen in Tschetschenien gerichtlich verurteilt wurden, und von jenen, welchen nur vorgeworfen wird, Verbrechen begangen zu haben. Insofern ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Tschetschene, der von Tschetschenien aus verfolgt wird, anderswo in Russland aktiv misshandelt wird, wenn nicht bereits ein Gerichtsurteil ergangen ist oder andere Behörden – im Wesentlichen der Inlandsgeheimdienst FSB, Generalstaatsanwaltschaft, Untersuchungskommission – davon überzeugt sind, dass ein substanzielles politisches Fehlverhalten oder ein Fall von organisierter Kriminalität vorliegt. Dass tschetschenische Sicherheitskräfte generell in der Russischen Föderation ungehindert und straflos agieren könnten, ist nicht anzunehmen. Zwar sind auch bewaffnete Kräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, in Moskau präsent und es ist die Rede davon, dass Kadyrow tausend, wenn nicht sogar Tausende Loyalisten aufbringen kann, die fähig und bereit sind, gegen das Gesetz zu handeln. Dies scheint jedoch höchst fragwürdig. Es gibt auch weniger als hundert Beamte, die offiziell bei den tschetschenischen Sicherheitskräften akkreditiert sind und berechtigt sind, in Moskau zu operieren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28.9.2022, S. 17; Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Russische Föderation vom 9.11.2022, S. 96 f.; Galeotti, License to kill? The risk to Chechens inside Russia, Juni 2019, S. 10 ff.). Allein daraus ist zu folgern, dass die umfangreiche tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands nicht unter der unmittelbaren Kontrolle von Kadyrow steht. Wie konkrete Einzelfälle aus der Vergangenheit zeigen, können kriminelle Akte gegen explizite Regimegegner im In- und Ausland allerdings nicht gänzlich ausgeschlossen werden (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Russische Föderation vom 9.11.2022, S. 54). Es kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass die tschetschenischen Behörden Unterstützer und Familienmitglieder einzelner Kämpfer – anders als bei einzelnen bekannten oder hochrangigen Kämpfern – auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation suchen und/oder finden würden. Personen, die nicht von Kadyrow persönlich ins Visier genommen wurden, die nicht bereits wegen eines Verbrechens verurteilt wurden oder bei denen nicht glaubhaft davon auszugehen ist, dass sie Terroristen sind oder den Terrorismus unterstützen, werden regelmäßig außerhalb Tschetscheniens nicht aktiv gesucht. Wer lediglich anderweitig mit der tschetschenischen Obrigkeit oder deren Unterstützern in Konflikt geraten ist, ohne dass er wegen schwerwiegender Verbrechen förmlich angeklagt wurde, wird regelmäßig außerhalb Tschetscheniens unbehelligt leben können (Galeotti, License to kill? The risk to Chechens inside Russia, Juni 2019, S. 18 f.). Ebenso wenig liegen gesicherte Erkenntnisse dafür vor, dass Personen mit tschetschenischer Volkszugehörigkeit nach einer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt wären oder allein deshalb staatlich verfolgt werden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28.9.2022, S. 25). Auch wenn es für Tschetschenen sowohl in Großstädten wie Moskau oder St. Petersburg wegen der dort vorherrschenden starken Polizeipräsenz aber auch in ländlichen Gegenden, in denen Personen aus dem Nordkaukasus besonders auffallen und unbeliebt sind, schwierig sein mag, unauffällig zu leben, gibt es in der Russischen Föderation in zahlreichen Großstädten die Möglichkeit, ein sicheres Leben in der Anonymität zu führen. Ausgenommen hiervon sind lediglich wegen der dort ebenfalls starken Präsenz von Sicherheitskräften Rostow am Don als Drehscheibe für die Operationen in der Ostukraine und Kazan, wo sich 2012 islamistische Terroranschläge ereigneten sowie Stawropol, wo eine große tschetschenische Gemeinde mit starken Verbindungen dorthin existiert (Galeotti, License to kill? The risk to Chechens inside Russia, Juni 2019, S. 16 f.).
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Zurückkehrenden tschetschenischen Volkszugehörigen ist es auch möglich, in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens (und der o.g. Gebiete) ein zumutbares Unter- und Auskommen zu finden. Dabei wird es den Betroffenen regelmäßig zwar nicht leicht gemacht; in der Regel wird es ihnen administrativ erschwert, insbesondere einen legalen Aufenthalt und diesen wiederum insbesondere an bestimmten Orten zu nehmen. Dies ist im Endeffekt jedoch nicht unmöglich, mag es auch nicht immer am bevorzugten Ort oder stets auf Anhieb möglich sein. In diesem Zusammenhang ist auf die Verhältnisse in der Russischen Föderation insgesamt abzustellen, insbesondere ohne die Verhältnisse in den russischen Großstädten, wie etwa Moskau und St. Petersburg, zu verallgemeinern, weil dort u.a. wegen der angespannten Wohnraumsituation ein besonderer Zuwanderungsdruck für die hinsichtlich der restlichen Russischen Föderation (mit Ausnahme Tschetscheniens) nicht repräsentativen Verhältnisse ursächlich ist, wovon im Übrigen nicht nur Tschetschenen betroffen sind. Bei hinreichendem Bemühen können russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit in der Russischen Föderation eine Registrierung erreichen. Die Registrierung ist nichts anderes als eine Benachrichtigung für die Behörde, wo eine Person wohnt, und funktioniert im Allgemeinen problemlos. Die Registrierung des Wohnsitzes erfolgt entweder in einer lokalen Niederlassung des Innenministeriums (MVD), über das Onlineportal für öffentliche Dienstleistungen Gosuslugi oder per E-Mail (nur für die temporäre Registrierung). Man kann neben einer permanenten Registrierung auch eine temporäre Registrierung haben, z.B. in einem Hotel, in einer medizinischen Einrichtung, in einem Gefängnis, in einer Wohnung, etc. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, den Hauptwohnsitz zu ändern. Hierzu muss man die permanente Registrierung innerhalb von sieben Tagen ändern. Um sich zu registrieren, braucht man einen Pass, einen Antrag auf Registrierung und ein Dokument, das zeigt, dass man berechtigt ist, sich an einer bestimmten Adresse zu registrieren, wie z.B. einen Mietvertrag. Die permanente Registrierung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt. Die Beendigung einer permanenten Registrierung muss von der jeweiligen Person veranlasst werden. Dies muss aber nicht bei den Behörden an der alten Adresse geschehen, sondern kann von der neuen Adresse aus beantragt werden. Auch die Beendigung einer Registrierung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt. Eine Registrierung ist für einen legalen Aufenthalt in der Russischen Föderation unabdingbar. Diese ermöglicht außerdem den Zugang zu Sozialhilfe (Arbeitslosengeld, Pension, etc.) und staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Russische Föderation vom 9.11.2022, S. 93 m.w.N.). Sollten die amtlichen Stellen entgegen der Rechtslage eine Registrierung verweigern, können sich Tschetschenen hiergegen mit sehr guten Erfolgsaussichten selbst in Moskau zur Wehr setzen. Darüber hinaus lässt sich den Erkenntnisquellen nicht entnehmen, dass die Registrierungsschwierigkeiten „flächendeckend“ in der Russischen Föderation bestehen. Es gibt Regionen, in denen keine örtlichen Vorschriften zur Registrierung erlassen worden sind oder diese nicht restriktiv angewandt werden, in denen also eine Registrierung leichter möglich ist (vgl. – insbesondere auch zum Registrierungsverfahren – VG Berlin, U.v. 12.3.2008 – 38 X 33.08 – juris Rn. 74 ff.).
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Im Übrigen können Tschetschenen auch ohne eine legale Registrierung ein zumutbares Auskommen finden. Die vergleichsweise hohe Zahl der in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens lebenden Tschetschenen belegt, dass es unabhängig von bürokratischen Schwierigkeiten (etwa bei Registrierung oder Ausweispapierbeschaffung), teilweisen Diskriminierungen und auch Übergriffen von Behördenangehörigen und trotz Ressentiments in der Bevölkerung möglich ist, zumindest einen faktischen Aufenthalt zu erlangen und – wenn auch auf dem landesüblichen niedrigen Niveau – dabei eine wirtschaftliche Grundlage zu finden und sei es auch nur im Bereich der – sehr weit verbreiteten – Schattenwirtschaft (vgl. VG Augsburg, U.v. 12.6.2006 – Au 2 K 05.30203 – juris Rn. 19). Es ist daher davon auszugehen, dass eine Registrierung oder das Innehaben von Personalpapieren zwar durchaus hilft, das Leben in der Russischen Föderation leichter zu gestalten, jedoch nicht unabdingbare Voraussetzung dafür ist, Lebensverhältnisse zu schaffen, welche – unter Berücksichtigung des allgemeinen Lebensstandards in der Russischen Föderation – als zumutbar anzusehen sind (vgl. VG Berlin, U.v. 12.3.2008 – 38 X 33.08 – juris Rn. 79 m.w.N.).
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Die Gebiete, in denen eine inländische Fluchtalternative offen steht, sind für den Kläger auch erreichbar. Denn es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass er bei einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht dorthin gelangen könnte oder gar mit einer zwangsweisen Rückführung nach Tschetschenien rechnen müsste (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28.9.2022, S. 26 f.). Die Möglichkeit des legalen Aufenthaltes in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation ist auch nicht aufgrund der Teilmobilmachung entfallen. Nur den Bürgern, die als Reservisten im Militärregister erfasst sind, wurde ab dem Moment der Mobilisierung das Verlassen ihres Wohnorts ohne Genehmigung der Militärkommissariate verboten (vgl. VG Braunschweig, U.v. 11.10.2022 – 8 A 388/19 – juris Rn. 35 m.w.N.). Zu diesem Personenkreis gehört der Kläger aber nicht, da er keinen Wehrdienst geleistet hat. Selbst für den Fall, dass die behördliche Registrierung außerhalb Tschetscheniens verweigert werden sollte, bestünde für den Kläger keine reale Gefahr, zwangsweise nach Tschetschenien zurückkehren zu müssen; für eine Rückverbringung von russischen Staatsangehörigen aus einem Landesteil, in dem sie nicht registriert sind, in ihre Heimat besteht keine Rechtsgrundlage, und es dürfte dem russischen Staat hierfür auch an Mitteln fehlen (OVG NW, U.v. 12.7.2005 – 11 A 2307/03.A – juris Rn. 107 f.).
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Dem Kläger ist es daher zuzumuten und es kann von ihm auch vernünftigerweise erwartet werden, dass er seinen Aufenthalt in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation nimmt, an dem er vor Verfolgung sicher ist und wo sein soziales und wirtschaftliches Existenzminimum durch eigene Berufstätigkeit gewährleistet ist. Erforderlich hierfür ist, dass die Kläger am Zufluchtsort unter persönlich zumutbaren Bemühungen jedenfalls ein Existenzminimum sichern können, das eine Verletzung von Art. 3 EMRK nicht befürchten lässt. Fehlt es an einer solchen Möglichkeit der Existenzsicherung, ist eine interne Schutzmöglichkeit nicht gegeben (vgl. BVerwG, U.v. 19.07.2021 – 1 C 4.20 – juris; VGH BW, U.v. 15.2.2012 – A 3 S 1876/09 – juris). Erwerbsfähigen Personen bietet ein verfolgungssicherer Ort das wirtschaftliche Existenzminimum, wenn sie dort – was grundsätzlich zumutbar ist – durch eigene und notfalls auch weniger attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Dazu gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten im Bereich einer „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ stattfinden (vgl. BVerwG, B.v. 17.5.2005 – 1 C 24.06 – juris). Maßgeblich ist ferner nicht, ob der Staat den Flüchtlingen einen durchgehend legalen Aufenthaltsstatus gewähren würde, vielmehr ist in tatsächlicher Hinsicht zu fragen, ob das wirtschaftliche Existenzminimum zur Verfügung steht (vgl. BVerwG, B.v. 31.8.2006 – 1 B 96.06 – juris).
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b) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
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aa) Danach ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die Gefahr eines ernsthaften Schadens kann nicht nur vom Staat drohen (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings scheidet die Gewährung subsidiären Schutzes aus, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keiner Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist, weil er dort Zugang zu Schutz vor einem solchen ernsthaften Schaden i.S.d. § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG).
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bb) Auch hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes muss sich das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten Verfolgungsschicksals und der Wahrscheinlichkeit der Verfolgungsgefahr bilden. Insoweit findet der gleiche Maßstab wie bei der Frage der Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes nach § 3 AsylG Anwendung, s. a) bb). Hinsichtlich der vom Kläger vorgetragenen Verfolgung durch tschetschenische Sicherheitsbehörden kann insoweit ebenfalls auf die obigen Ausführungen unter a) bb) und cc) verwiesen werden. Jedenfalls wäre der Kläger auch insoweit auf eine interne Fluchtmöglichkeit nach § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG zu verweisen.
32
cc) Auch hinsichtlich der vom Kläger befürchteten Einziehung zum Militär liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG nicht vor. Der 45-jährige Kläger unterliegt schon aus Altersgründen nicht mehr der Wehrpflicht (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28.9.2022, S. 10: Die einjährige Wehrpflicht besteht für Männer zwischen 18 und 27 Jahren). Eine Gefahr, gegen seinen Willen zum Militär eingezogen und auch zur Teilnahme an Kampfhandlungen im Rahmen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gezwungen zu werden, könnte für den Kläger allenfalls im Rahmen einer Mobilisierung im Zusammenhang mi dem Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine bestehen (vgl. Dekret des Präsidenten der Russischen Föderation „Über die Erklärung der Teilmobilmachung in der Russischen Föderation“ vom 21.9.2022). Zwar kann insoweit nicht schon von einem drohenden ernsthaften Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgegangen werden, da der Kläger dann als Angehöriger der regulären Streitkräfte der Russischen Föderation keine Zivilperson im Sinne der genannten Vorschrift darstellen würde (vgl. Art. 50 Abs. 1 Satz 1 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12.8.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte – Genfer Zusatzprotokoll I i.V.m. Art. 4 lit. A) Nr. 1 des III. Genfer Abkommens vom 12.8.1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen - III. Genfer Abkommen). Es käme wegen der Kampfhandlungen zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine jedoch ein ihm drohender ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Betracht. Hiervon ist jedoch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auszugehen: Die mit dem Erlass vom 21. September 2022 eingeleitete Teilmobilmachung wurde vom Präsidenten der Russischen Föderation am 31. Oktober 2022 für beendet erklärt, nachdem der russische Verteidigungsminister bereits am 28. Oktober 2022 bekanntgegeben hatte, dass die erforderliche Anzahl an Soldaten rekrutiert worden sei. Einen weiteren Erlass des Präsidenten zur förmlichen Beendigung der Teilmobilmachung gab es jedoch nicht, so dass teilweise befürchtet wurde, dass die Mobilmachung fortgeführt bzw. jederzeit wiederaufgenommen werden könnte (The Danish Immigration Service, Brief Report – Russia – An update on military service since July 2022, Dezember 2022, S. 13 m.w.N.). Teilweise wird eine weitere Mobilisierungswelle derzeit aber für eher unwahrscheinlich und praktisch kaum durchführbar gehalten (vgl. Redaktionsnetzwerk Deutschland, Putin in der Klemme: Drei Gründe, warum es keine Mobilmachung gibt, 19.1.2023, https://www.rnd.de/politik/ukraine-krieg-wagt-putin-eine-neue-mobilmachung-in-russland-EXVY7EZYTJAQZDM4J3EWXYKMRI.html, abgerufen am 6.2.2023). Im Rahmen der Teilmobilmachung im Jahr 2022 wurden in erster Linie Reservisten einberufen, die bereits Dienst in den russischen Streitkräften als Wehrpflichtige oder Zeitsoldaten geleistet hatten, aber auch Männer, die ein Studium an einer militärischen Hochschule abgeschlossen hatten, die den alternativen Zivildienst abgeleistet hatten, die zwar älter als 27 Jahre waren, für die die Ableistung des Wehrdienstes aber aufgeschoben worden war, Ärzte und Pflegepersonal sowie andere Angehörige bestimmter sogenannter militärischer Registrierungsspezialitäten oder militärisch relevanter Berufsgruppen. Die Altersgrenze für die erste Welle einer Teilmobilisierung liegt nach Art. 53 des Föderalen Gesetzes vom 28.3.1998 „Über die Wehrpflicht und den Militärdienst“ (vgl. https://legalacts.ru/doc/FZ-o-voinskoj-objazannosti-i-voennoj-sluzhbe/razdel-viii/statja-53/, abgerufen am 6.2.2023) bei 35 Jahren für Mannschafts- und Unteroffiziersdienstgrade bzw. 50 Jahre für Offiziere bis zum Rang eines Hauptmanns und mindestens 55 Jahre für höherrangige Offiziere. Neben gesundheitlichen Gründen gab es weitere Ausschlussgründe für eine Einberufung, so insbesondere auch Väter von einem oder mehr Kindern, die von ihnen ohne ihre Mutter erzogen werden (vgl. The Danish Immigration Service, Brief Report – Russia – An update on military service since July 2022, Dezember 2022, S. 46 und 14 f.; ebenso der Fragen- und Antwortenkatalog auf der Internetseite des russischen Verteidigungsministeriums, https://z.mil.ru/spec_mil_oper/partial_mobilisation.htm, abgerufen am 6.2.2023).
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Nach aktuellen Medienberichten haben der Präsident der Russischen Föderation und mehrere russische Gouverneure eingeräumt, dass die Einberufungsämter Fehler bei der Einberufung in Umsetzung des Dekrets vom 21. September 2022 begangen haben, weshalb zunächst, wie ebenfalls in den Medien berichtet, auch nicht von dem Dekret umfasste Staatsbürger der Russischen Föderation eingezogen worden seien. Sie kündigten deshalb an, dass man sich schnell um jeden Fall kümmern und diejenigen, die versehentlich eingezogen wurden, nach Hause zurückgeschickt würden. Die Generalstaatsanwaltschaft sei aufgefordert, Verstöße gegen die Mobilmachung zu verfolgen. Nach Berichten unabhängiger Medien ist es auch tatsächlich zu der angekündigten Rücksendung fälschlich eingezogener Personen gekommen (vgl. Deutsche Welle, Mobilmachung in Russland: Was Einberufene erzählen, 30.9.2022, https://www.dw.com/de/mobilmachung-in-russland-was-einberufene-erzählen/a-63283704, abgerufen am 6.2.2023; Redaktionsnetzwerk Deutschland, Putin räumt Fehler bei Teilmobilmachung ein, 30.9.2022, https://www.rnd.de/politik/putin-ueber-teilmobilmachung-fehler-muessen-korrigiert-werden-reservisten-muessen-teilweise-nach-ALHHTOX6AO4DVXE446FU25GBWA.html, abgerufen am 6.2.2023; n-tv, Russische Region schickt Tausende Rekruten nach Hause, 3.10.2022, https://www.n-tv.de/politik/Russische-Region-schickt-Tausende-Rekruten-nach-Hause-article23626608.html, abgerufen am 6.2.2023).
34
Vor diesem Hintergrund ist derzeit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die Russische Föderation zwangsweise zum Militär eingezogen werden würde. Zum einen ist die am 21. September 2022 begonnene Teilmobilisierungswelle inzwischen abgeschlossen. Auch wenn es keinen offiziellen Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation zur Beendigung der Teilmobilmachung gibt, ist es im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht absehbar, ob überhaupt und gegebenenfalls wann eine weitere Welle einer Mobilmachung stattfinden wird. Aus den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln ist auch nichts dafür ersichtlich, dass die Teilmobilmachung nach ihrem offiziellen Ende inoffiziell fortgesetzt und in relevantem Umfang in gleicher Weise Personen zum Militär zwangsrekrutiert würden (ebenso VG Potsdam, U.v. 15.11.2022 – 6 K 650/16.A – juris Rn. 31). Ob der Kläger möglicherweise in Tschetschenien aufgrund der dortigen besonderen Verhältnisse Gefahr liefe, zwangsweise zu den Streitkräften rekrutiert zu werden, kann hier dahinstehen. Es mag sein, dass dort durch das Oberhaupt der Tschetschenischen Republik, Kadyrow, und sein Regime auch durch massive Zwangsmaßnahmen Soldaten für den Kampf in der Ukraine rekrutiert werden (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: 1) Allgemeine Informationen zur russischen Armee und zur Wehrpflicht, Generalmobilmachung, Einberufung von Reservisten; 2) Einsatz von Wehrpflichtigen in der Ukraine; 3) Möglichkeiten von Zivildienst; 4) Weigerung an Kampfhandlungen teilzunehmen, Wehrdienstverweigerung, Desertion; 5) Einsatz von Männern aus Tschetschenien; 6) Sind die Soldatenmütter aktiv? [a-11873-2], vom 16.5.2022; The Danish Immigration Service, Brief Report – Russia – An update on military service since July 2022, Dezember 2022, S. 32 ff.). Allerdings bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Gefahr dem Kläger außerhalb von Tschetschenien drohen würde.
35
Auch aus der von Klägerseite vorgelegten Kopie einer Vorladung ergibt sich im Ergebnis nichts Anderes. Das Dokument wurde erst nach Ablauf der vom Gericht nach § 87b Abs. 2 VwGO für die Vorlage von (neuen) Unterlagen zu den Fluchtgründen vorgelegt. Weitere Ermittlungen zu seiner Echtheit sind schon deswegen nicht veranlasst, da sie die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würden, § 87b Abs. 3 VwGO. Selbst wenn die Vorladung echt sein sollte und – entgegen der geltenden Vorschriften (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt Russische Föderation vom 9.11.2022, S. 34) – nicht dem Kläger persönlich gegen seine Unterschrift, sondern Verwandten zugestellt worden sein sollte, ist nicht ersichtlich, dass er bereits damit gezwungen wäre, seinen Dienst in den russischen Streitkräften anzutreten. Insoweit handelt es sich lediglich um eine Vorladung zu einem Termin beim Militärkommissariat, bei dem das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen für die Einberufung zu prüfen wäre (The Danish Immigration Service, Brief Report – Russia – An update on military service since July 2022, Dezember 2022, S. 12). Zwar kann der Kläger nach eigenen Angaben Kampferfahrung durch die Teilnahme an den beiden Tschetschenienkriegen vorweisen. Allerdings hat er insoweit lediglich als einfacher Soldat auf tschetschenischer Seite gekämpft. Angesichts dessen, dass der Kläger sowohl die einschlägige Altersgrenze von 35 Jahren für Mannschaftsdienstgrade überschreitet und zudem nach eigenen Angaben zwei minderjährige Kinder von seiner bereits verstorbenen Frau zu versorgen hat, wäre auch nicht davon auszugehen, dass er im Rahmen der ersten Welle der Teilmobilisierung tatsächlich einberufen worden wäre. Vielmehr ist nach dem Eingeständnis von Fehlern bei der Rekrutierung durch die Staatsführung und dem darauffolgenden ersichtlichen Bemühen der Militärbehörden, die entsprechenden Vorgaben einzuhalten, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger entgegen der Rechtslage rekrutiert worden wäre (vgl. VG Potsdam, U.v. 15.11.2022 – 6 K 650/16.A – juris Rn. 27 m.w.N.). Erst recht kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger nach Abschluss der Teilmobilisierungswelle nunmehr noch nachträglich einberufen werden würde. Dass ihm nun allein aufgrund dessen, dass er den in der Vorladung genannten Termin am 29. September 2022 nicht wahrgenommen hat, eine strafrechtliche Verfolgung drohen würde, dürfte ebenfalls unwahrscheinlich sein. Strafrechtliche Folgen hat das Nichtbefolgen einer solchen Vorladung im Rahmen der Teilmobilisierung in aller Regel nicht, in der Praxis wurden allenfalls Geldbußen verhängt, die Drohung mit Freiheitsstrafen dient offenbar lediglich der Einschüchterung (The Danish Immigration Service, Brief Report – Russia – An update on military service since July 2022, Dezember 2022, S. 31).
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c) Die Voraussetzungen der Asylanerkennung gemäß Art. 16a Abs. 1 GG und der Zuerkennung des internationalen Schutzes gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unterscheiden sich lediglich dadurch, dass der Schutzbereich des internationalen Schutzes weiter gefasst ist. Die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter liegen somit nach Ablehnung des internationalen Schutzes ebenfalls nicht vor.
37
d) Der Kläger kann sich schließlich auch nicht auf das Bestehen von Abschiebungsverboten i.S.d. § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG berufen. Auch insoweit schließt sich das Gericht den zutreffenden Ausführungen in den Gründen des streitgegenständlichen Bescheids insbesondere auch zu den humanitären Bedingungen in der Russischen Föderation im Hinblick auf Art. 3 EMRK an, auf die Bezug genommen wird, § 77 Abs. 3 AsylG.
38
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben. Die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten richtet sich nach § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 der Zivilprozessordnung (ZPO). Der Einräumung einer Abwendungsbefugnis nach § 711 ZPO bedurfte es angesichts der – wenn überhaupt anfallenden – dann allenfalls geringen vorläufig vollstreckbaren Aufwendungen der Beklagten nicht, zumal diese auch die Rückzahlung garantieren kann, sollte in der Sache eventuell eine Entscheidung mit anderer Kostentragungspflicht ergehen. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG).