Inhalt

VG Bayreuth, Beschluss v. 19.01.2023 – B 9 E 23.10
Titel:

Verbindung eines Ratsbegehrens mit einem divergierenden Bürgerbegehren

Normenkette:
BayGO Art. 18a, Art. 56 Abs. 1 S. 2
Leitsätze:
1. Die Vertreter eines Bürgerbegehrens können sich nicht nur gem. Art. 18a Abs. 9 BayGO gegen beeinträchtigende Maßnahmen der Gemeinde im Vorfeld einer Abstimmung zur Wehr setzen, sondern müssen zur Sicherung eines fairen Verfahrensablaufs auch das Recht haben, ein konkurrierendes Ratsbegehren abzuwehren, wenn dieses so formuliert ist, dass damit die Entscheidungsfreiheit der Bürger bei der Abstimmung beeinträchtigt wird und damit auch die Erfolgsaussichten des Bürgerbegehrens geschmälert werden. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das aus dem Grundsatz der Abstimmungsfreiheit fließende und zugleich in Art. 56 Abs. 1 S. 2 BayGO für die gesamte gemeindliche Verwaltungstätigkeit gesetzlich verankerte Gebot der Sachlichkeit gilt nicht nur bei Bürgerentscheiden, die auf einem Bürgerbegehren beruhen, sondern auch bei solchen, denen ein Ratsbegehren zugrunde lag. Eine weitergehende Neutralitätspflicht, wie etwa bei kommunalen Wahlen, besteht indes nicht.  Die gemeindliche Darstellung darf informierend, wertend und meinungsbildend sein. Unzulässig sind aber unmittelbare Abstimmungsempfehlungen oder willkürliche, ungerechtfertigt herabsetzende und polemische Äußerungen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
3. Art. 18a Abs. 12 S. 3 BayGO regelt die Modalitäten, in welchem Fall ein Stichentscheid erforderlich ist. Kriterium hierfür ist die Möglichkeit, dass mehrere Fragen so beantwortet werden, dass die Antworten, also die Ergebnisse, nicht miteinander zu vereinbaren sind, also in unauflösbarem Widerspruch zueinander stehen. Dementsprechend ist die Stichfrage zu formulieren. Wird ein Ratsbegehren als Konkurrenzvorlage mit einem durch Bürgerbegehren initiierten Bürgerentscheid verbunden, hat dies trotz der Selbständigkeit der beiden Abstimmungen zur Folge, dass bei miteinander nicht zu vereinbarenden Fragestellungen eine Stichfrage zwingend vorgesehen ist (vgl. Art. 18a Abs. 12 S. 3 ff. BayGO). (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
vorläufiger Rechtsschutz gegen ein konkurrierendes Ratsbegehren, hinreichende Bestimmtheit des Ratsbegehrens, Sachlichkeitsgebot, Bürgerbegehren, Ratsbegehren, Bürgerentscheid, Bestimmtheit der Fragestellung, Koppelungsverbot, Abstimmungsfreiheit, Konkurrenzvorlage, Stichentscheid
Fundstelle:
BeckRS 2023, 2469

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner.
3. Der Streitwert wird auf 7.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragsteller wenden sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen ein konkurrierendes Ratsbegehren der Antragsgegnerin.
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Die Antragsteller sind Vertreter des Bürgerbegehrens „Erhalt des Naherholungsgebietes D. …S. … in seinem jetzigen Zustand“, dessen Zulässigkeit der Gemeinderat der Antragsgegnerin mit Beschluss vom 10. November 2022 feststellte. Die Fragestellung lautete: „Sind Sie dafür, dass die Gemeinde alle rechtlich zulässigen Maßnahmen ergreift, um die Grundstücke mit den Flurnummern … (TF), … (TF), … und … (TF) in ihrem jetzigen Zustand dauerhaft zu erhalten?“
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Ebenfalls mit Beschluss des Gemeinderats vom 10. November 2022 setzte die Antragsgegnerin dem Bürgerbegehren das Ratsbegehren „Ja zum Misch- und Gewerbegebiet“ mit folgender zunächst alternativ gestellter Frage entgegen: „Sind Sie dafür, dass sich die Gemeinde … zukunftssicher weiterentwickelt und das neue Misch- und Gewerbegebiet „S. …“ erschließt?“ Weiter wurde die Reihenfolge der Begehren (Bürgerentscheid 1: Ratsbegehren; Bürgerentscheid 2: Bürgerbegehren) sowie für den Fall sich widersprechender Entscheidungen der Bürger die Stichfrage bestimmt. Als Abstimmungstermin für den verbundenen Bürgerentscheid „Gewerbliche Baulandentwicklung“ wurde Sonntag, der 5. Februar 2023 im Zeitraum von 8:00 Uhr bis 18:00 Uhr festgelegt.
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Mit Schreiben der Antragsgegnerin vom 15. November 2022 wurden die Antragsteller über den Beschluss des Gemeinderats zur Zulassung des Bürgerbegehrens und den Zeitpunkt der Durchführung des Bürgerentscheids informiert. Die Abstimmungsbekanntmachung für die Bürgerentscheide erfolgte im Amtsblatt der Antragsgegnerin Nr. 51 vom 22. Dezember 2022.
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Mit Schriftsatz vom 3. Januar 2023, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am 4. Januar 2023, baten die Antragsteller um Überprüfung der Rechtsgültigkeit des Ratsbegehrens (Bürgerentscheid 1) der Antragsgegnerin.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Formulierung der Frage im Ratsbegehren (Bürgerentscheid 1) sei mit dem Begriff „zukunftssicher weiterentwickelt“ manipulativ und auch suggestiv. Vor dem Hintergrund des konkurrierenden Bürgerbegehrens, dessen Frage völlig neutral formuliert sei, sähen die Antragsteller durch die unsachliche Formulierung des Ratsbegehrens die Erfolgsaussichten ihres Bürgerbegehrens geschmälert. Die Bürgerinitiative „Erhalt des Naherholungsgebietes“ sei keinesfalls gegen die Entstehung eines Misch- und Gewerbegebiets. Sie befürworteten dies sogar, aber nicht an diesem Ort. Hier werde der Eindruck erweckt, sie seien gänzlich gegen ein Misch- und Gewerbegebiet. Gleiches treffe auf die Stichfrage zu, die als solche nicht konkret formuliert sei. Der verwechslungsfreie Begriff „S. …“ oder „D. …S. …“ fehle in der Überschrift des Bürgerentscheids 1. Zudem sei fraglich, ob es zulässig sei, die Entscheidung des Bürgerbegehrens 1 in zwei Teilfragen aufzugliedern. Vor Ersuchen um gerichtlichen Rechtsschutz sei kein Antrag bei der Antragsgegnerin oder der Rechtsaufsichtsbehörde gestellt worden, allerdings sei fast immer mindestens ein Vertreter der Bürgerinitiative bei den letzten Gemeinderatssitzungen anwesend gewesen. Wortmeldungen seien dort jedoch nicht zugelassen worden. Der in der Gemeinderatssitzung vom 10. November 2022 gefasste Beschluss habe zwei alternative Fragestellungen für das Ratsbegehren enthalten. Nachdem der Stimmzettel mit dem tatsächlichen Wortlaut im Amtsblatt der Antragsgegnerin erst am 22. Dezember 2022 veröffentlicht worden sei, hätte die Zeit gedrängt, so dass sich die Antragsteller direkt ans Gericht gewandt hätten.
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Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz ihres Proessbevollmächtigten vom 10. Januar 2023, den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, den Antragstellern stehe kein Recht zu, aufgrund dessen die Durchführung des auf dem Ratsbegehren beruhenden Bürgerentscheids verhindert werden könnte. Die Durchführung eines konkurrierenden Ratsbegehrens sei für sich genommen schon keine dem Bürgerbegehren entgegenstehende Entscheidung, welche einer Sperrwirkung des Bürgerbegehrens aus Art. 18a Abs. 9 der Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern (Gemeindeordnung – GO) widersprechen würde. Der Gesetzgeber selbst habe die Möglichkeit der Konkurrenz von Bürgerbegehren und Ratsbegehren gesehen und diese ausdrücklich gebilligt. Dies ergebe sich insbesondere aus Art. 18a Abs. 12 Satz 3 GO, dem Stichentscheid. Durch das konkurrierende Ratsbegehren werde auch nicht das Recht der Vertreter des Bürgerbegehrens zur Sicherung eines fairen Verfahrensablaufs verletzt. Das Ratsbegehren sei so formuliert, dass die gesetzlichen Anforderungen des Art. 18a GO gewahrt würden. Insbesondere sei die Entscheidungsfreiheit der Bürger bei der Abstimmung nicht beeinträchtigt, so dass auch nicht die Erfolgsaussichten des Bürgerbegehrens der Antragsteller geschmälert werden könnten. Die Fragestellung des Ratsbegehrens sei weder manipulativ noch suggestiv gestellt. Sie ziele einzig darauf ab, ob das konkret geplante Misch- und Gewerbegebiet „S. …“ weitergeplant oder nicht geplant werden solle. Ebenso sei das Ratsbegehren hinreichend bestimmt, da die abstimmenden Bürger die wesentlichen Grundzüge erkennen könnten und wüssten, wofür und wogegen sie stimmen würden. Die Begrifflichkeit „S. …“ sei der breiten Bevölkerung durch die vorangegangenen Bauleitplanverfahren bekannt. Es werde auch nicht der Eindruck erweckt, dass die Vertreter des Bürgerbegehrens generell gegen Misch- und Gewerbegebiete seien, da der Begriff „S. …“ das Vorhaben konkretisiere.
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Ergänzend wird entsprechend § 117 Abs. 3 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
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1. Der vorliegende Antrag ist nach § 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO sachgerecht dahingehend auszulegen, dass die Antragsteller die Absetzung der für den 5. Februar 2023 anberaumten Abstimmung über das Ratsbegehren (Bürgerentscheid 1) und die Stichfrage bzw. hilfsweise die Änderung der Formulierung des Ratsbegehrens (Bürgerentscheid 1) und der Stichfrage begehren.
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2. Der so verstandene Antrag gemäß § 123 VwGO ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.
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Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn die Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Eine der Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist mit Blick auf die erforderliche Antragsbefugnis, dass das Vorliegen eines Rechts, dessen Sicherung die Anordnung dienen soll (Anordnungsanspruch), sowie die drohende Vereitelung oder Erschwerung dieses Anspruchs (Anordnungsgrund), geltend gemacht werden können. Im Hinblick auf die durch Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (GG) gewährleistete Garantie effektiven Rechtsschutzes ist der Antrag begründet, wenn das Vorliegen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund auch hinreichend wahrscheinlich ist; diese Voraussetzungen sind gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 der Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen.
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a) Die Antragsteller haben die gebotene Eilbedürftigkeit sowie einen im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO sicherbaren Anordnungsanspruch geltend gemacht.
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Die Vertreter eines Bürgerbegehrens können sich nicht nur gemäß Art. 18a Abs. 9 GO gegen beeinträchtigende Maßnahmen der Gemeinde im Vorfeld einer Abstimmung zur Wehr setzen, sondern müssen zur Sicherung eines fairen Verfahrensablaufs auch das Recht haben, ein konkurrierendes Ratsbegehren abzuwehren, wenn dieses so formuliert ist, dass damit die Entscheidungsfreiheit der Bürger bei der Abstimmung beeinträchtigt wird und damit auch die Erfolgsaussichten des Bürgerbegehrens geschmälert werden (BayVGH, B.v. 1.3.2018 – 4 CE 18.495 – juris Rn. 7).
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b) Den Antragstellern fehlt auch nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.
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Angesichts der Umstände des konkreten Einzelfalls war es nach Überzeugung des Gerichts unschädlich, dass die Antragsteller ihr Anliegen vor der Anrufung des Verwaltungsgerichts nicht bei der Antragsgegnerin bzw. dem Landratsamt … als Rechtsaufsichtsbehörde geltend gemacht haben. Die Frage, ob dies geschehen muss, entzieht sich einer pauschalen Beantwortung (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 34). Zumindest in aller Regel ist eine Vorbefassung der zuständigen Behörde mit dem gemäß § 123 VwGO zu sichernden Begehren dann erforderlich, wenn das materielle Recht eine Antragstellung bei der öffentlichen Verwaltung vorschreibt; dies ist hier nicht der Fall. Ansonsten besitzt ein Antragsteller, der sein Anliegen nicht zuvor an die öffentliche Verwaltung herangetragen hat, ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Anrufung des Gerichts im Verfahren nach § 123 VwGO dann, wenn ausreichend gewichtige Anhaltspunkte dafür sprechen, dass die zuständige Behörde seinem Begehren entweder nicht oder nicht innerhalb der Zeitspanne entsprochen hätte, nach deren Ablauf dem Rechtsschutzsuchenden diejenigen Nachteile drohen, die mit der beantragten einstweiligen Anordnung abgewehrt werden sollen (BayVGH, B.v. 28.5.2018 – 22 CE 17.2260 – juris Rn. 74).
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Nach dem Vortrag der Antragsteller seien Wortmeldungen von Zuschauern bei den Gemeinderatssitzungen, in denen das Ratsbegehren thematisiert worden war, nicht zugelassen worden. Somit kann ihnen nicht vorgehalten werden, ihr Anliegen dort nicht geäußert zu haben. Hinzu kommt, dass in der Gemeinderatssitzung vom 10. November 2022 zwei alternative Fragestellungen für das Ratsbegehren beschlossen worden waren und sich die tatsächliche Formulierung erst aus der Abstimmungsbekanntmachung im Amtsblatt der Antragsgegnerin vom 22. Dezember 2022 ergab. Bis zum Abstimmungstermin am 5. Februar 2023, mit dem sich ihr Begehren erledigt hätte, stand den Antragstellern – insbesondere unter Berücksichtigung des Umstands, dass sich zunächst die Weihnachtsfeiertage und schließlich Neujahr anschloss – nur begrenzt Zeit zur Verfügung. Weiter konnte es als ausgeschlossen gelten, dass die Antragsgegnerin den Abstimmungstermin über das von ihr initiierte Ratsbegehren abgesetzt bzw. dessen Formulierung geändert hätte, hätten die Antragsteller dieses Begehren vor Beschreiten des Rechtswegs dort angemeldet. Denn die Verwaltung der Antragsgegnerin hatte die Fragestellung ihren eigenen Angaben zufolge im Vorfeld mit der Kommunalaufsicht des Landkreises … besprochen, welche keine Bedenken geäußert hatte, und bereits die Versendung der Wahlunterlagen vorbereitet bzw. durchgeführt.
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3. Der Antrag ist jedoch unbegründet, denn die Antragsteller konnten den erforderlichen Anordnungsanspruch nach der im vorliegenden Eilverfahren gebotenen und auch nur möglichen summarischen Prüfung des Gerichts nicht hinreichend glaubhaft machen.
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Den Antragstellern steht weder ein Recht auf Absetzung des Termins zur Abstimmung über das Ratsbegehren (Bürgerentscheid 1) und die Stichfrage noch auf Abänderung der Formulierung des Ratsbegehrens (Bürgerentscheid 1) oder der Stichfrage zu.
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a) Es sind keine durchgreifenden Bedenken gegen die Bestimmtheit des Ratsbegehrens (Bürgerentscheid 1), insbesondere gegen die darin verwendete Formulierung „zukunftssicher weiterentwickelt“ ersichtlich.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs setzt die Zulassung eines Bürgerbegehrens voraus, dass die mit diesem unterbreitete Fragestellung ausreichend bestimmt ist. Dies ergibt sich auch aus § 2 Abs. 2 der Satzung zur Durchführung von Bürgerentscheiden in der Gemeinde … vom 15. November 2022 (Bürgerentscheidsatzung – BES). Dazu ist zwar nicht erforderlich, dass die Fragestellung so konkret ist, dass es zur Umsetzung des Bürgerentscheids nur noch des Vollzugs durch den Bürgermeister bedarf; durch einen Bürgerentscheid können durchaus auch Grundsatzentscheidungen getroffen werden, die noch durch Detailentscheidungen im Kompetenzbereich des Gemeinderats ausgefüllt werden müssen. Andererseits muss die Fragestellung so bestimmt sein, dass die Bürger erkennen können, für oder gegen was sie ihre Stimme abgeben. Es muss mit anderen Worten erkennbar sein, welchen Inhalt die spätere, durch den Bürgerentscheid herbeizuführende Entscheidung haben wird; denn nur dann ist sie hinreichend direktdemokratisch legitimiert. Da der mit einem Bürgerbegehren herbeigeführte Bürgerentscheid nach Art. 18a Abs. 13 Satz 1 GO dieselben Wirkungen wie ein Gemeinderatsbeschluss hat, muss die zu entscheidende Fragestellung – nur, aber auch – so konkret sein, wie ein Gemeinderatsbeschluss selbst (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 8.4.2005 – 4 ZB 04.1264 – juris Rn. 10 m.w.N.). Dies gilt entsprechend für das hier vorliegende Ratsbegehren nach Art. 18a Abs. 2 GO (VG Augsburg, B.v. 26.10.2010 – Au 7 E 10.1680 – juris Rn. 23).
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Der vorangestellte Halbsatz der Fragestellung des Ratsbegehrens „Sind Sie dafür, dass sich die Gemeinde … zukunftsfähig weiterentwickelt“ ist zwar sehr allgemein formuliert, ohne dass sich daraus ein konkreter Handlungsauftrag an die Antragsgegnerin ergibt. Allerdings ist dieser dem sich unmittelbar anschließenden zweiten Halbsatz „und das neue Misch- und Gewerbegebiet „S. …“ erschließt“ zu entnehmen, der konkretisiert, in welcher Form die zukunftsfähige Weiterentwicklung erfolgen sollte. Damit ist für die abstimmenden Bürger bei gemeinsamer Betrachtung der beiden Teilfragen ausreichend erkennbar, welchen Inhalt die durch den Bürgerentscheid 1 herbeigeführte Entscheidung haben wird. Letztlich handelt es sich bei dem vorangestellten Halbsatz nur um eine kommunalpolitische Absicht der Ratsmehrheit (vgl. BayVGH, B.v. 1.3.2018 – 4 CE 18.495 – juris Rn. 13) bzw. das hervorgehobene Motiv für die Bejahung der folgenden Frage, welches weder die Bestimmtheit der Fragestellung beseitigt noch die eigenständige Funktion der Begründung zum Ratsbegehren wesentlich beeinträchtigt (BayVGH, U.v. 16.3.2001 – 4 B 99.318 – juris Rn. 33 m.w.N.). Da auch der erste Halbsatz eine mit Ja oder Nein zu beantwortende Fragestellung enthält, kommt es auf die Entscheidung der in der Rechtsprechung noch offenen Frage, ob werbende Begründungszusätze in der Fragestellung auch dann auf dem Stimmzettel abzudrucken sind, wenn dem Gesetzeswortlaut in Art. 18a Abs. 4 Satz 1 GO nicht hinreichend Rechnung getragen wird (vgl. Thum, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Bayern, Stand: 1.11.2022, Erl. 8 d) bb) zu Art. 18a Abs. 4 GO), vorliegend nicht an.
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b) Die Fragestellung des Ratsbegehrens (Bürgerentscheid 1) verstößt auch nicht gegen das Koppelungsverbot.
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Die in § 2 Abs. 2 BES bzw. Art. 18a Abs. 4 Satz 1 GO enthaltene Vorgabe, wonach das Bürgerbegehren „eine“ Fragestellung enthalten muss, lässt zwar die Zusammenfassung mehrerer Teilfragen oder -maßnahmen zu einem einheitlichen Abstimmungsgegenstand zu, verbietet aber die Koppelung sachlich nicht zusammenhängender Materien in ein und derselben Fragestellung (vgl. BayVGH, U.v. 25.7.2007 – 4 BV 06.1438 – BayVBl 2008, 82). Denn die aus dem demokratischen Mitwirkungsrecht des Bürgers (Art. 7 Abs. 2 der Verfassung des Freistaats Bayern – BV) folgende Abstimmungsfreiheit wäre beeinträchtigt, wenn über mehrere Regelungsvorschläge, die in keinem Sachzusammenhang zueinander stehen, nur „im Paket“ abgestimmt werden könnte. Dieser ursprünglich für Volksbegehren entwickelte Grundsatz (vgl. VerfGH, E.v. 24.2.2000 – Vf. 112-IX-99 – VerfGH 53, 23/29 ff.) muss in gleicher Weise für Bürgerbegehren wie auch für Ratsbegehren gelten (vgl. BayVGH, U.v. 17.5.2017 – 4 B 16.1856 – juris Rn. 27).
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Vorliegend hängen die beiden zu einer Frage gebündelten Teilfragen des Ratsbegehrens (Bürgerentscheid 1) nach objektiver Beurteilung eng zusammen und bilden eine einheitlich abgrenzbare Materie. In welcher Weise die zukunftsfähige Weiterentwicklung der Antragsgegnerin geschehen soll, wird im anschließenden zweiten Halbsatz dahingehend konkretisiert, dass das Misch- und Gewerbegebiet „S. …“ erschlossen werden soll. Damit besteht zwischen den beiden Teilfragen, von denen die erste ein hervorgehobenes Motiv für die Bejahung der zweiten Frage darstellt (vgl. hierzu die Ausführungen zur Bestimmtheit der Fragestellung unter a), eine inhaltliche und nicht nur eine rein formale Verbindung. Der Bürger wird in die Lage versetzt, über die gestellten Fragen im Ganzen einheitlich zu entscheiden, so dass den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 BES bzw. Art. 18a Abs. 4 Satz 1 GO Genüge getan ist (vgl. BayVGH, U.v. 25.7.2007 – 4 BV 06.1438 – BayVBl 2008, 82).
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c) Mit der Formulierung des Ratsbegehrens (Bürgerentscheid 1) wird nicht in einer dem Sachlichkeitsgebot widersprechenden Weise auf die Abstimmungsfreiheit der Bürger eingewirkt.
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Das aus dem Grundsatz der Abstimmungsfreiheit fließende und zugleich in Art. 56 Abs. 1 Satz 2 GO für die gesamte gemeindliche Verwaltungstätigkeit gesetzlich verankerte Gebot der Sachlichkeit gilt nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (B.v. 10.1.2000 – 4 ZE 99.3678 – NVwZ 2000, 454) nicht nur bei Bürgerentscheiden, die auf einem Bürgerbegehren beruhen, sondern auch bei solchen, denen ein Ratsbegehren zugrunde lag. Eine weitergehende Neutralitätspflicht, wie etwa bei kommunalen Wahlen, besteht indessen nicht. Insbesondere ist Art. 20 des Gesetzes über die Wahl der Gemeinderäte, der Bürgermeister, der Kreistage und der Landräte (Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz – GLKrWG) auf Bürgerentscheide nicht unmittelbar anwendbar, da Art. 18a GO keine Verweisung auf kommunalwahlrechtliche Bestimmungen enthält (zur Frage der analogen Anwendung BayVGH, B.v. 17.3.1997 – 4 ZE 97.874 – BayVBl 1997, 435). Die gemeindliche Darstellung darf informierend, wertend und meinungsbildend sein. Sie kann auch herausstellen, welche Sachentscheidung bevorzugt wird. Unzulässig wären aber unmittelbare Abstimmungsempfehlungen oder willkürliche, ungerechtfertigt herabsetzende und polemische Äußerungen (Thum, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Bayern, Stand: 1.11.2022, Erl. 8 a) aa) zu Art. 18a Abs. 15 GO).
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Gemessen an diesen Grundsätzen liegt eine die Abstimmungsfreiheit beeinträchtigende Abstimmungsbeeinflussung hier nicht vor. Insbesondere steht der werbende Charakter des ersten Halbsatzes der Fragestellung des Ratsbegehrens (Bürgerentscheid 1), der die grundsätzlich positiv konnotierte zukunftssichere Weiterentwicklung der Antragsgegnerin zum Gegenstand hat, dem Sachlichkeitsgebot nicht entgegen. Mit der Entscheidung für das Ratsbegehren nach Art. 18a Abs. 2 GO ist der Gemeinderat der Antragsgegnerin in unmittelbare Konkurrenz zu dem Bürgerbegehren getreten. Diese besondere Konkurrenzsituation führt dazu, dass die Gemeinde für ihr Ratsbegehren ebenso wie die privaten Initiatoren für ihr Bürgerbegehren werben darf (BayVGH, B.v. 25.9.2009 – 4 CE 09.2403 – juris Rn. 10). Dass die Fragestellung des Bürgerbegehrens (Bürgerentscheid 2) keine werbenden Elemente oder Begründungszusätze enthält, mögen die Antragsteller als Benachteiligung des Bürgerbegehrens empfinden, ändert jedoch nichts an der Beurteilung der Formulierung des Ratsbegehrens (Bürgerentscheid 1), zumal dadurch das Bürgerbegehren (Bürgerentscheid 2) nicht diskreditiert wird. Auch ist die Fragestellung weder extrem übertrieben noch reißerisch oder gar irreführend formuliert. Außerdem wird mit der allgemein gehaltenen Formulierung der zukunftssicheren Weiterentwicklung kein konkret zu erwartender Erfolg suggeriert. Letztlich spiegelt sich darin lediglich die kommunalpolitische Absicht der Ratsmehrheit wider, was keine unzulässige Einwirkung auf die Abstimmungsfreiheit der Bürger darstellt (vgl. BayVGH, B.v. 1.3.2018 – 4 CE 18.495 – juris Rn. 13). Konkretisiert und zur Abstimmung gestellt wird diese Absicht dann im zweiten Halbsatz des Ratsbegehrens (Bürgerentscheid 1).
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d) Auch der Titel des Ratsbegehrens (Bürgerentscheid 1) „Ja zum Misch- und Gewerbegebiet“ ist nicht irreführend.
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Hierbei kann offen bleiben, ob das für die Begründung eines Bürgerbegehrens entwickelte Verbot der Irreführung, das nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs auch für die Fragestellung von Bürgerbegehren bzw. Ratsbegehren gilt (vgl. BayVGH, B.v. 20.12.2021 – 4 CE 21.2576 – juris Rn. 29), ebenso bezüglich des auf dem Stimmzettel abgedruckten Titels des Ratsbegehrens (Bürgerentscheid 1) Anwendung findet. Denn die Bürger haben im Rahmen des Ratsbegehrens (Bürgerentscheid 1) unmissverständlich die Frage zu beantworten, ob sie für die Erschließung des neuen Misch- und Gewerbegebiets „S. …“ sind. In Zusammenschau mit dieser Fragestellung, wo ausdrücklich vom Misch- und Gewerbegebiet „S. …“ die Rede ist, ist genau dieses und eben nicht ein Misch- und Gewerbegebiet an anderer Stelle gemeint. Angesichts dessen kann der Ansicht der Antragsteller, das Ratsbegehren erwecke den Eindruck, sie seien grundsätzlich gegen die Entstehung eines Misch- und Gewerbegebiets, nicht gefolgt werden. Aus dem Titel des Bürgerbegehrens (Bürgerentscheid 2) ergibt sich ihr wesentliches Ziel „Erhalt des Naherholungsgebiets D. …S. … in seinem jetzigen Zustand“.
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e) Ebenso greift die von den Antragstellern vorgebrachte Rüge der Stichfrage zu den Bürgerentscheiden 1 und 2 nicht durch.
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§ 8 Abs. 2 BES bzw. Art. 18a Abs. 12 Satz 3 GO regeln die Modalitäten, in welchem Fall ein Stichentscheid erforderlich ist. Kriterium hierfür ist die Möglichkeit, dass mehrere Fragen so beantwortet werden, dass die Antworten, also die Ergebnisse, nicht miteinander zu vereinbaren sind, mithin in unauflösbarem Widerspruch zueinander stehen. Dementsprechend ist die Stichfrage zu formulieren (VG Würzburg, B.v. 9.9.2004 – W 2 E 04.1099 – juris Rn. 57 f.). Wird – wie vorliegend – ein Ratsbegehren als Konkurrenzvorlage mit einem durch Bürgerbegehren initiierten Bürgerentscheid verbunden, hat dies trotz der Selbständigkeit der beiden Abstimmungen zur Folge, dass bei miteinander nicht zu vereinbarenden Fragestellungen eine Stichfrage zwingend vorgesehen ist (vgl. Art. 18a Abs. 12 Satz 3 ff. GO).
33
Hier entsteht ein unauflösbarer Widerspruch, wenn beide Bürgerentscheide mehrheitlich mit Ja beantwortet würden, denn die Antragsgegnerin kann entweder das neue Misch- und Gewerbegebiet „S. …“ erschließen oder das Naherholungsgebiet „D. …S. …“ in seinem jetzigen Zustand dauerhaft erhalten. Beide Vorhaben sind nicht miteinander in Einklang zu bringen. Den Anforderungen an die Formulierung der Stichfrage wird die Antragsgegnerin gerecht, indem sie fragt, welche Entscheidung für den Fall gelten solle, dass die bei den Bürgerentscheiden 1 und 2 zur Abstimmung gestellten Fragen in einer nicht miteinander zu vereinbarenden Weise jeweils mehrheitlich mit Ja beantwortet werden (vgl. zur Stimmzettelgestaltung Thum, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Bayern, Stand: 1.11.2022, 35.20). Was den in der Stichfrage nochmals aufgeführten Titel des Ratsbegehrens (Bürgerentscheid 1) anbelangt, ist auf die Ausführungen unter d) zu verweisen.
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Da demnach weder rechtliche Bedenken gegen das anberaumte Ratsbegehren (Bürgerentscheid 1) noch gegen die Stichfrage bestehen, kann der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung keinen Erfolg haben.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO.
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5. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) i.V.m. Nr. 1.5 und 22.6 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (NVwZ-Beilage 2013, 57).