Titel:
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen amtsgerichtliche Erinnerungsentscheidung im Kostenfestsetzungsverfahren
Normenketten:
BV Art. 118 Abs. 1
StPO § 464a Abs. 2
Leitsätze:
Aufhebung einer amtsgerichtlichen Entscheidung über die Festsetzung der notwendigen Auslagen (§ 464 a Abs. 2 StPO) eines freigesprochenen Angeklagten wegen Verletzung des Willkürverbots (Art. 118 Abs. 1 BV). (Rn. 4 – 6)
Eine gerichtliche Entscheidung ist willkürlich, wenn sie unter keinem Gesichtspunkt tragfähig ist und auch keine eingehende Auseinandersetzung mit der Rechtslage stattfindet, die sie verständlich machen könnte. (Rn. 22 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Willkür, Rechtsanwalt, notwendige Auslagen, Fahrtkosten, Sitz "am dritten Ort", Gerichtsbezirk, Gerichtsort
Vorinstanz:
AG Rosenheim, Beschluss vom 09.08.2022 – 12 Cs 402 Js 39459/20
Fundstellen:
RPfleger 2024, 164
StV Spezial 2024, 79
LSK 2023, 24676
BeckRS 2023, 24676
Tenor
1. Der Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 9. August 2022 Az. 12 Cs 402 Js 39459/20 verstößt gegen Art. 118 Abs. 1 BV. Er wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über die Erinnerung an das Amtsgericht Rosenheim zurückverwiesen.
2. Dem Beschwerdeführer sind die durch das Verfassungsbeschwerdeverfahren verursachten notwendigen Auslagen aus der Staatskasse zu erstatten.
Entscheidungsgründe
1
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen den Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 9. August 2022 Az. 12 Cs 402 Js 39459/20, mit dem die Erinnerung des Beschwerdeführers gegen einen Kostenfestsetzungsbeschluss in einem Strafverfahren zurückgewiesen wurde.
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1. Im November 2020 leitete die Staatsanwaltschaft Traunstein (Zweigstelle Rosenheim) gegen den Beschwerdeführer ein Ermittlungsverfahren u. a. wegen des Tatvorwurfs der Bedrohung (§ 241 StGB) ein.
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Mit Schreiben vom 28. Dezember 2020 zeigte Rechtsanwalt Dr. P. (im Folgenden: Verteidiger), der auch Bevollmächtigter des Beschwerdeführers im hiesigen Verfassungsbeschwerdeverfahren ist, gegenüber der Staatsanwaltschaft an, dass er den Beschwerdeführer verteidige und stellte die Beschuldigungen in Abrede.
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das Amtsgericht Rosenheim am 15. Februar 2021 einen Strafbefehl gegen den Beschwerdeführer wegen zweier tatmehrheitlicher Fälle der Bedrohung, in einem Fall in Tateinheit mit versuchter Nötigung, mit dem eine Gesamtgeldstrafe in Höhe von 60 Tagessätzen zu je 40 € verhängt wurde. Dem Beschwerdeführer wurde u. a. zur Last gelegt, gegenüber seiner ehemaligen Lebensgefährtin telefonisch Todesdrohungen geäußert zu haben, um sie zur Fortsetzung der Beziehung zu ihm zu bewegen. Mit am 5. März 2021 beim Amtsgericht eingegangenen Schreiben legte der Verteidiger im Namen des Beschwerdeführers Einspruch gegen den Strafbefehl ein und beantragte Nachermittlungen. Nachdem zwischenzeitliche Bemühungen um eine Verfahrenseinstellung nach § 153 a Abs. 2 StPO gescheitert waren, führte das Amtsgericht Rosenheim am 12. April 2022 eine Hauptverhandlung durch, an der der Beschwerdeführer und der Verteidiger teilnahmen. Das Amtsgericht sprach den Beschwerdeführer frei und erlegte die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers der Staatskasse auf. Das Urteil wurde am 20. April 2022 rechtskräftig.
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2. Mit Schreiben vom 25. April 2022 beantragte der Verteidiger des Beschwerdeführers die Festsetzung der diesem erwachsenen notwendigen Auslagen gemäß § 464 a Abs. 2 StPO. Neben Verteidigerkosten i. H. v. insgesamt 1.161,06 € wurden 171 € für persönliche Auslagen des Beschwerdeführers geltend gemacht. Diese setzten sich aus dem Zeitaufwand zur Wahrnehmung der Hauptverhandlung (50 €), Kosten für zwei Fahrten zur Besprechung in die Kanzlei des Verteidigers (21 €) sowie dem Zeitaufwand hierfür von zweimal zwei Stunden à 25 € (100 €) zusammen.
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Der Bezirksrevisor nahm am 12. Mai 2022 zum Festsetzungsantrag Stellung. Zu den persönlichen Auslagen des Beschwerdeführers wurde ausgeführt, dass Reisekosten der Partei für eine erste Informationsreise zu ihrem Rechtsanwalt nur dann zu den erstattungsfähigen Kosten im Sinn von § 464 a Abs. 2 Nr. 1 StPO zählten, wenn der Rechtsanwalt nicht am Wohnort der Partei ansässig sei und durch die Informationsreise der Partei „anderenfalls zu erstattende Terminsreisekosten des Rechtsanwalts erspart“ worden seien. Diese Konstellation liege nicht vor; es sei ein Verteidiger „am dritten Ort“ beauftragt worden, obwohl der Betroffene seinen Wohnsitz am Gerichtsort habe. Dies liege im Ermessen des Betroffenen und dürfe ihm nicht abgesprochen werden; davon zu unterscheiden sei jedoch die Frage, ob hierdurch entstandene Mehrkosten von der Staatskasse zu erstatten seien. Dies sei zu verneinen, „da durch die Beauftragung der Verteidigerin am dritten Ort gerade keine Terminsreisekosten der Rechtsanwältin erspart [worden seien] (sondern im Falle einer mündlichen Verhandlung angefallen wären, was bei Beauftragung eines Verteidigers am Wohnort des Betroffenen nicht der Fall gewesen wäre)“. Die geltend gemachten Positionen „für die Informationsreise“ könnten keine Berücksichtigung finden, „da kein Gerichtstermin stattgefunden“ habe. Ergänzend werde auf den Beschluss des LG Potsdam vom 22. Februar 2013 Az. 24 Qs 177/12 verwiesen, wonach Informationsreisekosten des Betroffenen nur dann erstattet werden könnten, wenn der Betroffene nicht am Prozessort wohne und er zur Beauftragung eines Verteidigers dorthin habe reisen müssen, was vorliegend nicht gegeben sei, da der Beschwerdeführer in Rosenheim wohne. Die für die Besprechungen in der Kanzlei „der Verteidigerin“ geltend gemachten Fahrtkosten und die Entschädigung für den diesbezüglichen Zeitaufwand könnten daher nicht festgesetzt werden.
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Hierzu führte der Verteidiger mit Schreiben vom 2. Juni 2022 u. a. aus, er bitte um Überprüfung der Stellungnahme vom 12. Mai 2022. Diese mache den Eindruck, als sei sie aus Textbausteinen anderer Verfahren zusammengesetzt. So sei mehrfach davon die Rede, dass der Beschwerdeführer einen Rechtsanwalt an einem dritten Ort beauftragt habe, sodass die Fahrtkosten nicht erstattungsfähig seien. Ein dritter Ort liege aber nicht vor; die Kanzlei des Verteidigers befinde sich in B., der Wohnsitz und der Ort der Gerichtsverhandlung in Rosenheim, sodass zwei, nicht drei Orte vorlägen. Des Weiteren sei mehrfach von einer Verteidigerin die Rede, die es nicht gegeben habe. Außerdem sei nicht verständlich, wieso die Berücksichtigung der Informationsreisen daran scheitern solle, dass kein Gerichtstermin stattgefunden habe; ein solcher habe sehr wohl am 12. April 2022 stattgefunden. Ergänzend werde auf die Kommentierung bei Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 464 a StPO Rn. 15 verwiesen, wonach „Kosten des Freigesprochenen zum Verteidiger“ entsprechend §§ 5, 6 JVEG zu erstatten seien.
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Mit Schreiben vom 13. Juni 2022 nahm der Bezirksrevisor dazu Stellung und führte u. a. aus, dass es sich bei der Verwendung der Bezeichnung „Verteidigerin“ um ein Versehen handle. Wie der Verteidiger selbst mitteile, habe der Beschwerdeführer seinen Wohnort am Gerichtsort Rosenheim. Da durch die Beauftragung eines Verteidigers „am sog. dritten Ort“ B. (hier könne auch von einem „zweiten Ort“ gesprochen werden) keine Terminsreisekosten des Rechtsanwalts zum Gerichtstermin erspart worden seien, stellten die Aufwendungen für die Informationsreisen keine notwendigen Auslagen dar.
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Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 1. Juli 2022 setzte das Amtsgericht Rosenheim – Rechtspflegerin – die aus der Staatskasse zu erstattenden notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers auf 1.211,06 € fest. Dabei wurden die geltend gemachten Verteidigerkosten i. H. v. insgesamt 1.161,06 € voll berücksichtigt. Bei den persönlichen Auslagen des Beschwerdeführers wurden hingegen nur die für den Zeitaufwand für die Hauptverhandlung geltend gemachten 50 €, nicht hingegen die Fahrtkosten (21 €) und der Zeitaufwand (100 € für zweimal zwei Stunden) für Fahrten zur Besprechung in die Kanzlei des Verteidigers als erstattungsfähig anerkannt. Zur Begründung der Ablehnung wurden die oben dargestellten einschlägigen Passagen aus den Stellungnahmen des Bezirksrevisors vom 12. Mai und 13. Juni 2022 textidentisch in die Gründe des Kostenfeststellungsbeschlusses übernommen.
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Der Verteidiger legte gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss vom 1. Juli 2022 am 12. Juli 2022 befristete Erinnerung ein und beantragte, diesen in der Sache dahingehend abzuändern und zu ergänzen, dass dem Beschwerdeführer weitere 121 € an notwendigen Auslagen aus der Staatskasse zu erstatten seien. Zur Begründung führte er u. a. aus, notwendige Auslagen des freigesprochenen Angeklagten seien unter anderem Aufwendungen für Besprechungsreisen zu dessen Verteidiger. Dies könne insbesondere dann nicht zweifelhaft sein, wenn ein Betroffener einen Anwalt aus seinem Amtsgerichtsbezirk wähle. Eine verengende Sichtweise würde gegen den Grundsatz der freien Anwaltswahl verstoßen. Zudem sei der Ansatz von nur zwei Besprechungsreisen angesichts des sich über fast eineinhalb Jahre hinziehenden Verfahrens äußerst maßvoll.
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Mit Beschluss vom 2. August 2022 half die Rechtspflegerin der Erinnerung nicht ab und legte die Akte der zuständigen Richterin zur Entscheidung vor. Begründet wurde dies damit, dass der Beschwerdeführer seinen Wohnort am Gerichtsort Rosenheim habe. Durch die Beauftragung eines Verteidigers in B. seien keine Terminsreisekosten des Rechtsanwalts zum Gerichtstermin am Amtsgericht Rosenheim erspart worden. Die Aufwendungen des Beschwerdeführers für die Informationsreisen zu seinem Rechtsanwalt stellten daher keine notwendigen Auslagen dar und seien folglich nicht zu erstatten. Im Übrigen werde auf die Begründung im angefochtenen Kostenfestsetzungsbeschluss vom 1. Juli 2022 Bezug genommen.
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3. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 9. August 2022 wies das Amtsgericht Rosenheim die Erinnerung gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss „aus dessen zutreffenden Gründen“ zurück und erlegte die durch das Erinnerungsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse nicht auf.
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In den Gründen des Beschlusses wird ausgeführt, der Angeklagte habe seinen Wohnort am Gerichtsort Rosenheim. Durch die Beauftragung eines Verteidigers in B. seien keine Terminsreisekosten des Rechtsanwalts zum Gerichtstermin am Amtsgericht Rosenheim erspart worden. Die Aufwendungen des Beschwerdeführers für die Informationsreisen zu seinem Rechtsanwalt stellten daher keine notwendigen Auslagen dar und seien folglich nicht zu erstatten. Die geltend gemachten Aufwendungen für Reisekosten des Angeklagten könnten nur erstattet werden, „wenn der Betroffene nicht am Prozessort wohnen würde und er zur Beauftragung des Rechtsanwalts dorthin reisen müsste (Vgl. Zöller, ZPO, 32. Auflage, § 91 Rn. 13, Beschluss des LG Potsdam vom 22.02.2013, Az.: 24 Qs 177/12)“, was vorliegend nicht der Fall sei.
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Der Beschluss wurde dem Verteidiger des Beschwerdeführers unter Aufgabe zur Post am 10. August 2022 formlos mitgeteilt. Dieser erhielt ihn nach seinen Angaben am 18. August 2022.
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1. Mit der am 17. Oktober 2022 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen das Willkürverbot (Art. 118 Abs. 1 BV).
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Zur Begründung führt er insbesondere aus, die Erstattungsfähigkeit von Auslagen eines freigesprochenen Angeklagten zur Wahrnehmung von Besprechungsterminen bei seinem Verteidiger könne schon rein denkgesetzlich nicht davon abhängen, ob Terminsreisekosten des Rechtsanwalts zum Gericht anfielen oder nicht. Terminsreisekosten des Anwalts fielen unabhängig davon an, ob eine Mandatsbesprechung stattfinde oder nicht. Einen Konnex zwischen beidem herzustellen, sei daher unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar. Es komme hinzu, dass sich der angefochtene Beschluss mit keinem Wort mit der ganz herrschenden Meinung auseinandersetze, wonach einem freigesprochenen Angeklagten die Kosten für Informationsreisen zu seinem Verteidiger in einem angemessenen Umfang als notwendige Verteidigungsauslagen zu erstatten seien. Die in dem angegriffenen Beschluss angeführten Fundstellen seien Falschzitate. Im Kommentar „Zöller“ finde sich unter der angegebenen Fundstelle die gegenteilige Aussage. Das Landgericht Potsdam befasse sich (in der im angegriffenen Beschluss zitierten Entscheidung) überhaupt nicht mit der Erstattung von Auslagen eines Beschuldigten für Fahrten zu seinem Verteidiger. Aus der Luft gegriffene und das Gegenteil des Behaupteten beinhaltende Zitate unterlägen ebenso dem Verdikt willkürlicher Entscheidung wie die gänzliche Ausblendung der entgegenstehenden herrschenden Meinung. Sowohl die in sich schlechterdings unhaltbare Begründung als auch die Ausblendung der entgegenstehenden herrschenden Meinung und die Anführung von Falschzitaten begründeten den Vorwurf der Willkür.
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2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat von einer Stellungnahme im Verfassungsbeschwerdeverfahren abgesehen.
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Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
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Der Rechtsweg ist erschöpft (Art. 51 Abs. 2 Satz 1 VfGHG). Ein weiteres Rechtsmittel war gegen den angegriffenen Beschluss nicht zulässig, weil der Wert des Beschwerdegegenstands 200 € nicht übersteigt (§ 304 Abs. 3 StPO).
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Die Frist des Art. 51 Abs. 2 Satz 2 VfGHG ist gewahrt. Es ist davon auszugehen, dass diese zweimonatige Frist nicht vor dem in der Verfassungsbeschwerde als Tag des Zugangs der formlos übermittelten Entscheidung angegebenen 18. August 2022 in Gang gesetzt wurde (vgl. VerfGH vom 4.4.2003 – Vf. 51-VI-02 – juris Rn. 24). Die Verfassungsbeschwerde ging am 17. Oktober 2022 und somit fristgerecht ein.
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Der Beschwerdeführer hat in nachvollziehbarer Weise ausgeführt, dass und warum er die angegriffene Entscheidung für willkürlich hält. Sein Vorbringen stellt eine gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 VfGHG ausreichend substanziierte Rüge der Verletzung des Art. 118 Abs. 1 BV dar.
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Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der angegriffene Beschluss verstößt gegen das Willkürverbot (Art. 118 Abs. 1 BV). Dass die Entscheidung auf Bundesrecht beruht und in einem bundesrechtlich geregelten Verfahren ergangen ist, hindert diese Feststellung nicht (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 2.2.2004 VerfGHE 57, 1/3 f.; vom 15.9.2008 NJW 2008, 3770/3771; vom 13.12.2012 NJW-RR 2013, 893).
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1. Willkürlich ist eine gerichtliche Entscheidung dann, wenn sie bei Würdigung der die Verfassung beherrschenden Grundsätze nicht mehr verständlich ist und sich der Schluss aufdrängt, sie beruhe auf sachfremden Erwägungen. Die Entscheidung darf unter keinem Gesichtspunkt rechtlich vertretbar erscheinen; sie muss schlechthin unhaltbar, offensichtlich sachwidrig, eindeutig unangemessen sein (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 23.8.2006 VerfGHE 59, 200/203 f.; vom 22.12.2020 – Vf. 15-VI-19 – juris Rn. 16; vom 17.5.2022 – Vf. 63-VI-19 – juris Rn. 38). Dies ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Auf ein Verschulden des Gerichts kommt es hierbei nicht an (VerfGH vom 6.10.2004 BayVBl 2005, 79 Rn. 25; vom 13.12.2012 NJW-RR 2013, 893; vom 29.11.2022 – Vf. 5-VI-22 – juris Rn. 55). Von einer willkürlichen Entscheidung in diesem Sinn ist auch dann auszugehen, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt der Norm in krasser Weise missdeutet worden ist. Allerdings kann von einer willkürlichen Missdeutung nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandergesetzt hat und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt (VerfGH vom 15.9.2008 NJW 2008, 3770/3771; NJW-RR 2013, 893; vom 18.5.2015 – Vf. 101-VI-13 – juris Rn. 16, jeweils m. w. N.).
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Das Willkürverbot kann auch verletzt sein, wenn eine gerichtliche Entscheidung – abgesehen von Fällen, in denen die Fachgerichte durch Gesetz von einer Begründung freigestellt sind – nicht oder nicht angemessen begründet wird. Ob eine Entscheidungsbegründung angemessen ist, hängt von den tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten des Einzelfalls ab; deshalb kann nicht abstrakt bestimmt werden, wann insoweit den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt ist (VerfGH vom 23.6.2003 VerfGHE 56, 112/115; vom 23.3.2011 NJW-RR 2011, 1211/1213; vom 26.6.2015 BayVBl 2015, 247 Rn. 25; vom 8.7.2021 – Vf. 47-VI-19 – juris Rn. 41).
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2. Nach diesen Maßstäben hält der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Beschluss der verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand, weil die Begründung für die getroffene Entscheidung nicht nachvollziehbar und unter keinem Gesichtspunkt tragfähig ist. Es findet auch keine eingehende Auseinandersetzung mit der Rechtslage statt, die die Entscheidung verständlich machen könnte.
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a) Notwendige Auslagen im Sinn des § 464 a Abs. 2 StPO sind die in Geld messbaren Aufwendungen eines Verfahrensbeteiligten, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder zur Geltendmachung prozessualer Rechte erforderlich waren (vgl. Grommes in Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, 1. Aufl. 2019, § 464 a Rn. 17; Gieg in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordung, 9. Aufl. 2023, § 464 a Rn. 6). Zu den erstattungsfähigen Auslagen des Angeklagten gehören u. a. Fahrtkosten und Zeitversäumnis für (notwendige) Reisen zu dessen Verteidiger (vgl. z. B. OLG Düsseldorf vom 2.3.2000 – 1 Ws 1041/99 – juris Rn. 14 ff.; Gieg, a. a. O., Rn. 7 f.; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 65. Aufl. 2022, § 464 a Rn. 6, 15; Niesler in BeckOK StPO, § 464 a Rn. 8; Bernd-Dieter Meier in Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 5. Aufl. 2022, § 464 a Rn. 7 f.).
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b) Das Amtsgericht hat nicht in Frage gestellt, dass die Verteidigergespräche als solche notwendig waren. Die Verneinung der Notwendigkeit der geltend gemachten Aufwendungen für die Reisen des Beschwerdeführers zu diesen Gesprächen wurde sowohl in den Gründen des in Bezug genommenen Kostenfestsetzungsbeschlusses als auch der angegriffenen Entscheidung allein darauf gestützt, dass der Beschwerdeführer einen Verteidiger beauftragt hatte, der nicht am Wohnort des Beschwerdeführers, der zugleich Gerichtsort war, niedergelassen war, sondern an einem „dritten Ort“. Bei dieser Ausgangslage sah das Amtsgericht die Aufwendungen nur unter der Voraussetzung als erstattungsfähig an, dass durch die Beauftragung des Verteidigers „Terminsreisekosten des Rechtsanwalts zum Gerichtstermin am Amtsgericht Rosenheim erspart“ worden wären oder dass „der Betroffene nicht am Prozessort wohnen würde und er zur Beauftragung des Rechtsanwalts dorthin reisen müsste“. Diese Auffassung hat das Amtsgericht auf die Entscheidung des Landgerichts Potsdam vom 22. Februar 2013 Az. 24 Qs 177/12 sowie eine Kommentarfundstelle (Herget in Zöller, Zivilprozessordnung, hier 32. Aufl. 2018, § 91 Rn. 13) gestützt. Die Argumentation des Amtsgerichts ist jedenfalls im vorliegenden Fall, in dem der Verteidiger im Bezirk des Prozessgerichts niedergelassen war, in welchem auch der Beschwerdeführer wohnte, weder tragfähig noch nachvollziehbar.
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aa) Die Notwendigkeit der geltend gemachten Auslagen kann nicht vertretbar mit dem Argument verneint werden, der Verteidiger habe seinen Sitz „am dritten Ort“ gehabt. Insbesondere kann dies nicht unter entsprechender Anwendung der Grundsätze erfolgen, die für die Erstattungsfähigkeit von Reisekosten des Rechtsanwalts „am dritten Ort“ gelten.
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Denn für Mehrkosten (Reisekosten) des Rechtsanwalts „am dritten Ort“, d. h. eines Anwalts, der weder am Wohnsitz des Mandanten noch am Ort des Prozessgerichts niedergelassen ist, gelten zwar grundsätzlich die Beschränkungen nach § 91 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO . Diese setzen jedoch schon nach dem Wortlaut der Norm voraus, dass der Rechtsanwalt nicht in dem Bezirk des Prozessgerichts niedergelassen ist. Reisekosten eines im Gerichtsbezirk – nicht notwendig am Gerichtsort – niedergelassenen Rechtsanwalts kann die obsiegende Partei dagegen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der herrschenden Literatur ausnahmslos erstattet verlangen. Die Frage, ob Mehrkosten für die Anreise eines auswärtigen Rechtsanwalts zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig waren, stellt sich deshalb erst und allein für die Erstattungsfähigkeit von Reisekosten ab der Gerichtsbezirksgrenze (BGH vom 9.5.2018 NJW 2018, 2572/2574; Herget in Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022, § 91 Rn. 13.79; Jaspersen in BeckOK ZPO, § 91 Rn. 168 f.; vgl. auch Schneider, NJW 2018, 2574 mit Nachweisen zur einhelligen dahingehenden Auffassung der Instanzgerichte). Der Anwalt, der seinen Sitz im Gerichtsbezirk, nicht aber am Gerichtsort hat, ist entweder schon begrifflich nicht als Rechtsanwalt „am dritten Ort“ zu behandeln (vgl. Flockenhaus in Musielak/Voit, ZPO, 19. Aufl. 2022, § 91 Rn. 18; Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, RVG-Kommentar, 25. Aufl. 2021, VV RVG 7003 Rn. 102, 137) oder die Niederlassung „am dritten Ort“ – belässt man es bei diesem Begriff – bleibt jedenfalls ohne Auswirkung auf die Erstattungsfähigkeit von Reisekosten, wenn sich dieser „dritte Ort“ im Gerichtsbezirk befindet (vgl. Herget, a. a. O., § 91 Rn. 13.79).
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Hier war der Verteidiger des Beschwerdeführers im Bezirk des Prozessgerichts niedergelassen; der Beschwerdeführer verließ im Rahmen der Reisen zu den Verteidigergesprächen den Gerichtsbezirk nicht. Eine entsprechende Heranziehung der Grundsätze über die (eingeschränkte) Erstattungsfähigkeit von Reisekosten des Rechtsanwalts „am dritten Ort“ zum Gerichtsort kann daher von vornherein nicht gegen die Erstattungsfähigkeit der in Rede stehenden Aufwendungen sprechen.
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bb) Nicht nachvollziehbar ist der Ansatz, wonach die Aufwendungen des Beschwerdeführers für die Informationsreisen zu seinem Verteidiger nur dann notwendige Auslagen darstellen würden, wenn durch die Beauftragung des Verteidigers in B. „Terminsreisekosten des Rechtsanwalts zum Gerichtstermin am Amtsgericht Rosenheim erspart“ worden wären. Diese Argumentation ist offenbar der Rechtsprechung und Literatur zur Erstattungsfähigkeit der Kosten eines weiteren Rechtsanwalts, der zur Wahrnehmung eines Termins als Unterbevollmächtigter beauftragt wird, entlehnt (vgl. z. B. BGH vom 10.7.2012 NJW 2012, 2888 Rn. 7 m. w. N.; vom 26.2.2014 NJW-RR 2014, 763 Rn. 8; Schulz in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 91 Rn. 81; Herget, a. a. O., § 91 Rn. 13.79; Flockenhaus, a. a. O., § 91 Rn. 26 a). Auf die hier gegebene, damit unter keinem Gesichtspunkt vergleichbare Konstellation kann sie nicht wertungsgerecht übertragen werden.
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cc) Ebenso wenig tragfähig ist die Annahme, dass Aufwendungen für Reisen eines Angeklagten zu Verteidigergesprächen nur erstattet werden könnten, „wenn der Betroffene nicht am Prozessort wohnen würde und er zur Beauftragung des Rechtsanwalts dorthin reisen müsste“. Sie erschließt sich weder aus sich heraus noch findet sie für die vorliegende Konstellation in Rechtsprechung oder Literatur eine Stütze. Ein solcher Ansatz wird lediglich bei sog. fiktiven Reisekosten eines Beteiligten herangezogen. Dies betrifft Fälle, in denen es im Ausgangspunkt um Reisekosten des Rechtsanwalts geht, die nicht erstattungsfähig sind (vgl. § 91 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO, gegebenenfalls i. V. m. § 464 a Abs. 2 Nr. 2 StPO). Dann kommt in Betracht, dass zumindest fiktive Reisekosten des Beteiligten erstattungsfähig sind, die zum Zweck einer – hypothetischen – Informationsreise angefallen wären, wenn ein Bevollmächtigter am Ort des Prozessgerichts beauftragt worden wäre (vgl. z. B. OLG Nürnberg vom 25.9.1999 – 1 W 1316/99 – juris Rn. 17). Auch die einschlägige Passage in der vom Amtsgericht angegebenen Entscheidung des Landgerichts Potsdam vom 22. Februar 2013 Az. 24 Qs 177/12 (juris Rn. 24) stand im Zusammenhang mit nicht erstattungsfähigen Reisekosten des Rechtsanwalts und betraf fiktive Parteireisekosten zu einer hypothetischen Informationsreise. Hier steht dagegen eine ganz andere Frage inmitten.
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dd) Auch der in den Gründen der angegriffenen Entscheidung angegebenen Kommentarfundstelle (Herget in Zöller, Zivilprozessordnung, hier 32. Aufl. 2018, § 91 Rn. 13) lässt sich keine Aussage entnehmen, die die Auffassung des Amtsgerichts stützen könnte. Dort findet sich lediglich unter dem Gliederungspunkt „Reisekosten – a) der Partei“ die Passage: „Klagt die Partei grundlos am dritten Ort, sind Reisekosten nicht erstattungsfähig (LG Hamburg JurBüro 2008, 655)“. Diese ist für die vorliegende Konstellation offensichtlich nicht einschlägig. Sie bezieht sich auf den Fall, dass sich (im Zivilprozess) ein Kläger oder Antragsteller, der gemäß § 35 ZPO die Wahl unter mehreren zuständigen Gerichten hat, dafür entscheidet, nicht am „eigenen Gerichtsstand“ vorzugehen, sondern an einem dritten Ort, der auch nicht dem Gerichtsstand des Beklagten bzw. Antragsgegners entspricht (vgl. LG Hamburg vom 18.7.2008 – 324 O 1047/07 – juris = JurBüro 2008, 655). Dies ist mit der hier in Rede stehenden Konstellation, in der ein Angeklagter einen im Gerichtsbezirk ansässigen Verteidiger beauftragt und zu diesem reist, nicht ansatzweise vergleichbar. Im Übrigen findet sich in derselben Kommentarstelle die folgende, wenn auch ihrerseits auf den Zivilprozess bezogene Passage: „Die Reisekosten der Partei zur einmaligen, ersten Information ihres nicht an ihrem Wohnort befindl RA sind erstattungsfähig (Düsseldorf NJW-RR 97, 128; Bamberg JurBüro 93, 98 stellt für die Zahl der Reisen auf den Einzelfall ab), es sei denn, es handelt sich um eine ganz einfache Sache aus ihrem Lebens- oder Geschäftsbereich […] oder ein RA aus einer überörtl Sozietät hätte am Wohnsitz der Partei die Information entgegennehmen können“. Mit dieser Aussage, die – wollte man sie auf den Strafprozess übertragen – gerade für die Erstattungsfähigkeit der Kosten zumindest einer Reise spräche, setzt sich das Amtsgericht nicht auseinander.
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3. Der angegriffene Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 9. August 2022 ist daher aufzuheben. Es ist sachgerecht, die Sache zur erneuten Entscheidung über die Erinnerung an das Amtsgericht zurückzuverweisen (Art. 54 Satz 2 VfGHG).
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Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VfGHG). Dem Beschwerdeführer sind die durch das Verfassungsbeschwerdeverfahren verursachten notwendigen Auslagen aus der Staatskasse zu erstatten (Art. 27 Abs. 4 Satz 1 VfGHG).