Inhalt

VG Bayreuth, Beschluss v. 12.01.2023 – B 6 S 22.1147
Titel:

Ausweisung einer geduldeten, bestandskräftig abgelehnten äthiopischen Asylbewerberin wegen beharrlicher Mitwirkungsverweigerung bei der Passbeschaffung

Normenketten:
AufenthG § 11, § 53, § 54, § 55, § 60a, § 104c
VwGO § 80 Abs. 5
Leitsätze:
1. Trotz des missverständlichen Gesetzeswortlauts - "Befristung" - entfällt aufgrund von § 84 Abs. 1 S. 1 Nr. 7 AufenthG die aufschiebende Wirkung der Klage sowohl hinsichtlich der Anordnung als auch hinsichtlich der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, weil es sich insoweit um einen einheitlichen, nicht teilbaren Verwaltungsakt handelt (VGH Mannheim BeckRS 2019, 29732). (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Im Rahmen eines gegen ein mit einer Ausweisung einhergehendes Einreise- und Aufenthaltsverbot gerichteten Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO ist die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung summarisch inzident zu prüfen (OVG Lüneburg BeckRS 2021, 3434). (Rn. 21) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Vorsätzliche Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften (zB unerlaubte Einreise, unerlaubter Aufenthalt; Täuschung der Ausländerbehörden) stellen in aller Regel keine geringfügigen Rechtsverstöße dar und bilden ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG (VGH München BeckRS 2021, 12472). Der fortwährende, über Jahre anhaltende passlose Aufenthalt eines Ausländers kann insoweit weder als "vereinzelt" noch als "geringfügig" angesehen werden. (Rn. 23) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Die langjährige Passlosigkeit und die beharrliche Mitwirkungsverweigerung eines Ausländers erzeugen ein erhebliches öffentliches Interesse daran, anderen Ausländern vor Augen zu führen, dass der passlose Aufenthalt und die dadurch letztlich erzwungene Fortsetzung des illegalen Aufenthalts nicht ohne aufenthaltsrechtliche Konsequenzen bleiben. Sie bilden ein generalpräventives Ausweisungsinteresse (VGH München BeckRS 2020, 14546). (Rn. 24) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Aus den Tatbestandsvoraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung lassen sich im Allgemeinen keine Beschränkungen im Hinblick auf eine Ausweisung ableiten. Soweit daher in § 104c Abs. 1 AufenthG strafrechtliche Verurteilungen bis zu einem bestimmten Strafmaß für die Erteilung eines Aufenthaltstitels für unbeachtlich erklärt werden, kann dies nicht verallgemeinernd zur Beurteilung der Geringfügigkeit eines Rechtsverstoßes im Rahmen von § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG herangezogen werden (BVerwG BeckRS 1997, 20106). (Rn. 30) (red. LS Clemens Kurzidem)
6. Nach der gesetzlichen Wertung, die in den verschiedenen Tatbeständen des § 55 AufenthG Niederschlag gefunden hat, stellt der tatsächliche Besitz eines Aufenthaltstitels im Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung den Anknüpfungspunkt für ein gewichtiges Bleibeinteresse dar. Die bloße Antragstellung oder ein etwaiger Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels werden dem nicht gleichgestellt. (Rn. 33) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Ausweisung, ausländerrechtliche Verstöße, Chancen-Aufenthaltsrecht, äthiopische Staatsangehörige, Passbeschaffung, Mitwirkungspflicht, unerlaubter Aufenthalt, Ausweisungsinteresse, Bleibeinteresse, geringfügige Rechtsverstöße, Generalprävention, Einreise- und Aufenthaltsverbot, vorläufiger Rechtsschutz
Fundstelle:
BeckRS 2023, 2464

Tenor

1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
2. Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wird abgelehnt.
3. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
4. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen einen Bescheid, mit welchem sie aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und ihr die Abschiebung angedroht wurde.
2
Die Antragstellerin ist eine äthiopische Staatsangehörige, welche sich seit September 2016 im Bundesgebiet aufhält. Sie stellte einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 23. Juni 2017 ablehnte und ihr die Abschiebung nach Äthiopien androhte. Die hiergegen gerichtete Klage zum Verwaltungsgericht Bayreuth wurde mit rechtskräftig gewordenen Urteil vom 24. Mai 2019 (B 7 K 17.33406) abgewiesen.
3
Seitdem ist die Antragstellerin geduldet, weil sie nicht im Besitz eines gültigen Reisepasses ist. Die Duldung ist auch aktuell noch mit dem Zusatz nach § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG „für Personen mit ungeklärter Identität“ versehen. Der Aufenthalt der Antragstellerin ist auf der Grundlage des § 61 Abs. 1c Satz 2 AufenthG auf das Gebiet des Landkreises … beschränkt.
4
Wiederholten Aufforderungen der Regierung von … – Zentrale Ausländerbehörde – zur Beschaffung eines gültigen Reisepasses leistete die Antragstellerin keine Folge. Auf die ausführliche Dokumentation in der Behördenakte wird Bezug genommen.
5
Mit rechtskräftig gewordenen Strafbefehl des Amtsgerichts … vom 8. Februar 2022 (…) wurde die Antragstellerin wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass gem. § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen verurteilt.
6
Die Antragstellerin lebt mit ihrem religiös angetrauten Ehemann (Antragsteller im Parallelverfahren B 6 S 22.1149) und den gemeinsamen Kindern in häuslicher Gemeinschaft in einer Gemeinschaftsunterkunft in … Diese Familienmitglieder sind ebenfalls vollziehbar ausreisepflichtige äthiopische Staatsangehörige, die nicht über gültige Reisepässe verfügen.
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Mit Bescheid vom 21. November 2022 wies die Regierung von … – Zentrale Ausländerbehörde – die Antragstellerin aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer I) und ordnete ein auf vier Jahre ab dem Tag der Ausreise befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot an (Ziffer II). Die Antragstellerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen; widrigenfalls wurde ihr die Abschiebung nach Äthiopien oder einen anderen rücknahmebereiten Staat angedroht (Ziffer III).
8
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Bei der Antragstellerin handele es sich um eine hartnäckige Mitwirkungsverweigerin, die sämtliche behördliche Aufforderungen zur Passbeschaffung unbeachtet gelassen habe. Durch die unterlassene Mitwirkung bei der Passbeschaffung habe sie ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gem. § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. b AufenthG sowie gem. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG verwirklicht. Die Mitwirkung bei der Passbeschaffung, insbesondere die für den Passantrag erforderliche Beschaffung einer Geburtsurkunde über im Heimatland lebende Verwandte, sei der Antragstellerin möglich und zumutbar. Die erfolglose Botschaftsvorsprache am 6. November 2020 könne nicht als ausreichende Mitwirkungshandlung eingestuft werden, da die Antragstellerin dort keinerlei identitätsklärende Dokumente vorgelegt habe. Auch nach der strafrechtlichen Verurteilung habe die Antragstellerin nichts zur Beseitigung der Passlosigkeit unternommen. Die Ausweisung der Antragstellerin diene der Generalprävention. Es solle anderen Ausländern deutlich vor Augen geführt werden, dass die Missachtung geltenden Rechts nicht hingenommen werde und zur unverzüglichen Aufenthaltsbeendigung führen könne. Ein Bleibeinteresse im Sinne von § 55 AufenthG sei nicht ersichtlich, weshalb auch die Abwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse zulasten der Antragstellerin ausfalle. Die Befristung des anzuordnenden Einreise- und Aufenthaltsverbots auf vier Jahre entspreche pflichtgemäßer Ermessensausübung der Ausländerbehörde.
9
Hiergegen erhob die Antragstellerin am 14. Dezember 2022 Klage (B 6 K 22.1148) zum Verwaltungsgericht Bayreuth mit dem Antrag, den Bescheid vom 21. November 2022 aufzuheben. Zugleich beantragt sie,
„die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den oben genannten Bescheid der Beklagten und Antragsgegnerin anzuordnen.“
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Die Antragstellerin beantragt weiterhin, ihr Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung zu bewilligen.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt: Die Antragstellerin sei ausreisepflichtig. Die Voraussetzungen für ihre Ausweisung lägen eindeutig nicht vor, erst recht kein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse. Die Antragstellerin habe sich nichts zuschulden kommen lassen. Ihr sei lediglich vorgeworfen worden, dass sie bisher keinen Reisepass vorgelegt habe. Es sei offensichtlich, dass der Antragsgegner verhindern wolle, dass die Antragstellerin in den Genuss des Chancen-Aufenthaltsrecht nach dem neuen § 104c AufenthG komme. Der Antragsgegner versuche „Familien aus dem Land zu ekeln“ und Menschen, für die das Chancen-Aufenthaltsrecht eindeutig gedacht sei, die Anwendung dieses Gesetzes zu verweigern. Die gesetzliche Neuregelung des § 104c AufenthG zeige eindeutig, dass die bisherige Passlosigkeit der Antragstellerin nicht dazu führe, dass ihr das Chancen-Aufenthaltsrecht versagt werden oder sie wegen der Passlosigkeit ausgewiesen werden könne. Vielmehr solle ihr durch die neue Regelung Gelegenheit gegeben werden, die Voraussetzungen für eine nachfolgende Aufenthaltserlaubnis gem. § 25b AufenthG zu schaffen. Da die Antragstellerin nur zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen verurteilt worden sei, gehöre sie eindeutig zu dem von der gesetzlichen Neuregelung begünstigten Personenkreis.
12
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
13
Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgebracht: Die Ausweisung der Antragstellerin sei verhältnismäßig und ermessensfehlerfrei. Der Vorwurf, dass der Antragstellerin gezielt das Chancen-Aufenthaltsrecht vorenthalten werden solle, werde zurückgewiesen. Zu den konkreten Ausweisungstatbeständen äußere sich die Antragstellerseite nicht. Die Antragstellerin erfülle die Voraussetzungen des Chancen-Aufenthaltsrechts auch nicht. Sie sei eine absolute Mitwirkungsverweigerin. Bereits mit behördlichem Schreiben vom 4. Mai 2022 sei der Antragstellerin konkret mitgeteilt worden, dass die unterlassene Mitwirkung bei der Passbeschaffung ein Ausweisungsverfahren nach sich ziehen könne. Dennoch habe die Antragstellerin keine tauglichen Bemühungen zur Erfüllung ihrer ausländerrechtlichen Pflichten nachgewiesen. Es müsse zudem davon ausgegangen werden, dass die Antragstellerin über ihre Identität täusche, da für sie mehrere Alias-Personalien erfasst seien und sie auch zu den Personalien ihrer Eltern unterschiedliche Angaben gemacht habe. Deswegen sei sie ohnehin gem. § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG vom Anwendungsbereich des Chancen-Aufenthaltsrechts ausgeschlossen.
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Mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2022 beantragte die Antragstellerbevollmächtigte bei der Zentralen Ausländerbehörde die Erteilung eines Aufenthaltstitels unter Bezugnahme (unter anderem) auf § 104c AufenthG.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
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1. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe wird abgelehnt, weil sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt, dass die Rechtsverfolgung keine hinreichende Erfolgsaussicht i.S.d. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO hat.
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2. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist unzulässig, soweit er sich gegen die Ausweisung in Ziffer 1 des Bescheids vom 21. November 2022 richtet. Im Übrigen ist der Antrag zulässig, aber unbegründet.
18
2.1. Der gegen die in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Ausweisung gerichtete Eilantrag ist nicht statthaft. Mangels Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit hat die Anfechtungsklage insoweit aufschiebende Wirkung, § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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2.2. Hinsichtlich des in Ziffer 2 des Bescheids vom 21. November 2022 angeordneten Einreiseund Aufenthaltsverbots ist der Antrag zulässig, aber unbegründet. Die gebotene Abwägung von Vollzugs- und Suspensivinteresse, bei der die Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage wesentlich zu berücksichtigen sind, fällt zulasten der Antragstellerin aus. Denn aufgrund der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung ist davon auszugehen, dass sich die Regelung in Ziffer 2 des Bescheids im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtmäßig erweisen wird.
20
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist statthaft, weil die Anfechtungsklage insoweit gem. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG keine aufschiebende Wirkung hat. Trotz des missverständlichen Gesetzeswortlauts („Befristung“) entfällt aufgrund von § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG die aufschiebende Wirkung der Klage sowohl hinsichtlich der Anordnung als auch hinsichtlich der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, weil es sich insoweit um einen einheitlichen, nicht teilbaren Verwaltungsakt handelt (VGH BW, B.v. 13.11.2019 – 11 S 2996/19 – BeckRS 2019, 29732; vgl. auch BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 47/20 – NVwZ 2021, 1842 Rn. 10).
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Der Antrag ist unbegründet. Das gem. § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung erlassene, auf vier Jahre befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot wird sich nach derzeitigem Sachstand im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtmäßig erweisen. Im Rahmen eines gegen ein mit einer Ausweisung einhergehendes Einreise- und Aufenthaltsverbot gerichteten Antrags nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung summarisch inzident zu prüfen (VGH BW, B.v. 21.1.2020 – 11 S 3477/19 – NVwZ-RR 2020, 556/563 Rn. 76; NdsOVG, B.v. 23.2.2021 – 8 ME 126/20 – BeckRS 2021, 3434 Rn. 8; Katzer in BeckOK MigR, Stand 15.10.2022, § 11 AufenthG Rn. 5). Lässt man die nach Erlass der streitgegenständlichen Ausweisungsverfügung in Kraft getretene gesetzliche Regelung über das sog. Chancen-Aufenthaltsrecht bei der rechtlichen Prüfung (zunächst) außer Betracht, stellt sich die Ausweisung offensichtlich als rechtmäßig dar (2.2.1). Doch auch bei Berücksichtigung des nunmehr in Kraft getretenen § 104c AufenthG bestehen gegen die Ausweisung nach summarischer Prüfung keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken (2.2.2.). Auch im Übrigen weist das Einreise- und Aufenthaltsverbot keine Rechtsfehler auf, die die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage rechtfertigen (2.2.3.).
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2.2.1. Lässt man die nunmehr in Kraft getretene gesetzliche Regelung des § 104c AufenthG bei der rechtlichen Beurteilung (zunächst) außer Betracht – und stellt mithin auf die Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung ab – bestehen gegen die Ausweisung keine rechtlichen Bedenken. Der Antragsgegner geht zutreffend davon, dass die Antragstellerin ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gem. § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. b AufenthG verwirklicht hat. Die Antragstellerin weigert sich trotz zahlreicher behördlicher Aufforderungen und Belehrungen, an der Beseitigung ihrer Passlosigkeit mitzuwirken, obwohl ihr dies möglich und zumutbar ist. Es ist nicht ersichtlich, dass sie irgendwelche erfolgversprechenden Schritte zur Erlangung eines gültigen Reisepasses unternommen hat. Sie wurde schriftlich und mündlich auf die rechtlichen (auch strafrechtlichen) Konsequenzen der Passlosigkeit eindringlich hingewiesen. Der Antragsgegner geht auch zu Recht davon aus, dass eine Botschaftsvorsprache ohne Vorlage identitätsklärender Dokumente keine taugliche Mitwirkungshandlung ist. Die in § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. b AufenthG a.E. geforderte Belehrung über die Rechtsfolgen der Nichtmitwirkung hat der Antragsgegner erteilt (Bl. 666 f. u. 681 f. d. Behördenakte).
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Der Antragstellerin fällt allen Anhaltspunkten nach auch ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gem. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG zur Last. Vorsätzliche Straftaten stellen grundsätzlich keinen geringfügigen Rechtsverstoß dar (stRspr, z.B. BayVGH, B.v. 14.2.2019 – 10 ZB 18.1967 – juris Rn. 6 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs stellen vorsätzliche Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften (wie etwa unerlaubte Einreise, unerlaubter Aufenthalt, Täuschung der Ausländerbehörden) in aller Regel keine geringfügigen Rechtsverstöße dar (BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 8; B.v. 18.9.2020 – 10 CE 20.1914 u.a. – juris Rn. 30; B.v. 29.3.2021 – 10 B 18.943 – juris Rn. 52; ebenso: OVG LSA, B.v. 7.1.2022 – 2 M 137/21 – juris Rn. 30; Katzer in BeckOK MigR, § 54 AufenthG Rn. 96; Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 54 AufenthG Rn. 95). Nach diesen Maßstäben kann der fortwährende, über Jahre anhaltende passlose Aufenthalt der Antragstellerin weder als „geringfügig“ noch als „vereinzelt“ i.S.d. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG angesehen werden. Die Antragstellerin wurde wegen illegalen Aufenthalts ohne gültigen Reisepass zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen verurteilt. Die Antragstellerin verstößt (auch nach dieser strafrechtlichen Verurteilung) fortlaufend gegen die Passpflicht des § 3 Abs. 1 AufenthG und erfüllt damit fortwährend den Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.
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Was die generalpräventive Zielrichtung der Ausweisung betrifft, ist es nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner im Hinblick auf die langwährende Passlosigkeit und beharrliche Mitwirkungsverweigerung der Antragstellerin von einem erheblichen öffentlichen Interesse daran ausgeht, anderen Ausländern vor Augen zu führen, dass der passlose Aufenthalt und die dadurch letztlich erzwungene Fortsetzung des illegalen Aufenthalts nicht ohne aufenthaltsrechtliche Konsequenzen bleiben. In der Rechtsprechung (BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 8; OVG LSA, B.v. 22.3.2021 – 2 L 132/19 – juris Rn. 41; B.v. 7.1.2022 – 2 M 137/21 – juris Rn. 33; VG Ansbach, U.v. 2.8.2022 – AN 11 K 20.1930 – BeckRS 2022, 21923 Rn. 76) ist anerkannt, dass ein gewichtiges generalpräventives Interesse daran besteht, einen Verstoß gegen die Passpflicht bzw. die Weigerung an der Passbeschaffung mitzuwirken zu „sanktionieren“, um andere Ausländer in einer ähnlichen Situation zur Mitwirkung an der Passbeschaffung anzuhalten. Die mit dem Vollzug des Aufenthaltsrechts beauftragten Behörden sind in vielen Fällen auf die Mitwirkung des Ausländers angewiesen, da gerade im Passbeschaffungsverfahren die persönliche Antragstellung und die Beschaffung und Vorlage persönlicher Dokumente erforderlich sind und nicht durch die Behörden erfolgen können. Daher ist es gerechtfertigt, auch anderen Ausländern vor Augen zu führen, dass der unerlaubte Aufenthalt ohne Pass nicht nur zu strafrechtlichen Konsequenzen führt, sondern auch die Aufenthaltsbeendigung sowie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach sich ziehen kann.
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Das Ausweisungsinteresse ist offensichtlich noch hinreichend aktuell, weil der passlose Aufenthalt der Antragstellerin fortdauert.
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Dem vorgenannten Ausweisungsinteresse steht, wenn man die gesetzliche Neuregelung des § 104c AufenthG hier zunächst außer Betracht lässt, auch offensichtlich kein wesentlich ins Gewicht fallendes Bleibeinteresse gegenüber. Ein typisiertes Bleibeinteresse i.S.d. § 55 AufenthG ist nicht ersichtlich. Der bisherige Aufenthalt der Antragstellerin im Bundesgebiet war allein durch das Asylverfahren und nachfolgend durch ihre Passlosigkeit bedingt. Zurecht verweist der Antragsgegner darauf, dass der Aufenthalt ihrer Kinder bzw. ihres religiös angetrauten Mannes im Bundesgebiet der Antragstellerin kein ins Gewicht fallendes Bleibeinteresse vermitteln kann, weil diese Personen ebenfalls ausreisepflichtig und wegen Passlosigkeit geduldet sind.
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2.2.2. Doch auch bei Berücksichtigung der nunmehr in Kraft getretenen Regelung des § 104c AufenthG erweist sich die Ausweisung bei summarischer Prüfung als rechtmäßig. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (z.B. U.v. 22.2.2017 – 1 C 3/16 – NVwZ 2017, 1883/1884 Rn. 18) ist maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt bei einem gegen eine Ausweisungsverfügung gerichteten Rechtsbehelf der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. gerichtlichen Entscheidung. Es sind daher Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlass der Ausweisungsverfügung ergeben haben, zu berücksichtigen, und zwar unabhängig davon, ob diese zugunsten oder zulasten des Ausländers wirken.
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Anlass zur Prüfung der Auswirkungen der gesetzlichen Neuregelung auf das Ausweisungsrecht geben die Regelungen des § 104c Abs. 1 AufenthG (insbesondere Satz 1 Nr. 2) sowie die folgenden Ausführungen in der Gesetzesbegründung zu § 104c AufenthG (BT-Drs 20/3717, 45):
„Ferner darf der Ausländer nach Nummer 2 nicht die darin genannten Straftaten begangen haben und deswegen verurteilt worden sein. Diese Vorgabe ist auch für die Beurteilung eines möglichen Ausweisungsinteresses im Sinne des § 5 Absatz 1 Nummer 2 AufenthG heranzuziehen. § 104c Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 AufenthG-E gibt im Übrigen den Rahmen der ausländerbehördlichen Ermessensausübung nach § 5 Absatz 3 Satz 2 vor. Abweichungen von den in Nummer 2 genannten gesetzlichen Vorgaben sind nur nach umfassender Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls in äußerst außergewöhnlichen, also atypischen Fallkonstellationen zulässig. Sie müssen jeweils insbesondere mit Blick auf Ziel und Zweck des Chancen-Aufenthaltsrechts konkret begründet werden. Ermessenserwägungen, die bei der Erteilung des Chancen-Aufenthaltsrechts eine Rolle gespielt haben, sind auch bei einer späteren Prüfung der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25a oder § 25b AufenthG zu übernehmen, wenn der Sachverhalt unverändert geblieben ist.“
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Nach Auffassung der Kammer folgt aus der gesetzlichen Neuregelung – nach summarischer (Indizent-)Prüfung im vorliegenden Eilverfahren – nicht die Rechtswidrigkeit der hier zu beurteilenden Ausweisung. Dafür sind folgende Erwägungen maßgebend:
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Es ist zunächst festzustellen, dass das Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts vom 21. Dezember 2022 (BGBl. 2022 Teil I, 2847) die ausweisungsrechtlichen Vorschriften der §§ 53 ff. AufenthG nur insoweit ändert, als die Vorschriften über den besonderen Ausweisungsschutz in § 53 Abs. 3a und 3b AufenthG (a.F.) neu gefasst werden. § 104c AufenthG betrifft thematisch nicht das in Kapitel 5 Abschnitt 1 des Aufenthaltsgesetzes enthaltene Ausweisungsrecht, sondern – als stichtagsbezogene Sonderregelung – in der Sache die in Kapitel 2 des Aufenthaltsgesetzes enthaltenen Vorschriften über die Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltstiteln (gem. § 104c Abs. 3 Satz 2 AufenthG gilt die in § 104c AufenthG geregelte Aufenthaltserlaubnis als Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5). Im Grundsatz gilt, dass Regelungen über die Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltstiteln nicht auf die Ausweisungsregelungen angewendet werden können und umgekehrt. Denn das Aufenthaltsgesetz trennt deutlich zwischen beiden Rechtsregimen, so dass es sich im Grundsatz verbietet, die für bestimmte Problemlagen geschaffenen Regelungen eines Kapitels bzw. Abschnitts auf einen anderen zu übertragen, wenn nicht der Gesetzgeber – etwa durch Bezugnahmen – dafür einen Anhalt gibt (BVerwG, U.v. 28.1.1997 – 1 C 17/94 – NVwZ 1997, 1119/1121 f. (zum AuslG); Neidhardt in HTK-AuslR, § 53 AufenthG/Ausweisung Überblick, Stand 3.2.2022, Rn. 159 ff.; einschränkend im Schutzbereich des Art. 6 GG: BVerwG, U.v. 16.7.2002 – 1 C 8/02 – NVwZ 2003, 217/219). Das grundsätzliche Verhältnis der beiden Regelungsregime ergibt sich aus § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG und § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG, wonach einem ausgewiesenen Ausländer kein Aufenthaltstitel erteilt werden darf und ein Aufenthaltstitel erlischt, wenn der Ausländer ausgewiesen wird. Deshalb lassen sich im Allgemeinen aus den Genehmigungsvorschriften keine Beschränkungen für die Ausweisung herleiten; vielmehr greifen diese Vorschriften nur ein, wenn von den Ausweisungsvorschriften kein Gebrauch gemacht worden ist (BVerwG, U.v. 28.1.1997 – 1 C 17/94 – NVwZ 1997, 1119/1122 (zu den entsprechenden Vorschriften des AuslG); HTK-AuslR, a.a.O., Rn. 162). Dementsprechend können Vorschriften über die Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltstiteln, die strafrechtliche Verurteilungen bis zu einem bestimmten Strafmaß für unbeachtlich erklären, auch nicht verallgemeinernd zur Beurteilung der Geringfügigkeit eines Rechtsverstoßes im Rahmen des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG herangezogen werden (BVerwG, U.v. 24.9.1996 – 1 C 9/94 – NVwZ 1997, 1123/1124, zu § 46 Nr. 2 AuslG).
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Die gesetzliche Regelung des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG dürfte unter Berücksichtigung der Gesetzesbegründung dahingehend zu verstehen sein, dass auf die Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG zwar grundsätzlich die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (fehlendes Ausweisungsinteresse) Anwendung findet. Denn § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG schließt ausdrücklich die Anwendung der Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1, 1a, Nr. 4 und Abs. 2 AufenthG, nicht aber § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aus. Allerdings soll die Ausländerbehörde nach der in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gekommenen Vorstellung wohl bei strafrechtlichen Verurteilungen unterhalb des in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG geregelten Höchststrafmaßes in einer Art intendierter Ermessensentscheidung aufgrund von § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG absehen. Bei Überschreitung des in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genannten Strafmaßes dürfte hingegen ein zwingender Versagungsgrund bestehen, der auch nicht im Wege einer behördlichen Ermessensentscheidung überwunden werden kann (vgl. zum mit § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG weitgehend wortgleichen § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG: BVerwG, U.v. 27.1.2009 – 1 C 40.07 – NVwZ 2009, 979/980 f.).
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Nach Auffassung der Kammer folgt daraus nicht, dass die Ausländerbehörde die ausländerrechtlichen Verstöße der Antragstellerin, die bisher strafgerichtlich mit einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen geahndet wurden, nicht als Anlass für eine – hier vor Inkrafttreten des § 104c AufenthG und im Übrigen auch vor der Beschlussfassung über den Gesetzesentwurf im Deutschen Bundestag erlassene – Ausweisungsverfügung gem. §§ 53 ff. AufenthG nehmen durfte, also die Ausweisung durch § 104c AufenthG wegen der unterhalb der Strafbarkeitsschwelle des § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG liegenden strafrechtlichen Verurteilung in der vorliegenden Konstellation „gesperrt“ ist. Eine Abweichung von dem oben dargestellten grundsätzlichen Verhältnis von Ausweisung und Titelerteilungsvorschriften lässt sich weder dem Gesetzestext des § 104c AufenthG noch der Gesetzesbegründung hinreichend deutlich entnehmen. Die stichtagsabhängige Bleiberechtsregelung des § 104c AufenthG sieht eine Ausnahme von der Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG (§ 104c Abs. 3 Satz 1 AufenthG), nicht aber von dem mit der Ausweisung einhergehenden Titelerteilungsverbot des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG vor. Das Gericht verkennt nicht, dass sowohl die Regelungserteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG als auch §§ 53, 54 AufenthG an den Begriff des Ausweisungsinteresses anknüpfen. Es bestehen aber erhebliche strukturelle Unterschiede zwischen der Ausweisung und der Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG. Die Ausweisung stellt eine gebundene, gerichtlich voll überprüfbare Verwaltungsentscheidung dar, bei der Ausweisungs- und Bleibeinteresse gegeneinander abzuwägen sind. Während die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG im Titelerteilungsverfahren bereits dann nicht erfüllt ist, wenn ein Ausweisungsinteresse vorliegt, setzt eine rechtmäßige Ausweisung ein das Bleibeinteresse überwiegendes Ausweisungsinteresse voraus. Eine behördliche Ermessensausübung, wie sie etwa § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vorsieht, kennt das Ausweisungsrecht nicht. Insofern fehlt es an einer Grundlage, die Erwägungen der Gesetzesbegründung zum Absehen von einem Ausweisungsinteresse nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auf die §§ 53 ff. AufenthG zu übertragen. Eine sachwidrige Ungleichbehandlung gleichgelagerter Sachverhalte ist darin nicht zu sehen. Es stellt einen wesentlichen Unterschied dar, ob sich die Ausländerbehörde (in rechtmäßiger Weise und hier im Übrigen, bevor der Gesetzesentwurf zu § 104c AufenthG überhaupt im Deutschen Bundestag behandelt wurde) entschlossen hat, gegen einen Ausländer eine Ausweisungsverfügung zu erlassen oder ob nur ein Ausweisungsinteresse i.S.v. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vorliegt (vgl. zu der mit § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG weitgehend wortgleichen Regelung des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG: Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand Oktober 2022, § 104a Rn. 135, dort allerdings für die bestandskräftige Ausweisung).
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Die gesetzliche Neuregelung des § 104c AufenthG führt im vorliegenden Verfahren auch nicht dazu, dass sich die Antragstellerin auf ein das Ausweisungsinteresse überwiegendes Bleibeinteresse i.S.v. § 55 AufenthG berufen kann. Ein typisiertes Bleibeinteresse i.S.d. § 55 AufenthG liegt nicht vor. Es ist auch nicht ersichtlich, dass ein den gesetzlich typisierten, aber nicht abschließend normierten Bleibeinteressen annähernd gleich zu gewichtendes Bleibeinteresse besteht. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach der gesetzlichen Wertung, die in verschiedenen Tatbeständen des § 55 AufenthG Niederschlag gefunden hat, der tatsächliche Besitz eines Aufenthaltstitels im Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung Anknüpfungspunkt für ein gewichtiges Bleibeinteresse ist. Die bloße Antragstellung oder ein etwaiger Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wird dem nicht gleichgestellt (Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, § 55 AufenthG Rn. 4 m.w.N.). Einen solchen Anspruch besaß die Antragstellerin im Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung im Übrigen schon deshalb nicht, weil § 104c AufenthG zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Kraft getreten war.
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Die Kammer sieht auch keinen Anlass, im vorliegenden Eilrechtsschutzverfahren eine vollständige Inzidentprüfung des § 104c AufenthG vorzunehmen. Der streitgegenständliche Bescheid enthält keine Entscheidung über den erst nach Bescheidserlass gestellten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels vom 14. Dezember 2022 (Bl. 833 d. Behördenakte). Es ist auch weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass sich die Antragstellerin in der in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG normierten Weise zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekannt hat (zwingende Erteilungsvoraussetzung). Die Voraussetzungen des § 104c AufenthG hat die Ausländerbehörde zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Titelerteilungsantrag zu prüfen. In diesem Titelerteilungsverfahren wird sich der Antragsgegner auch mit der Vorschrift des § 11 Abs. 4 Satz 2 AufenthG zu befassen haben, wonach ein Einreise- und Aufenthaltsverbot aufgehoben werden soll, wenn die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 (wozu die Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG zählt, § 104c Abs. 3 Satz 2 AufenthG) vorliegen. Dies ist allgemein und erst dann der Fall, wenn der Ausländer sämtliche besonderen und regelhaften Voraussetzungen des jeweiligen Aufenthaltstitels erfüllt (VG Bremen, U.v. 8.2.2021 – 4 K 3095/19 – BeckRS 2021, 3304 Rn. 21; Dollinger in Bergmann/Dienelt, AuslR, § 11 AufenthG Rn. 85) und ein etwaiges im Rahmen der Titelerteilungsvorschriften verbleibendes behördliches Ermessen zugunsten des Ausländers ausgeübt wird (Funke-Kaiser in GK-AufenthG, § 11 Rn. 200). Aus den vorgenannten Gründen erübrigen sich nähere Ausführungen zu dem von dem Antragsgegner thematisierten Ausschlussgrund des § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG.
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2.2.3. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen begegnet auch die von dem Antragsgegner verfügte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach summarischer Prüfung keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Der Antragsgegner hat das durch § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessen ausgeübt und dabei den gesetzlichen Rahmen des § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG gewahrt. Ein etwaiger Aufhebungsanspruch nach § 11 Abs. 4 Satz 2 AufenthG ist, wie soeben ausgeführt, im hiesigen Verfahren nicht zu prüfen.
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3. In Bezug auf die Abschiebungsandrohung in Ziffer III des Bescheids vom 21. November 2022 ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zulässig, aber unbegründet. Der Antrag ist statthaft, weil die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage insoweit gem. § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. Art. 21a VwZVG entfällt. Gegen die Abschiebungsandrohung bestehen jedoch in der Sache keine rechtlichen Bedenken. Die Antragstellerin ist vollziehbar ausreisepflichtig und ihr wurde bereits mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. Juni 2017 die Abschiebung unter Setzung einer (inzwischen verstrichenen) Frist zur freiwilligen Ausreise angedroht. Der nochmaligen Abschiebungsandrohung unter Setzung einer neuen Ausreisefrist hätte es daher nicht bedurft. Die Antragstellerin wird dadurch offensichtlich nicht in ihren Rechten verletzt.
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4. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziff. 8.2 und 1.5 des Streitwertkatalogs.