Titel:
unzulässiger Asylantrag nach internationalem Schutz in Bulgarien
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
GRCh Art. 4
Asylverfahrens-RL Art. 33 Abs. 2 lit. a
Leitsatz:
Derzeit besteht für nicht vulnerable, gesunde und arbeitsfähige alleinstehende volljährige Personen in Bulgarien keine Gefahr der Verelendung im Sinne von Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Unzulässigkeit eines Asylantrags einer Familie bei vorheriger Anerkennung in Bulgarien, Abschiebung, Bulgarien, subsidiärer Schutz, RL 2013/32/EU, Existenzminimum
Fundstelle:
BeckRS 2023, 2461
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
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Die Kläger, syrische Staatsangehörige, kurdischer Volkszugehörigkeit begehren die Aufhebung eines Bescheides, mit dem ihr Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde und ihnen die Abschiebung nach Bulgarien angedroht wurde.
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Die Kläger reisten im Jahr 2015 aus Syrien aus und nach einem längeren Aufenthalt in der Türkei am 19.4.2020 nach Bulgarien ein. In Bulgarien wurde ihnen am 22.1.2021 subsidiärer Schutz gewährt. Am 12.4.2021 wurden die Kläger in Deutschland aufgegriffen und stellten hier am 5.7.2021 einen Asylantrag. Zur Begründung gaben sie beim Bundesamt an, sie hätten Syrien wegen des Krieges und des drohenden Militärdienstes verlassen. In der Türkei hätten sie nicht genügend Geld verdient. Ihr Ziel sei Deutschland gewesen, hier habe der Kläger zu 1) auch viele Familienangehörige. In Bulgarien hätten sie nach dem Auszug aus dem Camp eine Wohnung in Sofia angemietet. Sie hätten aber kein Gehalt mehr bekommen und auch keine Arbeit gehabt. In Bulgarien gebe es keine Zukunft für sie und die Kinder. Die Klägerin zu 2) habe mit 10 Jahren einen Autounfall gehabt und nehme seitdem Kopfschmerztabletten ein. Seitdem habe sie schwankende Erinnerungen. Eines der Kinder müsse nochmal operiert werden, weil es sich beim Fußballspielen an der Hand verletzt habe.
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Mit Bescheid vom 12.1.2022 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Asylanträge der Kläger als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen und forderte die Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland binnen einer Woche zu verlassen, ansonsten würden sie nach Bulgarien abgeschoben. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung wurde ausgesetzt. Zur Begründung führt der Bescheid aus, die Kläger hätten in Bulgarien subsidiären Schutz erhalten. Der Lebensstandard und die wirtschaftliche Situation, auch der einheimischen Bevölkerung, in Bulgarien würden sich zwar deutlich von der Situation in Deutschland unterscheiden, Art. 3 EMRK gewähre aber grundsätzlich keinen Anspruch auf Verbleib in einem Mitgliedsstaat, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistungen zu profitieren. Für den Bezug von Sozialleistungen und dem Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung seien anerkannte Schutzberechtigte bulgarischen Staatsangehörigen rechtlich gleichgestellt. Für die Annahme der Verelendung von Flüchtlingsfamilien bei einer Rückkehr nach Bulgarien bestünden keine hinreichenden Anhaltspunkte. Die Wohnsituation international Schutzberechtigter sei in Bulgarien nicht mehr bedenklich. Die Unterstützung durch NROs und staatlichen Stellen in Verbindung mit der geringen Anzahl von in Bulgarien befindlichen Schutzberechtigten sorge nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes im Ergebnis dafür, dass es kaum obdachlose Flüchtlinge gebe. Die Mehrheit der arbeitenden anerkannten Flüchtlinge sei bei Arbeitgebern gleicher Herkunft beschäftigt. Den Klägern sei es somit möglich, mit der erforderlichen Eigeninitiative zu vermeiden, dass sie in eine Situation extremer materieller Not geraten. Der Wunsch der Kläger, ihr Leben in Deutschland verbringen zu wollen, sei unbeachtlich.
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Gegen diesen Bescheid erhoben die Kläger mit Schreiben ihrer Bevollmächtigten vom 27.1.2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth. Sie beantragen,
den Bescheid der Beklagten vom 12.1.2022, Aktenzeichen … aufzuheben.
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Zur Begründung führt die Bevollmächtigte der Kläger aus, in Bulgarien setzten sich Schutzberechtigte letztlich staatlicher Gleichgültigkeit aus, insofern werde auf das Urteil des OVG Lüneburg vom 29.1.2018 zum Aktenzeichen 10 LB 82/17 Bezug genommen. Anerkannte Schutzberechtigte hätten in Bulgarien keinen Zugang zu den sozialen Leistungen, sodass ein Verstoß gegen die Inländergleichbehandlung gegeben sei. Bei der Rückführung nach Bulgarien bestehe eine menschenunwürdige Behandlung. Die Kläger hätten selbst vorgetragen, dass sie kein Gehalt mehr gehabt hätten und keine Arbeit gefunden hätten. Die Kläger seien Eheleute mit drei kleinen Kindern, die in Bulgarien auf keinen Familienverbund zur Unterstützung zurückgreifen könnten.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen Sie verweist auf die Begründung des angegriffenen Bescheids.
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Mit Kammerbeschluss vom 21.7.2022 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
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Mit Schreiben des Gerichts vom 1.9.2022 wurden die Beteiligten zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung oder durch Gerichtsbescheid angehört. Die Beklagte verzichtete mit Schreiben vom 6.9.2022 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Kläger äußerten sich nicht. Mit Gerichtsbescheid vom 10.11.2022 wurde die Klage abgewiesen. Gegen diesen Gerichtsbescheid beantragten die Kläger mündliche Verhandlung.
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In der mündlichen Verhandlung führte die Klägerin zu 2) aus, inzwischen unter keinen Folgen des Unfalls in ihrer Kindheit mehr zu leiden. Der Kläger zu 1) erläuterte, sie hätten in Bulgarien nie bleiben wollen, hätten nach ihrem Aufgriff jedoch warten müssen, bis sie Reisedokumente gehabt hätten, die ihnen die Weiterreise nach Deutschland ermöglicht hätten. In Bulgarien hätten sie auch gesehen, dass sie dort keine Perspektive hätten und nach der Anerkennung keine Unterstützung mehr erhielten. Um Unterstützung von Organisationen wie z.B. der Caritas oder eine Kinderbetreuung hätten sie nicht ersucht. Die Klägerin zu 2) habe auch nicht nach einer Arbeit gesucht, der Kläger zu 1) habe nur Arbeit angeboten bekommen, die schlecht bezahlt worden wäre.
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Ergänzend wird hinsichtlich des Sachverhalts auf die Gerichtsakte, die vorgelegte Behördenakte und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 17.1.2023 verwiesen.
Entscheidungsgründe
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1. Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten. Zur Begründung wird zunächst auf die zutreffende Begründung des angegriffenen Bescheides Bezug genommen.
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1.1 Die Entscheidung der Beklagten in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides beruht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union (hier Griechenland) dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Von der Befugnis, den Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, darf ein Mitgliedsstaat jedoch keinen Gebrauch machen, wenn die Lebensverhältnisse, die den Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat als anerkannter Flüchtling erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu erfahren (EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 und C-541/17 – juris). Dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Unionsrecht folgend, ist regelmäßig davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten die grundlegenden Werte der Union, wie sie insbesondere in Art. 4 der Grundrechtecharta (GRCh) zum Ausdruck kommen, anerkennen, dass sie das diese Werte umsetzende Unionsrecht beachten und auf Ebene des nationalen Rechts einen wirksamen Schutz der in der GRCh anerkannten Grundrechte gewährleisten. Dieser Grundsatz gilt auch im Rahmen des europäischen Asylsystems und gerade auch bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 80 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 83 ff.; s.a. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 4 GRCh Rn. 3).
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Der genannte Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gilt jedoch nicht absolut im Sinne einer unwiderlegbaren Vermutung, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das gemeinsame europäische Asylsystem in der Praxis auf große Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt. In diesem Fall kann ein ernsthaftes Risiko bestehen, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesem Mitgliedstaat rechtswidrig behandelt werden. Dies zu prüfen obliegt den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 83 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 86 ff.).
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Derartige Funktionsstörungen führen erst dann dazu, dass der Asylantrag nicht als unzulässig abgelehnt werden darf, wenn sie eine besonders hohe Schwelle an Erheblichkeit erreichen und den Antragsteller tatsächlich einer ernsthaften Gefahr aussetzen, im Zielland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren, was von sämtlichen Umständen des Einzelfalles abhängt (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 36; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C -297/17 u.a. – juris Rn. 89). Hierfür ist weder der bloße Umstand ausreichend, dass die Lebensverhältnisse im Rückführungsstaat nicht den Bestimmungen des Kapitels VII der RL 2011/95/EU (Qualifikations-RL) entsprechen (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 36), noch ist das Fehlen familiärer Solidarität die Angehörige des normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats in Anspruch nehmen, um den Mängeln des Sozialsystems dieses Mitgliedstaats zu begegnen eine ausreichende Grundlage für die Feststellung extremer materieller Not. Gleiches gilt für Mängel bei der Durchführung von Integrationsprogrammen (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 94, 96). Daher kann auch der Umstand, dass international Schutzberechtigte in dem Mitgliedsstaat, der sie anerkannt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedsstaaten nur in deutlich reduziertem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne dabei anders als die Angehörigen dieses Mitgliedsstaats behandelt zu werden, nur dann zur Feststellung der Gefahr einer Verletzung des Standards des Art. 4 GRCh führen, wenn die Schutzberechtigten sich aufgrund ihrer besonderen Verletzbarkeit unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not im oben genannten Sinne befänden. Dafür genügt nicht, dass in dem Mitgliedsstaat, in dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, höhere Sozialleistungen gewährt werden oder die Lebensverhältnisse besser sind als in dem Mitgliedsstaat, der bereits internationalen Schutz gewährt hat (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 93 f.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 97).
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Die Schwelle ist jedoch dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedsstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden („Bett, Brot, Seife“ (VGH BW, B.v. 27.5.2019 – A 4 S 1329/19 – juris Rn. 5)), und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 90). Angesichts dieser strengen Anforderungen überschreitet selbst eine durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichnete Situation nicht die genannte Schwelle, wenn diese nicht mit extremer materieller Not einhergeht, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 91).
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1.2 Unter Anlegung dieser Maßstäbe, stellt sich die Ablehnung des Asylgesuchs der Kläger als rechtmäßig dar.
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Für nichtvulnerable, gesunde und arbeitsfähige alleinstehende volljährige Personen besteht nach inzwischen einheitlicher obergerichtlichen Rechtsprechung in Bulgarien derzeit keine Gefahr der Verelendung im Sinne von Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK (VGH Mannheim Beschluss vom 13.10.2022 – A 4 S 2182/22, juris Rn. 5).
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Auch den Klägern, die nicht in die oben genannte Gruppe fallen, weil sie als Familie mit drei kleinen Kindern nach Bulgarien zurückkehren, droht zur Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr nach Bulgarien keine Situation extremer materieller Not, in der sie nicht in der Lage wären, ihre grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen. Anerkannte Flüchtlinge/subsidiär Schutzberechtigte erhalten in Bulgarien ein Identitätsdokument mit fünf/drei Jahren Gültigkeit. Damit kommen ihnen von wenigen Ausnahmen abgesehen dieselben Rechte zu wie bulgarischen Staatsbürgern. Zwar gibt es kaum Integrationshilfe, Probleme bei der Unterkunftsfindung (wenn keine Ausweisdokumente vorliegen) und bürokratische Probleme bei der Beantragung von Sozialleistungen (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Bulgarien, 13.6.2022, S. 13), eine Situation in der die Kläger ihre grundlegenden Bedürfnisse (Bett, Brot, Seife) nicht befriedigen können, droht ihnen deswegen aber nicht.
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Soweit zurückkehrende Familien beim Finden einer Unterkunft oder bei der Beantragung von Sozialleistungen Unterstützung benötigen, können sie sich an das Bulgarische Rote Kreuz, die Caritas, den Rat der Flüchtlingsfrauen sowie an die hiesige Vertretung der Internationalen Organisation für Migration wenden, um in Programme aufgenommen zu werden, die die Familien bei Arbeits- und Wohnungssuche sowie der Beantragung von Sozialleistungen unterstützen (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Hamburgische OVG, 7.4.2021, S.1). Zwar berichteten NROs, dass zurückkehrende Familien am ehesten von Obdachlosigkeit und Armut bedroht seien. Allerdings kämen solche Flüchtlinge auch seitens bulgarischer Behörden zuweilen in den Genuss besonderen Schutzes (z. B. hinsichtlich der Unterbringung) (AA, Auskunft an das Hamburgische OVG, 7.4.2021, S.2).
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Selbst wenn diese Hilfsangebote angesichts der besonders zu berücksichtigenden Vulnerabilität kleiner Kinder (vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 – 29217/12 – HUDOC Rn. 99; VGH Mannheim, Beschluss vom 23. April 2020 – A 4 S 721/20 – juris Rn. 21) mit Blick auf fehlende rechtliche Ansprüche in ihrer Erreichbarkeit und ihrem Umfang als im Einzelfall ungewiss, vage und damit unzureichend angesehen werden (OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 22.9.2020 – OVG 3 B 33.19 –, Rn. 51, juris) ist im konkreten Fall der Kläger jedenfalls nicht zu erwarten, dass diese in eine Situation extremer materieller Not geraten, da zu erwarten ist, dass die Kläger zu 1) und 2) mit entsprechender Eigeninitiative den Lebensunterhalt der Familie sichern können. Die Kläger waren bereits während ihres ersten Aufenthalts in Bulgarien in der Lage, eine Unterkunft zu finden. Sie mieteten eine Wohnung in Sofia an. Das OVG Berlin Brandenburg kommt in seinem Urteil vom 22.9.2020 unter umfassender Beurteilung der mittleren Einkommen und der Lebensunterhaltskosten zu dem Ergebnis, dass bei Schutzberechtigten, die im Familienverband mit mehreren betreuungsbedürftigen (Klein-) Kindern nach Bulgarien zurückkehren, eine ausreichende Existenzsicherung (nur) dann gewährleistet ist, wenn beide Elternteile einer Erwerbstätigkeit nachgehen können (OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 22.9.2020 – OVG 3 B 33.19 –, Rn. 47, juris). Der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) sind jung, gesund und arbeitsfähig. Die Klägerin zu 2) führte in der mündlichen Verhandlung aus, inzwischen keine Folgen ihres Unfalles in der Kindheit mehr zu haben. Soweit das OVG Lüneburg im Urteil vom 7.12.2021 (10 LB 270/20) darauf hinweist, dass Alleinerziehende und Familien mit kleinen Kindern größere Schwierigkeiten hätten, sich ein existenzsicherndes Einkommen in Bulgarien durch eigene Erwerbstätigkeit zu erwirtschaften, da es unter anderen an Betreuungsmöglichkeiten für noch nicht schulpflichtige Kinder fehle, ergibt sich hieraus im Falle der Kläger nicht, dass diese mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Schwierigkeiten bei der Existenzsicherung zu erwarten hätten. Zum einen hat der Kläger zu 1) bereits in der Türkei im Baugewerbe gearbeitet und weist daher berufliche Kenntnisse auf, die ihm auch bei einer Beschäftigung in Bulgarien von Nutzen sein können. Zum anderen stützt sich das OVG Lüneburg auf eine Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Potsdam vom 11.3.2021, in der Folgendes ausgeführt wird: „Besonders vulnerable Flüchtlingsgruppen wie alleinerziehende Frauen oder Familien mit kleinen Kindern haben größere Schwierigkeiten, sich in Bulgarien niederzulassen. Darüber hinaus wird die Arbeitssuche für Alleinerziehende aufgrund des Mangels an freien Kindergartenplätzen vor allem in Sofia erschwert.“ Die Klägerin zu 2) kehrt vorliegend jedoch nicht als Alleinerziehende nach Bulgarien zurück. In einer Familie mit zwei Elternteilen gibt es neben der Fremdbetreuung weitere Möglichkeiten, dass beide Elternteile zum Familieneinkommen beitragen können (schichtversetztes Arbeiten, Heim-/Remotearbeit, Arbeit am Wochenende…). In Bulgarien besuchen zudem immerhin 79,1% der 3-6 Jährigen einen Kindergarten (https://www.nsi.bg/en/content/3550/net-enrolment-rate-population-education-system, abgerufen am 26.9.2022). Auch Kinderkrippen für kleinere Kinder sind verfügbar. Die Kläger zu 3-5 befinden sich inzwischen alle im Kindergarten- oder Schulalter. Die Kläger müssen auch nicht zwingend nach Sofia zurückkehren, sondern können sich auch in anderen Städten oder Dörfern niederlassen.
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Auch soweit das OVG Berlin-Brandenburg in seinem Urteil vom 22.9.2020, OVG 3 B 33.19, ausführt, dass aufgrund langer Wartelisten und komplizierter Anmeldeverfahren nur wenige anerkannte Schutzberechtigte in der Lage sind, ihre Kinder kostenlos in öffentlichen Kindergärten anzumelden, gibt dies die zitierte Quelle nur unvollständig wieder. Der zitierte Bericht der Caritas führt Folgendes aus: „…the younger the children, the less likely refugee women are to work. This is partly explained by the fact that few refugee parents are able to enroll their children into free of charge public kindergartens, due to long waiting lists and complicated enrollment procedures. At the same time, refugees from Middle Eastern countries tend to look after children until the age of 6 that is considered relatively late in Europe. Moreover, the study also shows that when faced with a difficult financial situation in the family women decide to look for a job. Survey results show that all 4 single mothers and 9 out of 12 single women work. By contrast, only 9 out of the 24 married women are employed at present.“ (Caritas Sofia, Refugee Woman and the labour market in Bulgaria, 2019, S. 10). Der Bericht weist damit darauf hin, dass die vom OVG Berlin genannten Probleme lediglich teilweise der Grund sind, weshalb schutzberechtigte Frauen in Bulgarien nicht arbeiten und dass alle befragten alleinerziehenden Mütter und die meisten befragten alleinstehenden Frauen berufstätig waren. Soweit Schutzberechtigte sich jedoch aufgrund kultureller Gebräuche/ heimatlicher Gepflogenheiten dazu entscheiden, nicht zu arbeiten, ist eine hieraus entstehende materielle Not nicht unabhängig von ihrem Willen und ihren Entscheidungen. Der Bericht der Caritas zitiert hierzu sogar noch eine Flüchtlingsfrau mit der Aussage: „She has to be willing to work. Then she can speak to her husband, to calm him down, to explain to him that her working is not humiliating. Sometimes women find excuses in their men for not be willing to work. If she wants to work, she can do it.” (Caritas Sofia, Refugee Woman and the labour market, a.a.O.). Die Kläger können zudem, falls sie tatsächlich zunächst keine kostenlosen Betreuungsplätze finden, auch (vorübergehend) eine bezahlte Kinderbetreuung organisieren, da die Kosten einer solchen üblicherweise nicht das hierdurch mögliche Mehreinkommen aufwiegen, oder die eigene Betreuung durch Wochenendarbeit oder ähnliches organisieren.
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Dass die Kläger bei ihrem ersten Aufenthalt keine Arbeit hatten, führt vorliegend ebenfalls nicht zu einer anderen Einschätzung, da sie sich nach ihrer Anerkennung nur sehr kurze Zeit in Bulgarien aufhielten und nach eigenen Angaben auch von Anfang an nicht vorhatten in Bulgarien zu verbleiben. Der Kläger zu 1) gab in der mündlichen Verhandlung zwar an, sich nach Arbeit umgesehen zu haben, hat sich aber weder an bulgarische Behörden noch an irgendwelche Nichtregierungsorganisationen gewandt um hierbei Hilfe zu erhalten. Die Klägerin zu 2) hat sich in Bulgarien überhaupt nicht um eine Arbeit bemüht, da sie ja die Kinder hatte. Die Kläger haben auch nicht versucht, eine Kinderbetreuung zu finden und hierzu lediglich ausgeführt, sie hätten in Bulgarien nicht bleiben wollen und der Bulgarische Staat kümmere sich nicht darum, dass die Kinder in Kindergärten und Schulen kommen würden. Die Kläger versuchten auch nicht Bulgarisch zu lernen oder sich in Bulgarien zu integrieren, da sie in Bulgarien keine Zukunft sahen und sich die Familie des Klägers zu 1) in Deutschland befindet.
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Dass das Leben in Bulgarien für die Kläger unzweifelhaft schwieriger und anstrengender sein wird, da die Sozialleistungen und das Unterstützungssystem für Schutzberechtigte in Bulgarien mit dem deutschen System bei weitem nicht vergleichbar sind und Schutzberechtigte zu einem deutlich höheren Maß auf eigenes Engagement und die eigene Arbeitskraft angewiesen sind, reicht nach der oben zitierten Rechtsprechung des EuGHs nicht, um den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, der dem europäischen Asylsystem zugrunde liegt, zu widerlegen und die Abweisung des Asylgesuches als unzulässig, rechtswidrig zu machen.
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Die Kläger verfügen zudem über eine große Familie in Deutschland und der Türkei und wurden auch bisher bereits zumindest von der Familie der Klägerin zu 2) unterstützt. Es ist daher damit zu rechnen, dass die Kläger auch bei einer Rückkehr nach Bulgarien finanzielle Unterstützung von Verwandten erhalten können, wenn dies notwendig ist.
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2. Auch die übrigen Ziffern des Bescheids sind rechtmäßig ergangen. Es bestehen insbesondere keine Abschiebungshindernisse. Auf Grund der Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsandrohung (Ziff. 5 des Asylbescheids) entspricht die Abschiebungsandrohung auch den Vorgaben, die sich aus dem Unionsrecht für eine Verbindung von ablehnender Asylentscheidung mit der Rückkehrentscheidung in Gestalt einer Abschiebungsandrohung ergeben. Denn durch die Aussetzung der Vollziehung ist gewährleistet, dass der Kläger ein Bleiberecht bis zur Entscheidung über den maßgeblichen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags hat und dieser Rechtsbehelf seine volle Wirksamkeit entfaltet (vgl. BVerwG Urteil vom 20. Februar 2020 – 1 C 19/19 –, juris unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 19. Juni 2018 – C-181/16 (Gnandi) –, juris Rn. 59 ff.; Beschluss vom 5. Juli 2018 – C-269/18 PPU –, juris Rn. 48 ff.). Zur Begründung bezieht sich das Gericht auf die Begründung des angegriffenen Bescheides, § 77 Abs. 2 AsylG.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben. Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V. m. §§ 708 ff. ZPO.