Inhalt

LG Landshut, Beschluss v. 31.03.2023 – 65 T 580/23
Titel:

Keine Überschreitung der Ausreisefrist während laufender Duldung

Normenkette:
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 3, § 62b
Leitsatz:
Der Zeitraum der Duldung des Betroffenen gemäß § 60a Abs. 2 S. 3 AufenthG aus persönlichen oder humanitären Gründen kann bei der Beurteilung, ob die Ausreisefrist im Sinne von § 62b Abs. 1 S. 2 Nr. 3 lit. d AufenthG erheblich überschritten wurde, nicht berücksichtigt werden. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausreisegewahrsam, Aufenthaltserlaubnis, Ablehnung, Ausreisefrist, Überschreitung, Duldung, humanitäre Gründe, persönliche Gründe, Ermessen, Verhältnismäßigkeit
Vorinstanz:
AG Landshut, Beschluss vom 17.02.2023 – XIV 20/23 (B)
Fundstelle:
BeckRS 2023, 24581

Tenor

I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Landshut vom 17.02.2023, Az. XIV 20/23(B), wird zurückgewiesen.
II. Auf die Beschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Landshut vom 01.03.2023, Az. XIV 20/23(B), rechtswidrig war und den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
III. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Staatskasse.
IV. Der Gegenstandswert wird auf 5.000,-- € festgesetzt.

Gründe

1
Der Betroffene ist nigerianischer Staatsangehöriger.
2
Der Betroffene reiste am 04.03.2022 anlässlich des Krieges in der Ukraine visumsfrei in die Bundesrepublik Deutschland ein; er ist im Besitz eines gültigen nigerianischen Reisepasses und einer bis zum 10.02.2025 befristeten ukrainischen Aufenthaltserlaubnis.
3
Am 13.05.2022 stellte der Betroffene einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz. Am 18.05.2022 wurde dem Betroffenen eine Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 Aufenthaltsgesetz ausgestellt.
4
Mit Bescheid der Ausländerbehörde vom 27.09.2022, zugestellt am 29.09.2022, wurde der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz vom 13.05.2022 abgelehnt. Der Betroffene wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen. Zudem wurde ihm, für den Fall, dass er seiner nachvollziehbaren Ausreiseverpflichtung innerhalb der vorgegebenen Frist nicht freiwillig nachkommt, die Abschiebung nach Nigeria oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat, angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz wurde im Fall einer Abschiebung auf ein Jahr befristet.
5
Am 07.10.2022 wurde dem Betroffenen erstmals eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 Aufenthaltsgesetz ausgestellt, die bis zum 07.01.2023 gültig war und nicht mehr verlängert wurde.
6
Gegen den Bescheid vom 27.09.2022 wurde am 25.10.2022 Klage erhoben und zugleich ein Eilantrag im Hinblick auf die Abschiebungsandrohung gestellt. Mit Beschluss des bayerischen Verwaltungsgerichtes Regensburg vom 18.11.2022 wurde der Eilantrag abgelehnt und mit Gerichtsbescheid vom 18.11.2022 die Klage abgewiesen. Gegen diese Entscheidungen wurde seitens des Betroffenen kein weiteres Rechtsmittel eingelegt.
7
Unter dem 24. Oktober 2022 teilte das Landratsamt der Bevollmächtigten des Betroffenen mit, die Ausländerbehörde habe Kenntnis von der Tatsache, dass der Betroffene aufgrund seines Studiums im Besitz eines befristeten ukrainischen Aufenthaltstitels sei. Allein dieser Umstand führe offenkundig nicht zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG. Sofern nunmehr die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Sprachkurses begehrt werde, werde unter Verweis auf § 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 3 AufenthG um zeitnahe Übersendung von Nachweisen über die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts gebeten. Ebenso sei in diesem Zusammenhang ein Wohnraumnachweis vorzulegen.
8
Mit Anwaltsschreiben vom 2.11.2022 ließ der Antragsgegner der Ausländerbehörde mitteilen, er könne die Voraussetzungen für einen Aufenthalt (Betrag in Höhe von 5.000,00 Euro und ein Zimmer außerhalb der Unterkunft) erfüllen.
9
Mit E-Mail vom 17.11.2022 wies die Ausländerbehörde die frühere Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen darauf hin, wie hoch der monatliche Geldbedarf für den Nachweis einer eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts ist und dass auch die Bezahlung eines Sprachkurses aus eigenen Mitteln erfolgen müsse, da dem Betroffenen andernfalls entgegenzuhalten wäre, seinen Lebensunterhalt nicht ohne Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen sichern zu können.
10
Der Betroffene hat sich bei der Volkshochschule zu einem Integrationskurs Modul I, beginnend am 14.11.2022 angemeldet, wobei der Kurs voraussichtlich am 10.07.2023 enden wird.
11
Am 18.01.2023 legte der Betroffene dem Landratsamt einen Pass der Bundesrepublik Nigeria und eine befristete ukrainische Aufenthaltsgestattung vor. Beide Dokumente wurden einbehalten.
12
Unter dem 17.01.2023 ließ der Betroffene der Ausländerbehörde mitteilen, er habe es geschafft, von allen Leistungen des Staates unabhängig zu sein. Er habe ein Sperrkonto mit einem Betrag in Höhe von 5.378,00 Euro eingerichtet. Des Weiteren zahle er nunmehr die Gebühren für den gesamten Sprachkurs aus eigenen Mitteln. Gemäß den Geschäftsbedingungen der VHS Landshut habe er das jeweils laufende Modul des Sprachkurses (Dauer des Sprachkurses mit Durchlauf aller Module mit Abschluss B2 bis zum 10. Juli 2023) zu entrichten. Derzeit nehme er am Modul 2 teil, welches er bereits bezahlt habe. Der Antragsgegner habe auch privaten Wohnraum gefunden. Der Mietzins betrage 310,00 Euro brutto.
13
Aus einem in der Behördenakte enthaltenen Aktenvermerk vom 13.02.2023 geht hervor, dass am 19.01.2023 ein Telefonat mit der Bevollmächtigten des Betroffenen stattgefunden habe. Sie sei darauf hingewiesen worden, dass im Beschluss des VG Regensburg vom 18.11.2022 dargelegt werde, dass es sich (bei dem vom Antragsgegner belegten Sprachkurs) um keinen studienvorbereitenden Sprachkurs nach §§ 43 ff. AufenthG handle und dass die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 AufenthG, die Einreise mit dem erforderlichen Visum, nicht gegeben sei. Eine Einholung des Aufenthaltstitels im Inland sei nicht möglich, der Antragsgegner müsse ausreisen und das Visumsverfahren nachholen.
14
Das bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen teilte der Ausländerbehörde am 13.02.2023 mit, dass für den Betroffenen ein Abschiebeflug in Form einer Sammelmaßnahme nach Nigeria für den 07.03.2023 vom Flughafen München vorgesehen ist.
15
Mit Antrag vom 17.02.2023 beantragte die Ausländerbehörde, gegen den Betroffenen vom 01.03.2023 bis zum 07.03.2023 Ausreisegewahrsam anzuordnen. Hinsichtlich der Einzelheiten des Antrags wird auf Bl. 1 bis 11 der Akte Bezug genommen.
16
Mit Beschluss vom 17.02.2023 ordnete das Amtsgericht Landshut im Wege der einstweiligen Anordnung den Ausreisegewahrsam ab dem 01.03.2023 bis längstens 07.03.2023 an und erlaubte die Festnahme an dem 01.03.2023 (Bl. 12 bis 16 d.A.).
17
Nach Festnahme des Betroffenen hörte das Amtsgericht Landshut diesen am 01.03.2023 an. Der Betroffene äußerte nach dem Ende seines Sprachkurses, freiwillig nach Nigeria reisen zu wollen, um von dort ein Visum zu beantragen. Er habe bereits eine Studienplatzzusage erhalten. Für den Inhalt der Anhörung wird auf die Niederschrift vom 01.03.2023 Bezug genommen (Bl. 20 bis 22 d.A.).
18
Mit Beschluss vom 01.03.2023 ordnete das Amtsgericht Landshut den Ausreisegewahrsam zur Sicherung der Durchführbarkeit der Abschiebung bis einschließlich 07.03.2023 an (Bl. 23 ff d.A.).
19
Mit Schreiben vom 05.03.2023 legte der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen Beschwerde gegen den Beschluss vom 01.03.2023 ein, beantragte, Verfahrenkostenhilfe unter seiner Beiordnung zu bewilligen und festzustellen, dass der angegriffene Beschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat. Der Betroffene habe für den Abend des 06.03.2023 ein Flugticket von München über Paris nach Nigeria gekauft und wolle freiwillig ausreisen. Der Bevollmächtigte legte eine Kopie dieses Tickets vor.
20
Mit Schreiben vom 06.03.2023 legte der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen Beschwerde gegen den Beschluss vom 17.02.2023 ein, beantragte Verfahrenskostenhilfe unter seiner Beiordnung zu bewilligen und festzustellen, dass der angegriffene Beschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat. Die Unterlagen zur Verfahrenskostenhilfe würde er nachreichen.
21
Mit Schreiben vom 06.03.2023 beantragte der Verfahrensbevollmächtigte die umgehende Haftaufhebung und die Außervollzugsetzung des Beschlusses vom 01.03.2023. Der Verfahrensbevollmächtigte wies darauf hin, dass er beantragt habe, den Betroffenen dem französischen Konsulat vorzuführen, damit dort ein Transitvisum beantragt werden könne. Der Ausreisegewahrsam in der kTA München sei rechtswidrig, weil von dort aus seit 01.03.2023 kein Direktflug nach Nigeria möglich gewesen ist.
22
Mit Schreiben vom 06.03.2023 nahm die Ausländerbehörde zum Beschwerdevorbringen Stellung (Bl. 49 ff d.A.).
23
Mit Verfügung vom 06.03.2023 half das Amtsgericht Landshut der Beschwerde des Betroffenen gegen die Beschlüsse vom 17.02.2023 und vom 01.03.2023 nicht ab (Blatt 47 d.A.) und legte die Akten dem Beschwerdegericht vor.
24
Mit Schriftsatz vom 30.03.2023 begründete der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen seine Beschwerde weiter. Insbesondere rügte er, dass das Amtsgericht keine eigene Ermessensentscheidung getroffen habe und der Beschluss gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen habe. Eine Festnahme schon zum 01.03.2023 sei verfrüht gewesen. Für die Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 30.03.2023 Bezug genommen.
25
Der Beschwerdekammer lag die Ausländerakte vor.
II.
26
Die gemäß §§ 58 ff FamFG in zulässiger Weise eingelegte Beschwerde hat in der Sache teilweise Erfolg.
27
1. Die Beschwerde ist zulässig und kann gemäß § 62 FamFG nach der Erledigung der Hauptsache durch die endgültige Anordnung bzw. die Abschiebung des Betroffenen nach Nigeria am 07.03.2023 als Fortsetzungsfeststellungsbeschwerde fortgesetzt werden. Das hierfür erforderliche Feststellungsinteresse ist vorliegend gemäß § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG gegeben, weil mit einer Freiheitsentziehung ein schwerwiegender Grundrechtseingriff in das Freiheitsgrundrecht verbunden ist (vgl. BGH NJW 2011, 3792).
28
2. Die Beschwerde ist in Bezug auf den Beschluss vom 01.03.2023 auch begründet. Zum Zeitpunkt des Eintritts des erledigenden Ereignisses lagen die Voraussetzungen für die Anordnung von Ausreisegewahrsam nicht mehr vor.
29
Neben dem Ablaufen der Ausreisepflicht über einen nicht nur unerheblichen Zeitraum und der Feststellung, dass die Abschiebung innerhalb der Frist des verhängten Ausreisegewahrsams vollzogen werden kann, erfordert die Anordnung von Ausreisegewahrsam gem. § 62b Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, dass der Ausländer ein Verhalten gezeigt hat, das erwarten lässt, dass er die Abschiebung erschweren oder vereiteln wird. Ein solches Verhalten wird vermutet, wenn er seine gesetzlichen Mitwirkungspflichten verletzt hat, über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht hat, wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen außer Betracht bleiben, oder die Frist zur Ausreise um mehr als 30 Tage überschritten hat.
30
Von der Anordnung des Ausreisegewahrsams ist auch bei Vorliegen dieser Voraussetzungen abzusehen, wenn der Ausländer glaubhaft macht oder wenn offensichtlich ist, dass er sich der Abschiebung nicht entziehen will.
31
1. Zwar hat der Betroffene die Ausreisefrist nicht unerheblich überschritten. Der Betroffene war vollziehbar ausreisepflichtig. Die Abschiebung nach Nigeria wurde ihm in Ziffer 3 des Bescheids vom 27.09.2022 angedroht. Die in dem Bescheid gesetzte Ausreisefrist von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids (Ziffer 2) ist abgelaufen. Die gegen den Bescheid erhobene Klage wurde mit Gerichtsbescheid vom 18. November 2022 (rechtskräftig) abgewiesen und der Bescheid vom 27. September 2022 ist dementsprechend in Bestandskraft erwachsen.
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2. Die Abschiebung war zweifelsohne innerhalb der Ausreisegewahrsamsfrist auch durchführbar. Der Betroffene wurde am 07.03.2023 nach Nigeria abgeschoben.
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3. Zweifelhaft erscheint aber, ob der Betroffene tatsächlich ein Verhalten gezeigt hat, das erwarten lässt, dass er die Abschiebung erschweren oder vereiteln wird. Zwar war vorliegend die Ausreisefrist um mehr als 30 Tage überschritten, so dass ein solches Verhalten kraft Gesetzes vermutet wird. Allerdings war die Abschiebung aufgrund Bescheides der Ausländerbehörde vom 07.10.2022 bis zum 07.01.2023 gemäß § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG, also aus persönlichen oder humanitären Gründen, ausgesetzt. Dieser Zeitraum der Duldung des Betroffenen aus persönlichen oder humanitären Gründen kann bei der Beurteilung, ob die Ausreisefrist erheblich überschritten wurde, nach Ansicht der Beschwerdekammer daher nicht berücksichtigt werden. Denn durch die Duldung wird seitens der Ausländerbehörde gerade zum Ausdruck gebracht, dass der Betroffene in diesem Zeitraum mit einer Abschiebung nicht zu rechnen hat. Würde der Zeitraum einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG bei der Bemessung der Dauer des Überschreitens der Ausreisefrist im Sinn von § 62b AufenthG mitberechnet, müsste ein Ausländer am ersten Tag nach dem Ablauf der Duldung ausreisen, um keinen Ausreisegewahrsam zu riskieren. Die Frist der Überschreitung der Ausreisefrist kann vorliegend daher erst ab den 07.01.2023 berechnet werden. Dazu kommt, dass die Ausländerbehörde mit dem Bescheid vom 24. Oktober 2022 und der E-Mail vom 17.11.2022 das Signal an den Betroffenen gesetzt hat, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Betroffenen in Betracht kommt, wenn dieser dafür sorgt, dass sein Lebensunterhalt gesichert ist. Der Betroffene hat in der Folge alles unternommen, um für seinen Lebensunterhalt selbst zu sorgen und die hierbei unternommenen Schritte und Erfolge dem Ausländeramt regelmäßig, zuletzt mit Schreiben vom 18.01.2023, mitgeteilt. Zwar hat die Ausländerbehörde der Verfahrensbevollmächtigten im Telefonat vom 19.01.2023 mitgeteilt, dass sie die Voraussetzungen für einen Härtefall auch vor dem Hintergrund der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nicht gegeben sehe. Ausweislich der Ausführungen der Verfahrensbevollmächtigten sei in dem Gespräch aber auch eruiert worden, ob der Betroffene die Möglichkeit erhalte, den Sprachkurs zu beenden, damit er im Wege eines späteren Visumsverfahrens zur Aufnahme seines Studiums wieder nach Deutschland einreisen könne. Ausweislich der Behauptungen der früheren Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen habe sich die Ausländerbehörde für dieses Anliegen offen gezeigt und wollte den Betroffenen hierüber informieren. Jedenfalls eine schriftliche Information oder eine eindeutige mündliche des Betroffenen hat dann aber nicht stattgefunden; stattdessen hat die Ausländerbehörde den Ausreisegewahrsam beantragt. Der Betroffene selbst hat im Rahmen seiner Anhörung angegeben, zwar in Deutschland wegen der hier bestehenden beruflichen Möglichkeiten bleiben zu wollen, aber nicht gegen die geltenden Vorschriften verstoßen zu wollen, sondern das erfüllen gewollt zu haben, was ihm seine Verfahrensbevollmächtigte erläutert hatte. Bei dieser Sachlage ist nach Ansicht der Beschwerdekammer fraglich, ob in dem Verhalten des Betroffenen, also in der Anmeldung zum Sprachkurs, in der Anmeldung bei der Hochschule, in der Suche und Anmietung einer Wohnung, tatsächlich ein Verhalten gesehen werden kann, das darauf hindeutet, dass er sich der Abschiebung entziehen will. Nachvollziehbar und nicht ausschließbar erscheint nämlich auch, dass der Betroffene versucht hat, die Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel zu schaffen, den die Ausländerbehörde ihm mit ihrem Bescheid vom 24.10.2022 und ihrer E-Mail vom 17.11.2022 auch in Aussicht gestellt hatte. Aus hiesiger Sicht muss die Ausländerbehörde, wenn sie sich von einem früheren Inaussichtstellen von aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten unter bestimmten Auflagen aus irgendeinem Grund distanzieren will, dies eindeutig und nachvollziehbar tun und klar und unmissverständlich an den Betroffenen kommunizieren. Aus dem Verhalten des Betroffenen, das dieser im Einklang mit den Auskünften der Ausländerbehörde in die Wege geleitet hat, zu schließen, er werde sich der Abschiebung entziehen, ist jedenfalls in einer solchen Sachverhaltskonstellation nicht möglich.
34
4. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Vermutungstatbestand des § 62b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 lit d) AufenthG vorliegend erfüllt ist, hat der Betroffene glaubhaft gemacht, dass er sich der Abschiebung nicht entziehen wollte. Der Betroffene hat in der Anhörung nachvollziehbar dargelegt, wie sich die Sachlage aus seiner Sicht dargestellt hat und dass er durch sein Verhalten nur die von ihm so verstandenen Auflagen der Ausländerbehörde für einen Aufenthaltstitel in Deutschland erfüllen wollte. Der Betroffene hat weiter klargestellt, freiwillig ausreisen zu wollen. Er hat zu diesem Zweck auch die Kopie eines von ihm selbst erworbenen Flugtickets nach Nigeria vorgelegt. Die Umsetzung dieses Reiseplans scheiterte zum einen daran, dass die Ausländerbehörde im Besitz des Reisepasses des Betroffenen war und zum anderen am fehlenden Transitvisum für den Transitaufenthalt in Paris, das der Betroffene genauso wie die Ausländerbehörde in der Kürze der Zeit nicht mehr organisieren konnte. Die Umsetzung der freiwilligen Ausreise des Betroffenen scheiterte daher nicht an seinem mangelnden Ausreisewillen, sondern an den äußeren Umständen. Bei dieser Sachlage ist nach Ansicht der Beschwerdekammer glaubhaft gemacht, dass der Betroffene sich der Abschiebung nicht durch Flucht oder Untertauchen entzogen hätte, wenn er auf freiem Fuß belassen worden wäre. Für ein solches Verhalten gibt es vorliegend keinen tatsächlichen Anhaltspunkt. Der Betroffene war nie untergetaucht, er hat die Ausländerbehörde über seine Verfahrensbevollmächtigte regelmäßig über sein Vorgehen unterrichtet und sich immer um eine Absprache bemüht. Er hatte am 18.01.2023 seinen nigerianischen Reisepass abgegeben; auch dieses Verhalten spricht gegen die Absicht einer Flucht vor Abschiebung. Auch seine Zukunftspläne, nämlich die deutsche Sprache zu erlernen und einen Studienplatz an der Hochschule Landshut als Arztassistent anzunehmen, sprechen gegen eine Untertauchensabsicht, weil sich diese mit einem Untertauchen offenkundig nicht vereinbaren lassen. Die Voraussetzungen für eine Anordnung von Ausreisegewahrsam lagen daher jedenfalls am 06.03.2023 nicht mehr vor.
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5. Die Entscheidung über die Anordnung von Ausreisegewahrsam steht auch bei Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen im pflichtgemäßen Ermessen des Haftrichters. Vorliegend ist aus der Begründung der Entscheidung vom 01.03.2023 nicht erkennbar, dass das Amtsgericht eine eigene Ermessensentscheidung getroffen hat. Zwar führt das Amtsgericht aus, dass vorliegend mildere Mittel als die Freiheitsentziehung nicht in Betracht kommen. Vorliegend sind mildere Mittel aber naheliegend. Der Betroffene hatte ein Sperrkonto für den Nachweis der Sicherung seiner Lebenshaltungskosten in Höhe von mehr als 5.000 € eingerichtet. Er verfügte auch über die Mittel, ein Flugticket nach Nigeria zu erwerben. Die Leistung einer Sicherheit wäre daher als mildere Alternative in Betracht gekommen. Seinen Reisepass hatte der Betroffene ohnehin bereits bei der Ausländerbehörde abgegeben. Nach Ansicht der Beschwerdekammer hätten daher vorliegend ernsthaft in Betracht kommende mildere Mittel existiert, mit denen sich das Amtsgericht nicht näher befasst hat.
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6. Zum Zeitpunkt des Erlasses der einstweiligen Anordnung am 17.02.2023 lagen die Anordnungsvoraussetzungen für den Ausreisegewahrsam hingegen vor. Insbesondere waren damals dringende Anhaltspunkte für die Annahme gegeben, dass die Voraussetzungen für die Anordnung von Ausreisegewahrsam vorliegen. Nach dem Sachvortrag der Ausländerbehörde im Antrag auf Ausreisegewahrsam waren die Anordnungsvoraussetzungen gegeben. Zweifel am Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen ergaben sich vorliegend erst durch die Ausführungen der Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen und dessen eigenen Ausführungen im Rahmen seiner gerichtlichen Anhörung nach seiner Festnahme. Auch die Festnahmeerlaubnis ab dem 01.03.2023 in Ziffer 3 des Beschlusses vom 17.02.2023 ist unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht zu beanstanden. Gerade bei Sammelabschiebungsmaßnahmen besteht ein gewichtiges öffentliches Interesse daran, dass diese auch sinnvoll durchgeführt werden können und sich die abzuschiebenden Personen nicht durch Untertauchen der Maßnahme entziehen. Häufig werden die Termine der Sammelabschiebungsmaßnahmen in bestimmte Staaten im Vorhinein bekannt, so dass die Betroffenen sich durch Untertauchen der Abschiebung entziehen können. Die Festnahme ein paar Tage vor Durchführung der geplanten Maßnahme kann daher ein Untertauchen der Betroffenen besser vermeiden als eine erst unmittelbar vor der beabsichtigen Abschiebung erfolgende Festnahme.
III.
37
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 83 Abs. 2, 81 Abs. 1 Satz 2, 430 FamFG. Über den Antrag auf Verfahrenskostenhilfe konnte mangels Unterlagen zur wirtschaftlichen Situation des Betroffenen nicht entschieden werden.
IV.
38
Der Wert des Beschwerdegegenstands folgt aus § 36 Abs. 3, § 79 Abs. 1 GNotKG.