Titel:
Erfolgloser Eilantrag auf Bewilligung eines Nachteilsausgleichs (Schreibkraft) für die Erste Juristische Staatsprüfung
Normenkette:
BayJAPO § 13 Abs. 1
Leitsätze:
1. Die Gewährung von Nachteilsausgleich kann gesondert begehrt werden, weil es dem Prüfling ist es in der Regel nicht zuzumuten, sich ohne (ausreichenden) Nachteilsausgleich einer umfangreichen und bedeutsamen Prüfung wie der Juristischen Staatsprüfung zu unterziehen und sodann das Prüfungsergebnis in einem Klageverfahren anzugreifen (Anschluss an VG München BeckRS 2014, 100168). (Rn. 14 und 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Nachteilsausgleich nach § 13 Abs. 1 BayJAPO vor, steht dem Prüfling ein Anspruch auf angemessene Kompensation seiner Beeinträchtigung zu, wobei dessen Angemessenheit gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar ist und der Prüfungsbehörde insoweit kein Entscheidungsspielraum zusteht. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3. Angemessen ist ein Nachteilsausgleich, wenn er sich an der konkreten Behinderung orientiert und zur Herstellung von Chancengleichheit erforderlich ist, also nicht zu einer Überkompensation führt. (Rn. 22 und 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erste Juristische, Staatsprüfung, Nachteilsausgleich, Schreibkraft, Erste Juristische Staatsprüfung, Hand, Angemessenheit, Überkompensation
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 06.09.2023 – 7 CE 23.1585
Fundstelle:
BeckRS 2023, 24516
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung, den Antragsgegner zu verpflichten, ihr vorläufig Nachteilsausgleich für die Erste Juristische Staatsprüfung 2023/2 dergestalt einzuräumen, die schriftlichen Arbeiten mit Hilfe einer geeigneten Schreibkraft fertigen zu dürfen.
2
Die Antragstellerin ist im 8. Fachsemester im Studiengang Rechtswissenschaften immatrikuliert. Mit Bescheid vom 21. Juni 2023 wurde sie zum schriftlichen Teil der Ersten Juristischen Staatsprüfung im Termin EJS 2023/2 zugelassen. Die schriftliche Prüfung beginnt am 7. September 2023.
3
Mit E-Mail vom 12. Juli 2023 beantragte die Antragstellerin Nachteilsausgleich. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass es ihr aufgrund einer chronischen Sehnenscheidenentzündung sowie eines Ganglions und multipler Handwurzelblockaden nicht möglich sei, handschriftliche Schreibarbeiten oder das Schreiben an einer Computertastatur länger als eine Stunde auszuführen. Ihr behandelnder Arzt empfehle einen Nachteilsausgleich in Form einer Schreibhilfe oder einer Diktiermöglichkeit.
4
Laut Zeugnis des gerichtsärztlichen Dienstes beim Oberlandesgericht Bamberg, Außenstelle Würzburg, vom 31. Juli 2023 berichtete die Antragstellerin in nicht vollumfänglicher Übereinstimmung mit den Inhalten der vorgelegten Atteste und vorliegenden Informationen über Anamnese, Therapien und klinische Beschwerden. Prinzipiell klinisch nachvollziehbar werde über schmerzhafte Bewegungseinschränkungen und Verkrampfungen im Bereich der rechten Hand bei vermehrter Schreibtätigkeit berichtet. Als Untersuchungsbefund wird angegeben: Angabe eines aktuellen Druckgefühls über der Daumenballenmuskulatur rechts. Keine wesentlichen Beeinträchtigungen der Handgelenks- und Fingerbeweglichkeit beidseits, Einschränkung der Spitz-Stumpf-Diskrimination an Unterarmen und Händen beidseits, klinischer Eindruck der anstrengungsbereiteren Kooperation bezüglich Prüfungen der Handbereiche links gegenüber rechts, unter anderem Hinweis auf eine gewisse Aggravation links gegenüber rechts. Ellenbogen und Schultergelenke beidseits frei beweglich. Unter Anlegung eines engen Bewertungsmaßstab liege bei der Antragstellerin kein Dauerleiden vor. Unter Anlegung eines weniger engen Bewertungsmaßstabes sei aus amtsärztlicher Sicht bei eingeschränkter Belastbarkeit der Schreibhand Nachteilsausgleich in Form einer Schreibzeitverlängerung von bis zu einer Stunde Dauer pro Prüfungstag für den gesamten Zeitraum der Ersten Juristischen Staatsprüfung zu empfehlen.
5
Mit Bescheid vom 1. August 2023 gewährte das Landesjustizprüfungsamt der Antragstellerin Nachteilsausgleich. Die Arbeitszeit zur Anfertigung der schriftlichen Arbeiten der Ersten Juristischen Staatsprüfung 2023/2 werde für sie um sechzig Minuten je Prüfungstag verlängert. Ein darüber hinausgehender Nachteilsausgleich könne nicht gewährt werden, da die Amtsärztin nicht bestätigt habe, dass es der Antragstellerin nicht möglich sei, selbst zu schreiben, sodass die Hinzuziehung einer Schreibkraft erforderlich wäre.
6
Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 22. August 2023, bei Gericht eingegangen am selben Tag, ließ die Antragstellerin gegen den Bescheid Klage erheben. Zugleich begehrte sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sie innerhalb der Frist des § 13 Abs. 2 Satz 1 JAPO einen Antrag auf Nachteilsausgleich gestellt habe. Da es ihr nicht möglich sei, länger als ca. zwei Stunden überhaupt handschriftlich zu schreiben, mache allein die beantragte ausgleichende Maßnahme Sinn. Diese Möglichkeit des Nachteilsausgleiches sei ihr im Rahmen der E-Mail-Korrespondenz grundsätzlich in Aussicht gestellt worden. Unter Vorlage der fachärztlichen Atteste des sie seit Februar 2022 behandelnden Orthopäden habe sie den gerichtsärztlichen Dienst aufgesucht. Mit Bescheid vom 1. August 2023 habe sie die Gewährung eines Nachteilsausgleichs in der Form einer Schreibzeitverlängerung von sechzig Minuten erhalten. Die Orientierung des Antragsgegners an der Empfehlung des gerichtsärztlichen Dienstes werde der medizinischen Situation der Antragstellerin nicht gerecht. Die vorgelegten fachärztlichen Atteste seien bei dieser Empfehlung völlig außer Acht gelassen worden. Der nun gewährte Nachteilsausgleich sei untauglich, um den Grundsatz der Chancengleichheit zu wahren und eine Beeinträchtigung des Wettbewerbs für die Antragstellerin zu vermeiden.
7
Die Antragstellerin beantragt,
den Antragsgegner zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig Nachteilsausgleich für die Erste Juristische Staatsprüfung 2023/2 dergestalt einzuräumen, die schriftlichen Arbeiten mit Hilfe einer geeigneten Schreibkraft fertigen zu dürfen, welche auf Diktat der Antragstellerin die Arbeiten handschriftlich niederlegt.
8
Die Antragsgegnerin beantragt,
9
Der Antrag sei abzulehnen, da ein Anordnungsanspruch nicht bestehe. Mit Bescheid vom 1. August 2023 sei der Antragstellerin Nachteilsausgleich in Form einer Verlängerung der Arbeitszeit zur Anfertigung der schriftlichen Arbeiten der Ersten Juristischen Staatsprüfung 2023/2 um 60 Minuten je Prüfungstag gewährt worden. Gemessen an den Anforderungen des § 13 Abs. 1 Satz 1 JAPO bestehe kein darüber hinausgehender Anspruch der Antragstellerin auf Gewährung eines Nachteilsausgleichs. Die Antragstellerin habe die medizinische Notwendigkeit der begehrten Gestattung der Hinzuziehung einer Schreibhilfe nicht nachgewiesen. Aus amtsärztlicher Sicht sei aufgrund der vorgenommenen Begutachtung die Gewährung eines Nachteilsausgleichs in Form einer Schreibzeitverlängerung empfohlen worden. Es sei dagegen nicht bestätigt worden, dass es der Antragstellerin nicht möglich wäre, selbst zu schreiben. Danach lägen die Voraussetzungen für die Gewährung eines Nachteilsausgleichs in Form der Hinzuziehung einer Schreibhilfe nicht vor. Art und Bemessung einer gebotenen Ausgleichsmaßnahme seien danach auszurichten, dass der das Prüfungsrecht beherrschende Grundsatz der Chancengleichheit nicht verletzt werde. § 13 Abs. 2 Satz 3 JAPO lasse ein vom Prüfungsteilnehmer vorgelegtes privatärztliches Attest im Interesse der Chancengleichheit nicht genügen, sondern fordere ausdrücklich den Nachweis durch ein Zeugnis eines gerichtsärztlichen Dienstes oder eines Gesundheitsamtes. Dies beruhe auf der Überlegung, dass Gerichtsärzte bzw. Amtsärzte über eine besondere Unabhängigkeit und Objektivität verfügten, aufgrund derer sichergestellt sei, dass sie den Gesundheitszustand der Prüfungsteilnehmer objektiv beurteilten. Privatärztliche Gefälligkeitsatteste sollten so ausgeschlossen werden. Die Antragstellerin könne sich nicht mit Erfolg darauf berufen, die Amtsärztin habe die privatärztlichen Empfehlungen „völlig außer Acht gelassen“. Die privatärztlichen Atteste hätten der Amtsärztin vorgelegen. Zur Vermeidung der Gewährung eines die Chancengleichheit der übrigen Prüfungsteilnehmer beeinträchtigenden Nachteilsausgleichs allein auf der Grundlage eines privatärztlichen Gefälligkeitsattestes sei es gerade Aufgabe des Amtsarztes, eine dort ausgesprochene Empfehlung nicht unkritisch zu übernehmen, sondern insbesondere aufgrund einer eigenen Begutachtung des Prüfungsteilnehmers deren Plausibilität kritisch zu hinterfragen. Wie sich dem amtsärztlichen Attest entnehmen lasse, habe die Amtsärztin die Antragstellerin eingehend persönlich untersucht. Sie habe hierbei explizit auch ausgeführt, dass die Beschwerdeschilderungen der Antragstellerin nicht in vollständiger Übereinstimmung mit den Inhalten der privatärztlichen Atteste stünden und dass sich bei der Antragstellerin auch Hinweise auf eine Aggravation gezeigt hätten. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 24. August 2023 verwiesen.
10
Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 28. August 2023 ließ die Antragstellerin daraufhin erwidern, dass sich der Antragsgegner ohne weitere Reflexion im Wesentlichen auf die Schlussfolgerungen des Attestes der Amtsärztin berufe. Der bereits seit Februar 2022 behandelnde spezifische Facharzt habe nach regelmäßigen Untersuchungen der Antragstellerin über längere Zeit zuletzt mit Attest vom 4. Juli 2023 diagnostiziert: „Reizerguss im STT-Gelenk rechts, Ganglion rechtes Daumengrundgelenk, Tendovaginitis extensor pollicis longus rechts, v.a. chronische Tendovaginitis D1, multiple Handwurzelblockaden rechts“. Er habe fachorthopädisch unmissverständlich bestätigt, dass Schreibtätigkeiten über eine Stunde nicht mehr ausgeübt werden könnten. Es sei dringend eine Schreibhilfe oder Diktat mittels Spracherkennungsprogramm zu genehmigen. Das amtsärztliche Attest beziehe sich auf eine angebliche nicht vollumfängliche Übereinstimmung des Berichts der Antragstellerin mit den Inhalten der vorgelegten Atteste. Aus der daran anknüpfenden durchgeführten eigenen Untersuchung schließe die Amtsärztin infolge kurzer Tests ihrerseits dann u.a. auf eine Aggravation der Antragstellerin. Aus der amtsärztlichen Begutachtung sei nicht nachvollziehbar ersichtlich, dass eine wirkliche intensive Auseinandersetzung mit den fachorthopädischen Attesten, insbesondere auch den vorgelegten Unterlagen vom 4. Juli 2023 derart stattgefunden habe, dass die vom Facharzt empfohlenen Ausgleichsmaßnahmen durch Gestattung einer Schreibhilfe ernsthaft in Frage gestellt werden könnten. Es sei angesichts der längeren Krankheitsgeschichte der Antragstellerin nicht nachzuvollziehen, wie von einer Aggravation oder gar von möglichen Gefälligkeitsgutachten ausgegangen werden könnte. Aufgrund der medizinischen Fachrichtung der Amtsärztin sei stark zu bezweifeln, dass die tatsächliche medizinische fachorthopädische Situation der Antragstellerin wirklich medizinisch umfassend korrekt eingeschätzt worden sei. Das Schreiben des behandelnden Orthopäden vom 17. August 2023 bestätige zweifelsfrei, dass in medizinischer Hinsicht die von der Amtsärztin durchgeführte Untersuchung nicht geeignet gewesen sei, fachorthopädisch die Greif- und Haltefunktion der Schreibhand festzustellen, da hierzu dezidierte handchirurgische Untersuchungstechniken erforderlich gewesen wären. Das Schreiben lasse deutlich erkennen, dass auch aus fachorthopädischer Sicht die amtsärztliche Untersuchung, deren Ergebnis und Vorschlag überhaupt nicht nachvollzogen werden könne und ausschließlich ein Nachteilsausgleich in Form der beantragten Schreibhilfe den Grundsatz der Chancengleichheit wahre. Das amtsärztliche Attest bestätige letztlich selbst unstreitig die medizinisch bedingte Einschränkung der Fähigkeit des eigenhändigen Schreibens der Antragstellerin, es würden dann aber mangels fachspezifischer Detailkenntnisse nicht die korrekten Schlussfolgerungen auf den erforderlichen Nachteilsausgleich gezogen. Die Antragstellerin habe durch das amtsärztliche Attest die Anforderungen an den Nachweis einer auszugleichenden Prüfungsbehinderung im Sinne des § 13 JAPO in ausreichendem Maße erbracht. Angesichts der vorgelegten offenkundigen detaillierten fachärztlichen Nachweise sei der Antragsgegner seinerseits gemäß Art. 24 BayVwVfG weitergehend zur Eruierung und Festlegung des wirklich korrekten angemessene Nachteilsausgleichs angehalten, welcher infolge der eindeutigen mehrfachen fachärztlichen Atteste im Lichte der gesamten Krankheitsgeschichte ausschließlich ein Nachteilsausgleich in Form der beantragten Schreibhilfe sein könne. Die Gewährung des Nachteilsausgleiches durch Einschaltung einer Schreibhilfe ohne weitergehende Schreibzeitverlängerung lasse insoweit aufgrund der hiermit verbundenen besonderen Anforderungen auch keine Überkompensation erkennen, welche wiederum umgekehrt die Chancengleichheit im Vergleich zu anderen Prüflingen verletzen würde.
11
Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
12
Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.
13
1. Der Antrag ist zulässig.
14
Die Gewährung von Nachteilsausgleich kann gesondert begehrt werden. Dem Prüfling ist es in der Regel nicht zuzumuten, sich ohne (ausreichenden) Nachteilsausgleich einer umfangreichen und bedeutsamen Prüfung wie der Juristischen Staatsprüfung zu unterziehen und sodann das Prüfungsergebnis in einem Klageverfahren anzugreifen (VG München, B. v. 20.11.2014 – M 4 E 14.5152 – juris Rn. 20f.).
15
2. Der Antrag ist unbegründet.
16
Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung für eine einstweilige Anordnung ist demnach das Vorliegen eines Rechts, dessen Sicherung die Anordnung dient (Anordnungsanspruch) sowie die drohende Vereitelung oder Erschwerung dieses Anspruchs (Anordnungsgrund). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
17
Wegen der Eilbedürftigkeit des Anordnungsverfahrens sind die Anforderungen an das Beweismaß und somit auch an den Umfang der Ermittlung von Sach- und Rechtslage geringer als im Hauptsacheverfahren. Es genügt grundsätzlich eine nur summarische Überprüfung der Sach- und Rechtslage (Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 123 Rn. 23 ff.).
18
Der Antrag ist unbegründet, weil die Antragstellerin keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (dazu 2.1) und zudem faktisch eine endgültige Regelung erstrebt, welche nicht ausnahmsweise im Hinblick auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich erscheint (dazu 2.2).
19
2.1 Die Antragstellerin hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
20
Da sich der Anordnungsanspruch auf den materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, bezieht, ist dieser in der Regel zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung überwiegende Erfolgsaussichten für das Hauptsacheverfahren bestehen.
21
Nach § 13 Abs. 1 der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) vom 13. Oktober 2003 (GVBl. S. 758, BayRS 2038-3-3-11-J), zuletzt geändert durch § 1 der Verordnung vom 17. November 2022 (GVBl. S. 680), erhält auf Antrag einen angemessenen Nachteilsausgleich, wer wegen einer nachgewiesenen Behinderung bei der Fertigung der Prüfungsarbeiten oder der Ablegung der mündlichen Prüfung erheblich beeinträchtigt ist, soweit die Beeinträchtigung nicht das abgeprüfte Leistungsbild betrifft und der Nachteilsausgleich den Wettbewerb nicht beeinträchtigt.
22
Art und Bemessung der danach gebotenen Ausgleichsmaßnahmen sind danach auszurichten, dass der das Prüfungsrecht beherrschende Grundsatz der Chancengleichheit nicht verletzt wird. Prüfungsbedingungen können daher nur insoweit abgeändert werden, als dies erforderlich ist, um den Beeinträchtigungen des betreffenden Prüfungsteilnehmers entgegen zu wirken. Diese (modifizierten) Prüfungsbedingungen sind aber umgekehrt an den für alle Teilnehmer geltenden Bedingungen zu orientieren, um den Grundsatz der Chancengleichheit zu wahren und eine Beeinträchtigung des Wettbewerbs zu vermeiden. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm vor, steht dem Prüfling ein Anspruch auf angemessene Kompensation seiner Beeinträchtigung zu (VG Ansbach, B. v. 29.2.2008 – AN 2 E 08.00317 – juris Rn. 22). Die Frage der Angemessenheit des Nachteilsausgleichs ist gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar, der Prüfungsbehörde steht insoweit kein Entscheidungsspielraum zu (vgl. BayVGH, U.v. 2.6.2022 – 7 B 21.349 – juris Rn. 32).
23
Nach diesen Maßstäben ist der der Antragstellerin mit Bescheid vom 1. August 2023 gewährte Nachteilsausgleich in Form einer Schreibzeitverlängerung ein angemessener Ausgleich ihrer körperlichen Behinderung. Ein darüber hinausgehender Anspruch besteht nicht.
24
Eine Prüfungsbehinderung der Antragstellerin wird seitens des Antragsgegners nicht grundsätzlich bestritten, sondern liegt der gewährten Schreibzeitverlängerung zugrunde. Sie ist nachgewiesen durch das Gesundheitszeugnis des gerichtsärztlichen Dienstes beim Oberlandesgericht Bamberg vom 31. Juli 2023. Dort heißt es insbesondere, dass die Antragstellerin prinzipiell klinisch nachvollziehbar über schmerzhafte Bewegungseinschränkungen und Verkrampfungen im Bereich der rechten Hand bei vermehrter Schreibtätigkeit berichtet und im Ergebnis von einer eingeschränkten Belastbarkeit der Schreibhand ausgegangen wird. Unter Anlegung eines weniger engen Bewertungsmaßstabes sei aus amtsärztlicher Sicht ein Nachteilsausgleich in Form einer Schreibzeitverlängerung von bis zu einer Stunde Dauer pro Prüfungstag für den gesamten Zeitraum der Ersten Juristischen Staatsprüfung zu empfehlen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Gewährung eines Nachteilsausgleichs liegen also vor.
25
Das Gericht geht davon aus, dass der gewährte Nachteilsausgleich in Form der Schreibzeitverlängerung auch angemessen ist. Angemessen ist ein Nachteilsausgleich, wenn er sich an der konkreten Behinderung orientiert und zur Herstellung von Chancengleichheit erforderlich ist, also nicht zu einer Überkompensation führt. Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der Angemessenheit ist dabei die „nachgewiesene Behinderung“ im Sinne des § 13 Abs. 1 Satz 1 JAPO, also grundsätzlich die Behinderung, wie sie seitens der Amtsärztin festgestellt worden ist. Die begutachtende Amtsärztin geht von einer eingeschränkten Belastbarkeit der Schreibhand aus und empfiehlt daher eine Schreibzeitverlängerung.
26
Das Gericht hat keinen Anlass, an dieser Diagnose und der anschließenden Empfehlung zu zweifeln und somit die Angemessenheit des Nachteilsausgleichs in Frage zu stellen. Die Amtsärztin hat insbesondere eine persönliche Begutachtung der Antragstellerin durchgeführt und zusätzlich die ärztlichen Berichte des behandelnden Orthopäden ausgewertet. Sie hält in ihrem Zeugnis fest, dass die Schilderungen der Antragstellerin zu Anamnese, Therapien und klinischen Beschwerden nicht vollumgänglich mit den Inhalten der vorgelegten Atteste übereinstimmen. Dies impliziert, dass sie sich im Detail mit diesen auseinandergesetzt hat und diese nicht etwa, wie der Bevollmächtigte der Antragstellerin meint, völlig außer Acht gelassen habe. Wenn er weiterhin meint, aus der Begutachtung sei nicht nachvollziehbar ersichtlich, dass eine „wirkliche intensive Auseinandersetzung“ mit den Attesten stattgefunden habe, ist dies eine reine Behauptung ohne jegliche Substantiierung. Die besondere Beweiskraft des amtsärztlichen Zeugnisses (§ 173 Satz 1 VwGO, § 418 Abs. 1 ZPO) wird so nicht entkräftet. Hinzu kommt, dass sich insbesondere der ärztliche Befundbericht über einen Zeitraum von fast 1,5 Jahren erstreckt und die „Diagnosen“, die auf S. 7 aufgeführt sind, zeitlich nicht zuzuordnen sind. Somit können diese auch nicht ohne weiteres den amtsärztlichen Feststellungen entgegengehalten werden. Soweit der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin aufgrund der medizinischen Fachrichtung der Amtsärztin stark bezweifelt, dass sie die „tatsächliche medizinische fachorthopädische Situation der Antragstellerin wirklich medizinisch korrekt eingeschätzt“ habe, stellt auch dies lediglich eine subjektive Meinungsäußerung dar. Der Amtsärztin kann nicht pauschal die Sachkunde abgesprochen werden für die Feststellung eines orthopädischen Krankheitsbildes an der Hand. Vielmehr hat sie nachvollziehbar dargelegt, wie sie zu ihrer Einschätzung kommt. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin selbst in ihrem Bericht „nicht vollumfänglich“ übereinstimmte mit den vorgelegten Attesten und die Amtsärztin bei ihrer Empfehlung sogar einen weniger engen Bewertungsmaßstab anlegte. Dass die Amtsärztin eine derart massive Beeinträchtigung, die ein Schreiben von mehr als einer Stunde gänzlich ausschließt, übersehen haben könnte, erscheint nicht plausibel. Vielmehr geht sie lediglich von einer eingeschränkten Belastbarkeit aus. Nach obigen Ausführungen hat das Gericht keinen Anlass, an der medizinischen Fundiertheit dieser Feststellung zu zweifeln. Das amtsärztliche Attest begegnet somit keinen rechtlichen Bedenken. Der Antragsgegner hat dieses zu Recht seiner Entscheidung über den angemessen Nachteilsausgleich zugrunde gelegt. Die Schreibzeitverlängerung stellt vor dem Hintergrund der diagnostizierten Behinderung einen ausreichenden und somit angemessenen Nachteilsausgleich dar.
27
2.2 Die Antragstellerin begehrt zudem in der Sache eine faktisch endgültige Regelung.
28
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und der Antragstellerin nicht schon in vollem Umfang das gewähren, was sie nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnte (Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 123 Rn. 13f.). Grundsätzlich ausgeschlossen ist es demnach, eine Regelung zu treffen, die rechtlich oder zumindest faktisch auf eine Vorwegnahme der Hauptsache hinausläuft.
29
Die Antragstellerin begehrt zwar lediglich, ihr „vorläufig“ den begehrten Nachteilsausgleich zu gewähren. Theoretisch wäre es auch denkbar, einen Nachteilsausgleich nur vorläufig zu gewähren und, sollte sich dies in der Hauptsache als rechtswidrig erweisen, die zu Unrecht mit Nachteilsausgleich abgelegte und bestandene Prüfung nicht zu werten und gegebenenfalls ohne Nachteilsausgleich zu wiederholen (vgl. BayVGH, B. v. 21.11.2014 – 7 CE 14.2498 – juris Rn. 3). Allerdings besteht hier die Besonderheit, dass laut Befundbericht des behandelnden Orthopäden vom 25. Juli 2023 die persistierenden Beschwerden an der rechten Hand der Antragstellerin auf die hohe Schreibtätigkeit im Studium zurückzuführen sind, diese bei Aufgabe der Schreibtätigkeit und begleitender Therapie nach zwei bis drei Wochen abnehmen und aus seiner Sicht von einer vollständigen Ausheilung bei ausbleibender chronischer Überlastung durch die Schreibtätigkeit auszugehen ist. Das bedeutet, dass sich je nach Schonung, Ruhigstellung oder entsprechender Therapie der Zustand der Hand bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache wesentlich verändern kann und es im Nachhinein nicht mehr aufklärbar sein wird, welches Maß die Beschwerden im Zeitpunkt der schriftlichen Prüfungen im September 2023 gehabt haben. Ob die Gewährung des Nachteilsausgleichs zum Zeitpunkt seiner Inanspruchnahme rechtswidrig war, wird sich im Nachhinein nicht mehr mit hinreichender Sicherheit feststellen lassen. Faktisch würde also auch ein nur vorläufig gewährter Nachteilsausgleich nicht mehr rückgängig gemacht werden können, die Hauptsache also zugunsten der Antragstellerin vorweggenommen werden.
30
Die Vorwegnahme der Hauptsache ist hier auch nicht ausnahmsweise zulässig. Eine solche kommt nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht und setzt voraus, dass der Antragstellerin sonst schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile drohen und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch auch begründet ist (Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 66a).
31
Diese Voraussetzungen sind schon deshalb nicht erfüllt, weil der Ausgang des Hauptsacheverfahrens jedenfalls nicht offensichtlich erfolgreich erscheint (siehe Ausführungen zum Anordnungsanspruch).
32
Auch hat die Antragstellerin schwere und unzumutbare Nachteile, die nachträglich nicht mehr beseitigt werden können, nicht hinreichend substantiiert vorgetragen.
33
Im Rahmen der Zumutbarkeit ist zudem zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin ihren Gesundheitszustand selbst hätte beeinflussen und gegebenenfalls sogar eine vollständige Ausheilung oder zumindest starke Verbesserung der Beschwerden herbeiführen können. Bereits im Mai 2022 hatte ihr behandelnder Arzt einen Gips angeraten, falls mit Schiene und Ergotherapie keine Verbesserung der Beschwerden eintrete. Im zweiten Halbjahr 2022 gab es dann offensichtlich eine beschwerdefreie Zeit. Im März 2023 wurde wiederum eine Ruhigstellung empfohlen sowie die dringende Einstellung jeglicher belastender sportlicher Aktivität und des Kellnerns. Im Juni 2023 wurde der Gips wieder angesprochen, wegen der „dauerhaften Schreibtätigkeit“ aber als nicht möglich erachtet. Gleichzeitig wird von einer möglichen vollständigen Ausheilung ausgegangen bei ausbleibender chronischer Überlastung. Die Antragstellerin hat auf eine frühzeitige, längere Ruhigstellung offensichtlich verzichtet, obwohl dies nach Aussage ihres Orthopäden angezeigt gewesen wäre. Vor diesem Hintergrund erscheinen etwaige Nachteile, die ihr durch die Nichtgewährung eines weitergehenden Nachteilsausgleichs im Rahmen des Eilverfahrens entstehen, nicht unzumutbar.
34
Nach alledem war der Antrag abzulehnen.
35
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG, Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.