Titel:
Nachteilsausgleich bei chronischer Überbelastung der Hand und abweichender Beurteilung von Fachärzten
Normenketten:
BayJAPO § 13 Abs 2 S. 3
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4
Leitsätze:
Grundsätzlich ist der Antragsgegner an die gerichts- oder amtsärztlichen Befunde und Einschätzungen gebunden, wenn er zum Nachweis einer Prüfungsbehinderung die Vorlage eines Zeugnisses eines gerichtsärztlichen Dienstes oder eines Gesundheitsamts fordert (§ 13 Abs. 2 Satz 3 JAPO). Lässt sich den Ausführungen des Gerichts- oder Amtsarztes keine hinreichende Grundlage für die von der Prüfungsbehörde zu treffende Entscheidung entnehmen, ist diese gehalten, ggf. eine ergänzende Stellungnahme des Gerichts- oder Amtsarztes einzuholen. Im Einzelfall hat sie sich auch dann um eine weitere Aufklärung zu bemühen, wenn die Feststellungen einer gerichts- bzw. amtsärztlichen Stellungnahme maßgeblich von denen der zugrundeliegenden fachärztlichen Einschätzung abweichen, ohne dass hierfür eine nachvollziehbare medizinische Begründung ersichtlich ist. (Rn. 5 – 14 und 12)
1. Fordert eine Prüfbehörde für den Nachweis einer Beeinträchtigung zur Beurteilung eines prüfungsbedingten Nachteilsausgleichs ein Zeugnis des gerichtsärztlichen Dienstes oder des Gesundheitsamts, ist die Prüfbehörde grundsätzlich an die Empfehlung zum Nachteilsausgleich gebunden. (Rn. 5 – 14 und 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Kommt dabei ein hinzugezogener Facharzt zur gleichen Diagnose, aber einer anderen Empfehlung, muss der gerichtsärztliche Dienst oder das Gesundheitsamt diese auf Nachvollziehbarkeit und Plausibilität prüfen (VGH München BeckRS 2022, 22282). Fehlt es daran, gilt die Festlegung des Facharztes. (Rn. 8 – 14 und 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erstes Juristisches, Staatsexamen, Nachteilsausgleich, Prüfungsbehinderung, Hinzuziehung einer Schreibhilfe, Attest, Schreibzeitverlängerung, Schreibhilfe
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 30.08.2023 – W 2 E 23.1206
Fundstellen:
BeckRS 2023, 24515
LSK 2023, 24515
NJW 2024, 1598
Tenor
I. In Abänderung von Nr. I und II des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 30. August 2023 wird der Antragsgegner verpflichtet, der Antragstellerin als Nachteilsausgleich für die Fertigung der schriftlichen Arbeiten der Ersten Juristischen Staatsprüfung 2023/II die Hinzuziehung einer Schreibhilfe zu gestatten.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 30. August 2023 hat Erfolg. Die gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts erhobenen Einwände der Antragstellerin, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, führen daher zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung. Entgegen den Feststellungen des Verwaltungsgerichts im angegriffenen Beschluss geht der Senat davon aus, dass die Antragstellerin gemäß § 13 Abs. 1 JAPO einen Anspruch auf Hinzuziehung einer Schreibhilfe für die Anfertigung der schriftlichen Prüfungsarbeiten der Ersten Juristischen Staatsprüfung 2023/II hat. Aufgrund der im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats vorliegenden Unterlagen kann die unstreitig bestehende Beeinträchtigung der Antragstellerin mit hoher Wahrscheinlichkeit nur durch Gewährung dieses Nachteilsausgleichs ausgeglichen werden.
2
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung, um wesentliche Nachteile abzuwenden, drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Dabei sind sowohl die tatsächlichen Voraussetzungen des zugrundeliegenden materiellen Anspruchs (Anordnungsanspruch) als auch die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO). Aufgrund der im Eilverfahren verfügbaren Tatsachenbasis müssen – um den Status quo vorzeitig und einstweilen zu verändern – überwiegende Erfolgsaussichten in der Hauptsache bestehen. Nur dann ist sichergestellt, dass lediglich solche Regelungen ergehen, die in der Sache voraussichtlich gerechtfertigt sind (vgl. Schoch in Schoch/Schneider, VwGO, Stand August 2022, § 123 Rn. 74). Entscheidend ist daher, ob die Antragstellerin in der Hauptsache voraussichtlich erfolgreich sein wird. Denn eine einstweilige Anordnung darf grundsätzlich nur ergehen, wenn ein Anordnungsanspruch wahrscheinlich ist.
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I. Die erforderliche Dringlichkeit und damit der Anordnungsgrund für den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ergibt sich aus dem Umstand, dass die streitgegenständliche Prüfung, die aus insgesamt 6 schriftlichen Prüfungsarbeiten zu je 5 Stunden besteht, bereits am 7. September 2023 beginnt.
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II. Entgegen den Feststellungen des Verwaltungsgerichts hat die Antragstellerin gemäß § 13 Abs. 1 JAPO einen Anspruch auf Hinzuziehung einer Schreibhilfe für die Anfertigung der schriftlichen Prüfungsarbeiten der Ersten Juristischen Staatsprüfung 2023/II glaubhaft gemacht.
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1. Wer wegen einer nachgewiesenen Behinderung bei der Fertigung der Prüfungsarbeiten oder der Ablegung der mündlichen Prüfung erheblich beeinträchtigt ist, erhält gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 JAPO auf Antrag einen angemessenen Nachteilsausgleich, soweit die Beeinträchtigung nicht das abgeprüfte Leistungsbild betrifft und der Nachteilsausgleich den Wettbewerb nicht beeinträchtigt. Der Nachweis der Prüfungsbehinderung ist nach § 13 Abs. 2 Satz 3 JAPO durch ein Zeugnis eines gerichtsärztlichen Dienstes oder eines Gesundheitsamts zu führen.
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2. Die Antragstellerin hat durch Vorlage des Zeugnisses des Gerichtsärztlichen Dienstes bei dem Oberlandesgericht Bamberg vom 31. Juli 2023 glaubhaft gemacht, dass bei ihr eine grundsätzlich ausgleichspflichtige Prüfungsbehinderung vorliegt. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Antragstellerin daher einen Anspruch auf Gewährung von Nachteilsausgleich hat. In welcher Form der Antragsgegner der Antragstellerin Nachteilsausgleich zu gewähren hat, ist hingegen zwischen den Beteiligten streitig. Die Gerichtsärztin Frau Dr. B. kommt zu dem Ergebnis, dass als Nachteilsausgleich eine Schreibzeitverlängerung von einer Stunde zu gewähren sei. Der behandelnde Facharzt für Orthopädie empfiehlt als Nachteilsausgleich die Hinzuziehung einer Schreibhilfe oder ein Diktat mittels eines Spracherkennungsprogramms.
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a) Gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 JAPO können für die Fertigung der Prüfungsarbeiten insbesondere eine Verlängerung der Arbeitszeit sowie nicht auf die Arbeitszeit anzurechnende Pausen von insgesamt bis zu einem Viertel der normalen Arbeitszeit, in Fällen einer besonders weitgehenden Beeinträchtigung von insgesamt bis zur Hälfte der normalen Arbeitszeit bewilligt werden. In außergewöhnlichen Einzelfällen steht Prüflingen, deren Fähigkeit, ihr vorhandenes Leistungsvermögen darzustellen, erheblich beeinträchtigt ist, über § 13 Abs. 1 JAPO hinaus ein Anspruch auf Änderung der einheitlichen Prüfungsbedingungen unmittelbar aufgrund des Gebots der Chancengleichheit nach Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG zu. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass Prüflinge hieraus einen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf gleiche Prüfungschancen haben (stRspr, vgl. BVerfG, B.v. 1.7.2021 – 1 BvR 145/20 – NVwZ-RR 2021, 921 Rn. 20 m.w.N.). Den Schwierigkeiten der Prüflinge, die vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten unter Geltung der einheitlichen Bedingungen darzustellen, muss durch geeignete Ausgleichsmaßnahmen Rechnung getragen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht den Prüfungsbehörden bei der Frage, welche Kompensationsmaßnahme zur Wiederherstellung der Chancengleichheit geeignet und geboten ist, kein Entscheidungsspielraum zu. Deshalb haben die Gerichte gemäß Art. 19 Abs. 4 GG zu kontrollieren, ob die organisatorischen Maßnahmen der Prüfungsbehörde ausreichen, um die Chancengleichheit zu erreichen (BVerfG, Kammerbeschluss v. 21.12.1992 – 1 BvR 1295/90 – juris Rn. 19). Der Nachteilsausgleich ist erforderlich, um chancengleiche äußere Bedingungen für die Erfüllung der Leistungsanforderungen herzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 29.7.2015 – 6 C 35.14 – juris Rn. 16). Um eine Überkompensation des Nachteils auszuschließen, müssen die Ausgleichsmaßnahmen auf einen sachlichen Grund zurückzuführen sein, dessen Gewicht die Unterschiede nach Art und Ausmaß zu rechtfertigen vermag (vgl. BVerwG, B.v. 30.6.2015 – 6 B 11.15 – juris Rn. 17).
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b) Ausweislich des vorgelegten ärztlichen Attests des Facharztes für Orthopädie P. Z. vom 4. Juli 2023 und seines ärztlichen Befundberichts vom 25. Juli 2023 leidet die Antragstellerin seit dem 17. Februar 2022 unter Beschwerden im rechten Handgelenk. Der Orthopäde stellte folgende Diagnosen: „Reizerguss im STT-Gelenk rechts; Ganglion rechtes Daumengrundgelenk; Tendovaginitis extensor pollicis longus rechts; V.a. chron. Tendovaginitis D 1; multiple Handwurzelblockaden rechts“. Aufgrund seiner Diagnose kommt der Orthopäde zu der Empfehlung, einen Nachteilsausgleich in Form der Hinzuziehung einer Schreibhilfe oder eines Diktats mittels eines Spracherkennungsprogramms zu gewähren.
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Die untersuchende Gerichtsärztin Frau Dr. B wertete laut ihrem Zeugnis vom 31. Juli 2023 die ärztlichen Berichte bzw. Befunde der Privatarztpraxis P. Z. aus. Anhand einer Videokonferenz mit der Antragstellerin am 28. Juli 2023 und einer persönlichen Begutachtung stellte Frau Dr. B. Folgendes fest: „In nicht vollumfänglicher Übereinstimmung mit den Inhalten der vorgelegten Atteste und vorliegenden Informationen berichtete die 22-jährige Probandin über Anamnese, Therapien und klinische Beschwerden. Es wird hingegen prinzipiell klinisch nachvollziehbar über schmerzhafte Bewegungseinschränkungen und Verkrampfungen im Bereich der rechten Hand (Schreibhand) bei vermehrter Schreibtätigkeit berichtet“. Als Untersuchungsbefund gab sie an: „Bei anamnestischer Schreibtätigkeit am Vormittag vor der Untersuchung am 31.07.2023 unter anderem: Angabe eines aktuellen Druckgefühls über der Daumenballenmuskulatur rechts, keine wesentlichen Beeinträchtigungen der Handgelenks- und Fingerbeweglichkeit beidseits; Einschränkung der Spitz-Stumpf-Diskrimination an Unterarmen und Händen beidseits; klinischer Eindruck der anstrengungsbereiteren Kooperation bezüglich Prüfungen der Handbereiche links gegenüber rechts, unter anderem Hinweis auf eine gewisse Aggravation mit Angabe eines längeren Vibrationsempfindens bei bereits 0/8 (Null Vibration) links gegenüber rechts. Ellenbogen und Schultergelenke beidseits frei beweglich.“ Eine von den privatärztlichen Feststellungen abweichende Diagnose ist – soweit ersichtlich – in diesen Ausführungen nicht enthalten.
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Frau Dr. B. empfiehlt als Nachteilsausgleich eine Schreibzeitverlängerung von einer Stunde. Dem ist der Antragsgegner mit Bescheid vom 1. August 2023 nachgekommen.
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3. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist der der Antragstellerin vom Antragsgegner gewährte Nachteilsausgleich, die Zeit für die Anfertigung jeder schriftlichen Prüfungsarbeit um eine Stunde zu verlängern, nicht geeignet, ihre Schreibbeeinträchtigung zu kompensieren und damit chancengleiche Prüfungsbedingungen (Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG) herzustellen. Die Antragstellerin kann ausweislich des Fachorthopädischen Attests vom 4. Juli 2023 durch eine chronische Überlastung der bindegewebigen Strukturen im rechten Handgelenk als Rechtshänderin weder über einen längeren Zeitraum ein Schreibgerät (Stift, Kugelschreiber) noch einen Computer oder eine elektrische Schreibmaschine bedienen. Im Schreiben vom 17. August 2023 führt der behandelnde Orthopäde des Weiteren aus, bei der Antragstellerin entstehe relativ schnell ein sog. Memory-Effekt des Bindegewebes und deshalb nutze ihr ein Nachteilsausgleich in Form einer Zeitverlängerung nichts. Soweit Frau Dr. B. in ihrer gerichtsärztlichen Stellungnahme vom 31. Juli 2023 unter Berücksichtigung der ihr vorliegenden fachärztlichen Atteste zu einem hiervon abweichenden Ergebnis kommt, fehlt es an einer nachvollziehbaren Erläuterung hierfür. Der Senat sieht deshalb eine angemessene Ausgleichsmaßnahme darin, der Antragstellerin die Hinzuziehung einer Schreibhilfe für die Anfertigung der schriftlichen Prüfungsarbeiten der Ersten Juristischen Staatsprüfung 2023/II zu gestatten.
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a) Grundsätzlich ist der Antragsgegner an die gerichts- oder amtsärztlichen Befunde und Einschätzungen gebunden, wenn er zum Nachweis einer Prüfungsbehinderung die Vorlage eines Zeugnisses eines gerichtsärztlichen Dienstes oder eines Gesundheitsamts fordert (§ 13 Abs. 2 Satz 3 JAPO). Diese Regelung stellt gerade auf die besondere Sachkunde und insbesondere die Unabhängigkeit und Objektivität der dortigen Mediziner ab. Gerichtsärzte bzw. Amtsärzte sollen, ohne auf die dem Arzt-Patientenverhältnis zu Grunde liegende Vertrauensbeziehung Rücksicht nehmen zu müssen, den Gesundheitszustand der Prüflinge objektiv beurteilen. Privatärztliche Gefälligkeitsatteste sollen so ausgeschlossen werden. Mit diesem Vorgehen geht einher, dass Gerichts- bzw. Amtsärzte im Rahmen ihrer Begutachtung auch fachärztliche Privatatteste hinzuziehen müssen, weil weder gerichtsärztliche Dienste noch Gesundheitsämter über Ärzte aller Fachrichtungen verfügen. Gleichermaßen fehlt es dort an der teilweise für Untersuchungen notwendigen besonderen apparativen Ausstattung. Gerichts- bzw. Amtsärzte sind daher gehalten, sich von den Prüflingen ggf. aktuelle fachärztliche Atteste vorlegen zu lassen. Sie haben die dortigen Feststellungen – soweit dies möglich ist – im Rahmen des Arztgesprächs und anhand eigener Untersuchungen auf Plausibilität und Nachvollziehbarkeit zu überprüfen (vgl. BayVGH, U.v. 2.6.2022 – 7 B 21.349 – juris Rn. 35).
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b) Das gerichtsärztliche Gutachten von Frau Dr. B., die selbst Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Sozialmedizin, suchtmedizinische Grundversorgung und Verkehrsmedizin ist, ist nicht geeignet, die Feststellungen des behandelnden Orthopäden in Zweifel zu ziehen, die Antragstellerin könne aufgrund einer „chronischen Überlastung der bindegewebigen Strukturen im rechten Handgelenk“ als Rechtshänderin über einen längeren Zeitraum weder ein Schreibgerät (Stift, Kugelschreiber) noch einen Computer oder eine elektrische Schreibmaschine bedienen. Mit dieser Feststellung setzt sich Frau Dr. B. weder auseinander, noch benennt sie eine abweichende Diagnose, die geeignet wäre, diese Feststellungen zu widerlegen.
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Soweit das Verwaltungsgericht hierzu ausführt, die Gerichtsärztin Frau Dr. B. gehe von einer eingeschränkten Belastbarkeit der Schreibhand aus und empfehle daher eine Schreibzeitverlängerung, ist dies nicht überzeugend. Der Begründung, sie habe nachvollziehbar dargelegt, wie sie zu ihrer Einschätzung komme, kann der Senat nicht folgen. Die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, die Gerichtsärztin habe in ihrem Zeugnis festgehalten, die Schilderungen der Antragstellerin zu Anamnese, Therapien und klinischen Beschwerden stimmten nicht vollumfänglich mit den Inhalten der vorgelegten Atteste überein und dies impliziere, dass sie sich im Detail mit diesen auseinandergesetzt habe, teilt der Senat nicht. Eine Erklärung, was medizinisch daraus folgt, bleibt das gerichtsärztliche Zeugnis schuldig. Dass Frau Dr. B. bei ihrer Empfehlung, der Antragstellerin für die Anfertigung jeder schriftlichen Prüfungsarbeit eine Stunde Schreibzeitverlängerung zu gewähren, nach Auffassung des Verwaltungsgerichts lediglich von einer eingeschränkten Belastbarkeit der rechten Hand der Antragstellerin ausgeht und nicht von einer massiv eingeschränkten Belastbarkeit, findet keine Entsprechung im gerichtsärztlichen Zeugnis.
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Der Einwand des Antragsgegners, die materielle Beweislast für die Voraussetzung der Gewährung des begehrten Nachteilsausgleichs liege grundsätzlich beim Prüfungsteilnehmer, führt nicht dazu, dass dem gerichtsärztlichen Attest allein schon deshalb zu folgen wäre. Die Antragstellerin hat sich unter Vorlage aktueller fachärztlicher Atteste bzw. Unterlagen in der von § 13 Abs. 2 Satz 3 JAPO vorgeschriebenen Art und Weise um den gerichtsärztlichen Nachweis ihrer Erkrankung bemüht. Sie hat damit ihre verfahrensrechtlichen Mitwirkungspflichten erfüllt. Etwaige Mängel des gerichtsärztlichen Zeugnisses fallen daher in der Regel nicht mehr in ihre, sondern in die Sphäre der Prüfungsbehörde (vgl. BayVGH, U.v. 2.6.2022 – 7 B 21.349 – juris Rn. 36). Lässt sich den Ausführungen des Gerichts- oder Amtsarztes keine hinreichende Grundlage für die vom Antragsgegner zu treffende Entscheidung entnehmen, ist dieser gehalten, ggf. eine ergänzende Stellungnahme des Gerichts- oder Amtsarztes einzuholen. Im Hinblick auf seine Verpflichtung aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG, chancengleiche Prüfungsbedingungen zu gewährleisten, hat sich der Antragsgegner im Einzelfall grundsätzlich auch dann um eine entsprechende Aufklärung zu bemühen, wenn zwischen den Feststellungen einer gerichts- bzw. amtsärztlichen Stellungnahme und einer dieser zugrundeliegenden fachärztlichen Einschätzung ein durchgreifender Unterschied besteht, der vom Gerichts- bzw. Amtsarzt nicht durch eine nachvollziehbare medizinische Begründung erläutert wird. Entsprechendes hat der Antragsgegner nicht veranlasst, obwohl in Anbetracht des gerichtsärztlichen Zeugnisses mit Datum 31. Juli 2023 noch ausreichend Zeit gewesen wäre. Ein derartiges Versäumnis kann nicht der Antragstellerin zur Last gelegt werden.
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Soweit der Antragsgegner sich darauf beruft, mit der Verpflichtung des Antragsgegners, der Antragstellerin den gewünschten Nachteilsausgleich zu gewähren, würde „die Entscheidung in der Hauptsache faktisch – vorläufig – vorweggenommen“, kann ihm nicht gefolgt werden. Die vorläufige Entscheidung nach § 123 VwGO nimmt die Hauptsache nicht unabänderlich vorweg. So könnte die unter Hinzuziehung einer Schreibhilfe abgelegte Prüfung dann als nicht gewertet behandelt werden und entsprechend eine Wiederholung verlangt werden, wenn der Antragsgegner – trotz der nach Beendigung der Prüfung eintretenden Erledigung der Hauptsache – auf der Durchführung eines Hauptsacheverfahrens besteht und sich dort herausstellen sollte, dass die Beeinträchtigung der Antragstellerin durch den gewährten Nachteilsausgleich überkompensiert worden wäre (vgl. BayVGH, B.v. 21.11.2014 – 7 CE 14.2498 – juris Rn. 3). Das Risiko hierfür trägt letztlich die Antragstellerin. Die Ansicht des Verwaltungsgerichts, die Beschwerden an der Hand der Antragstellerin könnten bei Aufgabe der hohen Schreibtätigkeit infolge des Studiums und bei begleitender Therapie vollständig ausheilen und es wäre im Nachhinein nicht mehr aufklärbar, welches Maß die Beschwerden im Zeitpunkt der schriftlichen Prüfungen im September 2023 gehabt hätten, lässt außer Betracht, dass maßgebliche Grundlage für eine Beurteilung der Beeinträchtigung in einem Hauptsacheverfahren die gerichtsärztlichen und privatärztlichen Untersuchungsbefunde wären, die bereits erstellt wurden. Diese müssten unter Umständen gutachterlich ausgewertet werden.
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III. Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass die Anfertigung von Prüfungsarbeiten in der Ersten Juristischen Staatsprüfung mit Hilfe einer Schreibkraft eher als erschwerender Umstand zu werten sein dürfte. Eine Klausurlösung mittels Diktat zu erstellen, dürfte für einen Studierenden eine besondere Herausforderung im Vergleich zu der üblichen schriftlichen Bearbeitung einer Prüfungsarbeit, zumal mit einer Schreibzeitverlängerung von einer Stunde, darstellen. Nicht gefolgt werden kann infolgedessen den Bedenken des Antragsgegners, mit einer derartigen Entscheidung erfolge eine Überkompensation, der die Grundrechte, insbesondere Art. 3 Abs. 1 GG, der übrigen Prüfungsteilnehmer entgegenstünden.
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IV. Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.