Inhalt

VG Regensburg, Beschluss v. 10.07.2023 – RN 3 E 23.964
Titel:

Gestattung eines Gastschulbesuchs in einer Sport-Mittelschule

Normenkette:
BayEUG Art. 43 Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
Zwingende Gründe im Sinne des Art. 43 Abs. 1 S. 1 BayEUG müssen nicht in der Person des schulpflichtigen Kindes liegen, sondern können sich ebenso aus den Verhältnissen der Erziehungsberechtigten ergeben, zB aus dem berufsbedingten Fehlen einer Betreuungsmöglichkeit. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Betreuungsmöglichkeit, zwingende Gründe, Gastschulbesuch, Sport-Mittelschule, Skoliose-Erkrankung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 05.09.2023 – 7 CE 23.1299
Fundstelle:
BeckRS 2023, 24513

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerseite begehrt die einstweilige Zulassung der Antragstellerin zu 1, der Tochter der Antragsteller zu 2 und 3, als Gastschülerin an der Sport-Mittelschule H1. Die Antragsteller sind im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin wohnhaft. Die Antragstellerin zu 1, geb. am … 2013, besucht im Schuljahr 2022/2023 die vierte Klasse der Grundschule … im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin.
2
Mit Antrag vom 9. Januar 2023, dem ein ärztliches Attest vom 15. November 2022 beigefügt war, und mit erneutem Antrag vom 24. Januar 2023, dem zusätzlich ein ärztliches Attest vom 16. Januar 2023 beigefügt war, beantragten die Antragsteller zu 2 und 3 für die Antragstellerin zu 1 die Gewährung eines Gastschulaufenthaltes an der zum Verband des Beigeladenen gehörenden Sport-Mittelschule H1. Zur Begründung wurde angegeben, dass beide Eltern in einer Art Wechselschicht berufstätig seien und somit eine Ganztagsbetreuung gewährleistet sein müsse. Des Weiteren sei eine Ganztagsbetreuung laut der beiliegenden Atteste bei der Antragstellerin zu 1 empfohlen bzw. dringend angeraten worden. Aus dem Attest vom 15. November 2022 geht hervor, dass es für die Antragstellerin zu 1 aus psychischen und sozialen Gründen sehr wichtig sei, eine gebundene Ganztagsschule zu besuchen. Das Attest vom 16. Januar 2023 enthält die Aussage, dass sich die Antragstellerin zu 1 in Behandlung der ausstellenden Ärzte befinde und aus orthopädischer Sicht zur Erhaltung der verbliebenen Restgesundheit eine intensive sportliche Betätigung erforderlich sei. Eine Aufnahme in die Sport-Mittelschule H2 … wäre daher dringend angeraten.
3
Die Sport-Mittelschule H1. sowie die Mittelschule H2. als Sprengelschule stimmten dem Antrag vom 24. Januar 2023 zu. Der Beigeladene als aufnehmender Schulaufwandsträger stimmte dem Antrag nicht zu und verwies hierbei darauf, dass zwingende persönliche Gründe nicht vorlägen.
4
Mit Bescheid vom 7. Februar 2023 lehnte die Antragsgegnerin die Anträge ab. Zur Begründung gab sie im Wesentlichen an, dass der Beigeladene dem Antrag nicht zugestimmt habe und keiner der von den Antragstellern aufgeführten Gründe einen zwingenden persönlichen Grund darstelle. Auf den Bescheid wird wegen seiner Einzelheiten Bezug genommen.
5
Mit bei der Antragsgegnerin am 9. Februar 2023 eingegangenem Schreiben legten die Antragsteller zu 2 und 3 Widerspruch gegen den Bescheid ein und begründeten diesen mit weiterem Schreiben vom 14. Februar 2023 unter anderem damit, dass die Antragstellerin zu 1 auch in einem Verein aktiv sei und hier regelmäßig Sport mache. Ebenfalls habe sie eine Rechtschreibschwäche, die „ebenfalls unter der Woche ausgeübt wird natürlich auch in ihrer Freizeit“. Durch den Sport und den Schulunterricht („privat und Jugendamt Förderung“) habe sie keinen Tag mehr frei, um privat Sport zu machen. Daher sei eine Gesundung der Tochter ohne die Sport-Mittelschule H1. nicht möglich, die Mittelschule H2. könne diesen Sportbedarf nicht umsetzen. Zudem habe H2. nur für die fünfte und sechste Klasse eine gebundene Ganztagsklasse eingerichtet, sodass die Antragstellerin zu 1 also nach der sechsten Klasse die Schule wieder wechseln müsste.
6
Mit Schreiben vom 14. Februar 2023 teilte die Antragsgegnerin den Antragstellern mit, dass dem Widerspruch nicht abgeholfen werde und dieser dem Schulamt zur Entscheidung vorgelegt werde. Auf das Schreiben wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen. Aus einem Aktenvermerk der Antragsgegnerin vom 15. Februar 2023 geht hervor, dass die Begründung des Widerspruchs erst nach Erlass und Versendung des Nichtabhilfeschreibens eingegangen, diese aber sofort an das Schulamt weitergeleitet worden sei.
7
Das Staatliche Schulamt im Landkreis P. wies mit Widerspruchsbescheid vom 12. April 2023 den Widerspruch der Antragsteller zurück. Eine für den gastweisen Besuch einer anderen Schule nötige individuelle Ausnahmesituation liege nicht vor. Zwingende persönliche Gründe lägen nicht vor. Auf den Bescheid wird vollumfänglich Bezug genommen.
8
Mit Schriftsatz vom 15. Mai 2023 wurde Klage (Az. RN 3 K 23.878) erhoben, mit weiterem Schriftsatz vom 30. Mai 2023 ließen die Antragsteller den gegenständlichen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stellen. Zur Begründung wird im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Zuständige Sprengelschulen für die fünfte Klasse seien die zum Mittelschulverbund S. gehörende Grund- und Mittelschule S. sowie die Mittelschule H2. Neben der beruflichen Tätigkeit der Eltern sei für die Bewilligung des Antrags entscheidend, dass aus psychischen und sozialen sowie insbesondere aus sportorthopädischen Gründen der Besuch einer gebundenen Ganztagsschule mit einem umfassenden Sport- und Gesundheitsangebot für die Antragstellerin zu 1 aus ärztlicher Sicht dringend anzuraten sei. Der Antrag sei zulässig, insbesondere stehe dem Rechtsschutzbedürfnis nicht eine Vorwegnahme der Hauptsache entgegen, da eine Zulassung zur Sport-Mittelschule H1. durch einen Wechsel auf die Sprengelschule wieder revidiert werden könnte. Gehe man davon aus, dass ein Zurückwechseln auf die Sprengelschule ab dem nächsten Schuljahr im Sinne des Kindeswohls nicht vertretbar wäre und daher durch den vorliegenden Antrag die Hauptsache vorweggenommen würde, so liege aber auch der hierfür notwendige hohe Grad an Wahrscheinlichkeit des Erfolgs in der Hauptsache vor. Die zu erwartenden Nachteile seien für die Antragstellerin zu 1 unzumutbar, sofern die Hauptsache abgewartet werden müsste. Zwingende persönliche Gründe i.S.v. Art. 43 Abs. 1 BayEUG lägen vor. Die Interessen der Antragstellerin zu 1 – ihr Kindeswohl sowie der Schutz ihrer Gesundheit – überwögen deutlich das grundsätzliche Interesse an der – vorläufigen – Einhaltung der Sprengelpflicht. Weitere Interessen habe die Antragsgegnerin nicht dargetan. Ebenso würde die Abweisung des Antrags eine immense Belastung für die Antragsteller zu 2 und 3 bedeuten, die ohne einen Wechsel auf die Sport-Mittelschule H1. neben dem regulären Schulbesuch der Antragstellerin zu 1 und ihren jeweiligen Berufen eine alternative Sport- und Gesundheitsförderung für die Antragstellerin zu 1 organisieren müssten. Es handle sich somit um eine individuelle Ausnahmesituation, die es unter Berücksichtigung des Kindeswohls für die Antragstellerin zu 1 unzumutbar mache, die zuständige Sprengelschule zu besuchen. Die beiden zum Mittelschulverbund S. gehörenden Mittelschulen könnten aufgrund ihrer Ausrichtung und Ausstattung schlicht nicht das leisten, was für die Rehabilitation und Förderung des Gesundheitszustandes der Antragstellerin zu 1 aus ärztlicher Sicht notwendig sei. Die Sport-Mittelschule H1. biete ein breitgefächertes Sport- und vor allem Gesundheitsangebot an (vgl. hierzu: https://www.sportmittelschule-hauzenberg.de/unsere-schule/sportangebote/).
9
Dabei werde ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt, indem auch die anderen Fächer in einem sportlichen Kontext unterrichtet würden und darauf geachtet werde, dass sich die Schülerinnen und Schüler auch in normalen Unterrichtsstunden ausreichend bewegten. Die Sport-Mittelschule erfülle dabei alle Voraussetzungen, um zu einer Verbesserung oder sogar vollständigen Regeneration der Krankheit der Antragstellerin zu 1 erheblich beizutragen. Langes Sitzen ohne genügend Ausgleich und Bewegung verschlechtere das Krankheitsbild der bei der Antragstellerin zu 1 diagnostizierten Skoliose-Erkrankung, sodass durch eine ablehnende Entscheidung die nicht geringe Möglichkeit bestehe, dass sich der Gesundheitszustand der Antragstellerin zu 1 weiter verschlechtere und nur durch immense Anstrengungen und einer Intensivierung der medizinischen bzw. physiotherapeutischen Behandlung verbessert werden könnte. Dies hätten die Antragsteller zu 2 und 3 zusammen mit ihrer Tochter dann neben Schule und Beruf zu leisten, was – aufgrund der Vielzahl an Terminen bei u.a. Physiotherapeuten und Ärzten, die die Schülerin dann in ihrer Freizeit wahrnehmen müsste – nicht nur ihre schulische, sondern auch ihre soziale und psychische Entwicklung gefährde, da in diesem Fall kaum Raum für Freizeit mit Klassenkameraden und damit für das Erlernen von Sozialkompetenz verbleibe. Mit einem Wechsel auf die Sportmittelschule H1. könnte man insofern gleich mehrere Probleme auf einmal angehen. Ein Anordnungsgrund bestehe ebenfalls, da die Antragstellerin zu 1 zum neuen Schuljahr 2023/24 in die fünfte Klasse wechsle und mit einer Entscheidung in der Hauptsache vor Beginn des Schuljahrs 2023/24 am Dienstag, den 12. September 2023, nicht zu rechnen sei.
10
Mit dem Schriftsatz legt die Antragstellerseite – neben den Attesten vom 15. November 2022 und vom 16. Januar 2023 – zwei weitere Atteste vor: Aus einem Attest vom 17. April 2023 geht die Diagnose „Linkskonvexe thorakolumbale Early Onset Skoliose mit einem Cobb-Winkel von 15 Grad“ hervor. Die Intensität der sportlichen Betätigung sei für den Erfolg der Behandlung und die Vermeidung von Gesundheitsschäden bei der Organentwicklung, insbesondere bis zum Wachstumsabschluss, sehr wichtig. Es werde daher dringend empfohlen, dem Antrag zur Aufnahme in die Sportschule stattzugeben. Ein Attest vom 27. Februar 2023 enthält eine ausführliche Diagnose, auf die vollumfänglich verwiesen wird, sowie die Therapieempfehlung: „Konservative Therapie, KG nach Schroth, Wiedervorstellung in 6 Monaten“.
11
Unter dem 16. Juni 2023 trägt die Antragstellerseite weiter zum Vorliegen zwingender persönlicher Gründe vor und reicht ein weiteres Attest vom 14. Juni 2023 ein, aus dem unter anderem hervorgeht, dass die Patientin – die Antragstellerin zu 1 – angehalten werde, sich maximal sportlich zu betätigen. Bei Voranschreiten der Erkrankung könne die Organentwicklung von z.B. Lunge und Herz nachhaltig gestört werden, sodass sowohl die Lebenserwartung als auch die Lebensqualität gefährdet seien. Eine Sportschule biete daher eine medizinisch wertvolle Möglichkeit, die Progredienz der Erkrankung zu reduzieren, ggfs. zu verhindern. Es werde daher dringend die Genehmigung im Sinne der Gesundheit der Patientin empfohlen.
12
Die Antragsteller beantragen,
der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO aufzugeben, der Antragstellerin zu 1, gemeinsame Tochter der Antragstellerin zu 2 und des Antragstellers zu 3, den Gastschulbesuch in der Gastschule Sport-Mittelschule H1., …, … H1. vorläufig – jedenfalls für das Schuljahr 2023/2024 – zu gestatten.
13
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
14
Zur Begründung ihres Antrags führt die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 9. Juni 2023 im Wesentlichen Folgendes aus: Ein Anordnungsanspruch sei nicht gegeben. Zum einen habe der Beigeladene als aufnehmender Schulaufwandsträger das nach Art. 43 Abs. 1 Satz 2 BayEUG erforderliche Einvernehmen verweigert. Bereits aus diesem Grund habe die Antragsgegnerin den Antrag ablehnen müssen, und allein dies indiziere die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung. Unabhängig hiervon lägen aber auch keine zwingenden persönlichen Gründe vor. Der noch im Gastschulantrag angegebene berufliche Grund der Antragsteller zu 2 und 3 werde im Rahmen des Antrags auf einstweilige Anordnung offensichtlich nicht mehr – zumindest nicht mehr als Hauptargument – weiterverfolgt. Ohnehin sei der Vortrag hinsichtlich der „Wechselschicht“ der Elternteile bisher unsubstantiiert, nicht einlassungsfähig, und es müsse mit Nichtwissen bestritten werden, dass die Arbeitstätigkeit der Eltern tatsächlich eine Auswirkung auf die Betreuung der Antragstellerin zu 1 habe. Mangels Glaubhaftmachung müsse dieser Vortrag im Eilverfahren außer Acht bleiben. Zudem sei auch an der Mittelschule H2 … eine Ganztagsbetreuung sowohl in offener als auch in gebundener Form möglich und ein Besuch der Sport-Mittelschule H1. deshalb nicht notwendig. Auch anderweitige zwingende persönliche Gründe lägen nicht vor. Die hierfür notwendige individuelle Ausnahmesituation sei nicht schon bei allgemein auftretenden Schwierigkeiten gegeben, die eine größere Zahl von Eltern und Schülern beträfen, insoweit sei ein strenger Maßstab anzulegen. Eine Unzumutbarkeit des Besuchs der Sprengelschule ergebe sich auch nicht aus den vorgelegten ärztlichen Attesten und Bescheinigungen. Das Attest vom 16. Januar 2023 sei zur Glaubhaftmachung unbrauchbar, da es keine Diagnose enthalte und aus ihm nicht ersichtlich werde, aus welchem Grund eine Aufnahme in die Sport-Mittelschule H1. gesundheitlich von Vorteil wäre. Dasselbe gelte für das Attest vom 15. November 2022, da keine Diagnose gestellt werde und da auch die Mittelschule H2 … eine Ganztagsbetreuung anbiete. In der ärztlichen Bescheinigung vom 17. April 2023 finde sich zwar eine Diagnose, allerdings keine konkrete Begründung dafür, warum gerade in der Sport-Mittelschule H1. eine Verbesserung der Gesundheit der Antragstellerin zu 1 eintreten würde. Eine Korrelation zwischen den diagnostizierten Beschwerden der Antragstellerin zu 1 und dem Sportangebot in der Sport-Mittelschule H1. werde nicht hergestellt. Die ärztliche Bescheinigung äußere sich auch nicht dazu, aus welchem Grund anderweitige sportliche Betätigung nicht zum selben Ergebnis oder einem besseren Ergebnis führen würde. In der ärztlichen Bescheinigung vom 27. Februar 2023 finde sich eine Diagnose, werde jedoch ein Zusammenhang mit der Sport-Mittelschule H1. nicht hergestellt. Insgesamt sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht ersichtlich, wie das Sportangebot der Sport-Mittelschule H1. zu einer Verbesserung der Gesundheit der Antragstellerin zu 1 führen würde bzw. könnte, sodass die Möglichkeit einer Verbesserung bestritten werden müsse. Die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein relevante summarische Prüfung müsse zu dem Ergebnis kommen, dass ein zwingender persönlicher Grund für einen Gastschulbesuch nicht begründbar und der Gastschulantrag von der Antragsgegnerin im Ergebnis zu Recht abgelehnt worden sei.
15
Mit Beschluss vom 26. Juni 2023 hat das Gericht den Schulverband H1. zum Verfahren beigeladen. Der Beigeladene verweist mit Schriftsatz vom 6. Juli 2023 auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid sowie in der Antragserwiderung und stellt keinen eigenen Antrag.
16
Zur Vervollständigung des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten in den Verfahren RN 3 E 23.964 sowie RN 3 K 23.878 sowie die im Verfahren RN 3 K 23.878 vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
17
Der zulässige Antrag im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist nicht begründet.
18
1. Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn die Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung).
19
Im Hinblick auf die durch Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) gewährleistete Garantie effektiven Rechtsschutzes ist der Antrag begründet, wenn der geltend gemachte Anspruch hinreichend wahrscheinlich ist (Anordnungsanspruch) und es dem Antragsteller schlechthin unzumutbar ist, das Ergebnis des Hauptsacheverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund). Diese Voraussetzungen sind gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen.
20
Im Verfahren nach § 123 VwGO muss ein Antrag regelmäßig nicht in der Weise bestimmt sein, wie es § 82 Abs. 1 Satz 2 VwGO für das Hauptsacheverfahren vorschreibt. Es genügt, wenn die Antragsteller das Rechtsschutzziel angeben, da das Gericht den Inhalt der einstweiligen Anordnung nach eigenem Ermessen bestimmt (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO, vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 33).
21
Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang, wenn auch nur auf beschränkte Zeit und unter Vorbehalt der Entscheidung in der Hauptsache, das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheverfahren erreichen könnte. Die Hauptsache vorwegnehmenden Anträgen kann im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG in Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO aber ausnahmsweise dann entsprochen werden, wenn das Abwarten in der Hauptsache für den Antragsteller schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile zur Folge hätte (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – juris Rn. 5 m.w.N.; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 66a) und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch begründet ist (vgl. BayVGH, B.v. 12.5.2016 – 6 CE 16.371 – juris Rn. 6; VGH BW, B.v. 18.3.2014 – 4 S 509/14 – juris Rn. 2 m.w.N.; Happ, a.a.O., § 123 Rn. 66a). An die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens ist in diesen Fällen ein strenger Maßstab anzulegen (BVerwG, B.v. 13.8.1999 – 2 VR 1/99 – NJW 2000, 160, 162; BayVGH, B.v. 7.4.2021 – 4 CE 21.601 – juris Rn. 19).
22
2. Nach diesem Maßstab ist der Antrag unbegründet, da das Bestehen des geltend gemachten Anspruchs auf Grundlage des bisherigen Vortrags nicht hinreichend wahrscheinlich und somit ein Anordnungsanspruch zu verneinen ist.
23
a) Die Antragstellerseite stützt ihren Anspruch auf Art. 43 Abs. 1 Satz 1 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG), wonach auf Antrag der Erziehungsberechtigten aus zwingenden persönlichen Gründen der Besuch einer anderen Grundschule oder Mittelschule mit einem anderen Sprengel gestattet werden kann. Auf Grundlage des bisherigen Vortrags der Antragstellerseite in den Verfahren RN 3 E 23.964 und RN 3 K 23.878 samt der vorgelegten Unterlagen bzw. Behördenakten kann jedoch nicht mit hinreichend großer Wahrscheinlichkeit vom Vorliegen zwingender persönlicher Gründe für den gastweisen Besuch der Sport-Mittelschule H1. ausgegangen werden.
24
(1) Zwar ist für die gerichtliche Entscheidung unerheblich, dass die Antragsgegnerin – insofern korrekt – den Antrag schon wegen der verweigerten Zustimmung des Beigeladenen abgelehnt hat, da das Gericht, würde es das Vorliegen zwingender persönlicher Gründe i.S.d. Art. 43 Abs. 1 Satz 1 BayEUG mit der nötigen Wahrscheinlichkeit bejahen, die fehlende Zustimmung ersetzen könnte (vgl. Lindner/Stahl: Das Schulrecht in Bayern, 255. EL, Stand April 2023, Art. 43 BayEUG Erl. 2.2.2 (1) sowie VG München, U.v. 21.1.2002 – M 3 K 01.4950 – juris Rn. 26 m.w.N.).
25
(2) Beim Erfordernis der „zwingenden persönlichen Gründe“ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der vom Verwaltungsgericht voll überprüfbar ist und bei dem der Gemeinde kein Beurteilungsspielraum zukommt (vgl. Lindner/Stahl: Das Schulrecht in Bayern, 255. EL, Stand April 2023, Art. 43 BayEUG Erl. 2.2.3 (2)).
26
Zur Frage, wann vom Vorliegen entsprechender Gründe ausgegangen werden kann, führt etwa der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 25. Januar 2010 (7 ZB 09.3009 – BeckRS 2010, 48602 Rn. 14 f.) aus:
„Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats liegen solche Gründe nur vor, wenn die persönlichen Nachteile beim Besuch der zuständigen Sprengelschule deutlich schwerer wiegen als das öffentliche Interesse an der Einhaltung der Sprengelpflicht (BayVGH vom 29.1.1979 VGH n. F. 32, 70; vom 3.2.1992 Az. 7 CE 91.3062; vom 14.11.1997 Az. 7 ZE 97.2952 und vom 10.9.2009 Az. 7 CE 09.2110; vgl. auch Kiesl/Stahl, Das Schulrecht in Bayern, Anm. 2 zu Art. 43 BayEUG). Für den gastweisen Besuch einer anderen Volksschule muss demnach eine individuelle Ausnahmesituation vorliegen, die es unter Berücksichtigung des Wohls des Kindes unter dem Gesichtspunkt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unzumutbar macht, die zuständige Sprengelschule zu besuchen. Das ist nicht schon bei allgemein auftretenden Schwierigkeiten der Fall, die eine größere Zahl von Eltern und Schülern betreffen. Es muss sich vielmehr um besondere, individuelle Umstände handeln, die eine vom Normalfall abweichende, durch den Besuch der Sprengelschule bedingte Belastung ergeben.“
27
(3) Nach dem vorstehend aufgezeigten Maßstab kann aus dem Vortrag, dass die Antragsteller zu 2 und zu 3 in einer Art „Wechselschicht“ arbeiten, ein zwingender persönlicher Grund gerade für den Besuch der Sport-Mittelschule H1. nicht hergeleitet werden. Zwar müssen die zwingenden Gründe im Sinne des Art. 43 Abs. 1 Satz 1 BayEUG nicht in jedem Falle in der Person des schulpflichtigen Kindes gegeben sein, sondern können sich ebenso aus den individuellen Verhältnissen der Erziehungsberechtigten ergeben, z. B. aus dem berufsbedingten Fehlen einer Betreuungsmöglichkeit während unterrichtsfreier Zeiten (vgl. BayVGH, B.v. 25.1.2010 – 7 ZB 09.3009 – BeckRS 2010, 48602 Rn. 15). Jedoch wurden zur beruflichen Situation der Antragsteller zu 2 und 3 weder Einzelheiten vorgetragen, noch ist eine Glaubhaftmachung dieser Situation erfolgt. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass an der Sprengelschule, der Mittelschule H2 …, ebenfalls ein Ganztagsprogramm angeboten wird. Der Vortrag, dass an der Sprengelschule nur für die fünfte und sechste Jahrgangsstufe eine Ganztagsklasse eingerichtet worden sei, kann vorliegend ein anderes Ergebnis ebenfalls nicht begründen, da nicht absehbar – und daher im Rahmen des vorliegenden Beschlusses auch nicht berücksichtigungsfähig – ist, wie sich die Situation auf Seiten der Antragsteller in den nächsten Jahren entwickeln wird. Zudem bietet die Mittelschule H2. nach den Informationen, welche die Schule im Internet zur Verfügung stellt, auch für diejenigen Kinder eine Nachmittagsbetreuung an, die nicht die Ganztagsklassen besuchen (vgl. insofern …). Aus Sicht des Gerichts soll mit dem die Berufstätigkeit der Antragsteller zu 2 und 3 betreffenden Vortrag darüber hinaus begründet werden, dass aufgrund der beruflichen Verpflichtungen sowie aufgrund der erforderlichen Begleitung der Antragstellerin zu 1 zu Terminen bei Ärzten, Physiotherapeuten, zu sportlichen Aktivitäten und wohl auch zu weiteren Förderterminen aufgrund ihrer Rechtschreibschwäche, eine Begleitung durch die Eltern zu weiteren sportlichen Aktivitäten nicht gewährleistet werden kann und dass auch aus diesem Grund der Besuch der Sport-Mittelschule H1. notwendig ist, um das erforderliche Sportpensum der Antragstellerin zu 1 erfüllen zu können. Auch insofern fehlt jedoch eine Glaubhaftmachung der Arbeitsbelastung der Eltern sowie der Termine der Antragstellerin zu 1 und ist nicht hinreichend aufgezeigt und glaubhaft gemacht, inwiefern gerade die Sport-Mittelschule H1. den individuellen Sportbedarf der Antragstellerin zu 1 decken könnte und somit tatsächlich geeignet wäre, die Antragsteller zu 2 und zu 3 zu entlasten, vgl. hierzu sogleich unter 2. a) (4).
28
(4) Soweit die Antragstellerseite die Skoliose-Erkrankung der Antragstellerin zu 1 und den aufgrund dessen erhöhten Sportbedarf der Schülerin vorbringt, kommt grundsätzlich durchaus in Betracht, dass gerade aus der gesundheitlichen Verfassung eines Schülers bzw. einer Schülerin ein zwingender persönlicher Grund für den gastweisen Besuch einer anderen Schule folgt. Denn während im Regelfall der bloße Wunsch, eine bestimmte Schule aufgrund ihres Profils zu besuchen, keinen zwingenden persönlichen Grund i.S.d. Art. 43 Abs. 1 Satz 1 BayEUG darstellen dürfte (vgl. hierzu etwa BayVGH, B.v. 25.01.2010 – 7 ZB 09.3009 – BeckRS 2010, 48602 Rn. 16), kann nach Auffassung des Gerichts etwas anderes dann gelten, wenn ein spezielles Bedürfnis für den Besuch einer Schule mit einem entsprechenden, besonderen Schulprofil gegeben ist. Ein solches Bedürfnis kann nach Ansicht des Gerichts im Einzelfall auch aufgrund einer Erkrankung gegeben sein, sodass eine individuelle Ausnahmesituation, in der ein besonderes Interesse am Besuch der Gastschule und damit auch eine besondere, unzumutbare Belastung beim Besuch der Sprengelschule bestehen kann, vorliegend grundsätzlich in Betracht kommt.
29
Die Erkrankung der Antragstellerin zu 1 ist durch die vorgelegten Atteste, welche zum Teil (Atteste vom 27. Februar 2023, vom 17. April 2023 sowie vom 14. Juni 2023) auch eine Diagnose enthalten, auch glaubhaft gemacht.
30
Nicht ausreichend glaubhaft gemacht ist jedoch, ob und aus welchem Grund gerade die Sport-Mittelschule H1. aufgrund ihres Schulprofils tatsächlich – und zwar besser als die Sprengelschule und besser als private sportliche Betätigung neben dem Besuch der Sprengelschule – in der Lage und ihr Besuch daher erforderlich wäre, um den individuellen, aufgrund der Erkrankung gegebenen Bedarf der Antragstellerin zu 1 abzudecken.
31
Zwar ergeben sich aus den vorgelegten Attesten die ärztliche Empfehlung, sich „maximal sportlich zu betätigen“ (vgl. das Attest vom 14. Juni 2023) sowie die Aussage, dass die Intensität der sportlichen Betätigung für den Erfolg der Behandlung und die Vermeidung von Gesundheitsschäden bei der Organentwicklung, insbesondere bis zum Wachstumsabschluss, sehr wichtig sei (vgl. das Attest vom 17. April 2023). Der Zusammenhang zwischen der Erkrankung der Antragstellerin und einem grundsätzlich erhöhten Bedarf an sportlicher Betätigung wird somit sichtbar.
32
Auch enthalten die Atteste zum Teil die dringende Empfehlung zum Besuch gerade der Sport-Mittelschule H1. (vgl. die Atteste vom 16. Januar 2023, vom 17. April 2023 sowie vom 14. Juni 2023). Allerdings geht die Grundlage für diese Empfehlung – abgesehen von dem allgemeinen Schluss, dass sportliche Betätigung für die Gesundheit der Antragstellerin zu 1 förderlich sei und dass eine Sportschule eine medizinisch wertvolle Möglichkeit biete, die Progredienz der Erkrankung zu reduzieren, gegebenenfalls zu verhindern (vgl. das Attest vom 14. Juni 2023) – aus den Attesten und dem weiteren Vortrag der Antragstellerseite gerade nicht hervor.
33
Denn insofern fehlt einerseits eine Auseinandersetzung damit, welches Sportprogramm an der Sport-Mittelschule H1. tatsächlich angeboten wird und wie – auch aus Sicht der Schule selbst – die Antragstellerin zu 1 konkret trotz ihrer Erkrankung in den Schulalltag und das Sportprogramm eingebunden werden könnte und würde. Dass zwei auf den 10. bzw. 25. Januar 2023 datierende Zustimmungen der Sport-Mittelschule H1. zu den Gastschulanträgen vorliegen, hat diesbezüglich keine Aussagekraft, da die beiden zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Atteste noch keine Diagnose enthielten, sodass die Sport-Mittelschule H1. zu diesem Zeitpunkt auch keine Aussage darüber treffen konnte, in welcher Weise die Antragstellerin zu 1 eingebunden und gefördert werden könnte. Auch die Tatsache, dass die Sport-Mittelschule H1. aufgrund der Sprengelpflicht nach Art. 42 Abs. 1 BayEUG (vgl. zum Sprengel: https://www.km.bayern.de/allgemein/meldung/4108/schulsprengel-grundschulen-und-mittelschulen-in-bayern.html) auch auf die Aufnahme von Schülerinnen und Schülern aus ihrem Sprengel vorbereitet sein muss, die körperlich nicht in der Lage sind, alle oder auch nur den Großteil der angebotenen Sportarten auszuüben, hat bezüglich der konkreten Situation der Antragstellerin zu 1 noch keine hinreichende Aussagekraft.
34
Ferner und ergänzend hierzu fehlt die ärztliche Einschätzung bzw. Bescheinigung, ob die Antragstellerin zu 1 die jeweils angebotenen und für sie an der Sport-Mittelschule H1. konkret in Aussicht stehenden Sportarten trotz ihrer Krankheit auch tatsächlich ausüben könnte, und ob deren Ausübung aus ärztlicher Sicht auch gewünscht und für eine Verbesserung ihres Gesundheitszustands notwendig bzw. hilfreich wäre. Hinzu kommt, dass aus den ärztlichen Bescheinigungen – oder aus anderen Unterlagen – nicht hervorgeht, warum in der individuellen Situation der Antragstellerin zu 1 gerade das Sportprogramm und die Förderung an der Sport-Mittelschule H1. für die Gesundheit der Antragstellerin zu 1 förderlicher wären als sportliche Aktivitäten, die sie in ihrer Freizeit oder an der Sprengelschule ausüben könnte. Es ist damit insgesamt nicht hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht, warum der Besuch dieser Schule nicht nur allgemein vorteilhaft, sondern notwendig, und damit der Besuch der Sprengelschule unzumutbar wäre.
35
(5) Nach alldem kann, jedenfalls im Rahmen der im vorliegenden Eilverfahren vorzu-nehmenden summarischen Prüfung aufgrund der bisher vorgelegten Unterlagen, nicht mit der hinreichenden Wahrscheinlichkeit vom Bestehen des geltend gemachten Anspruchs ausgegangen werden. Entsprechend war auch die verweigerte Zustimmung des Beigeladenen nicht (vorläufig) zu ersetzen.
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 162 Abs. 3 VwGO. Da der Beigeladene keinem Kostenrisiko ausgesetzt war (§ 154 Abs. 3 VwGO), entspricht es der Billigkeit, seine Kosten nicht als erstattungsfähig anzusehen.
37
Die Höhe des Streitwerts ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG), § 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. Ziffern 38.4 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.