Inhalt

VGH München, Beschluss v. 10.08.2023 – 6 ZB 23.1135
Titel:

Anwaltliche Erklärung der tatsächlichen Zustellung

Normenketten:
VwGO § 56 Abs. 2, § 124a Abs. 4 S. 4
ZPO § 173 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, § 189
Leitsätze:
1. In einer Anwaltssozietät ist jeder Anwalt berechtigt, Dokumente auch für die anderen Angehörigen der Partnerschaft als zugestellt entgegenzunehmen. Sowohl der Auftraggeber als auch der Rechtsanwalt haben nämlich grundsätzlich den Willen, das Mandatsverhältnis mit allen Mitgliedern der Sozietät zu begründen. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
2. Benennt ein prozessbevollmächtigter Rechtsanwalt ein Datum der tatsächlichen Zustellung, erbringt eine solche Erklärung den vollen Beweis und ist einem Empfangsbekenntnis gleichgestellt. (Rn. 5 – 6) (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
3. An den Nachweis eines falschen Datums sind strenge Anforderungen zu stellen. Der Gegenbeweis ist vollständig erst dann erbracht, wenn die Beweiswirkungen des § 175 ZPO entkräftet sind und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angabe auf dem Empfangsbekenntnis richtig sein könnte. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Unzulässiger Antrag auf Zulassung der Berufung, Versäumung der Begründungsfrist, Zustellung eines elektronischen Dokuments, Zustellung an Anwaltssozietät, Zustellungsmangel (kein elektronisches Empfangsbekenntnis), Heilung, Benennung des Zustelldatums in der Antragsschrift, Beweiswirkung, Anforderungen an den zulässigen Gegenbeweis, Begründungsfrist, Empfangsbekenntnis, Zustellung, Nachweis, Gegenbeweis
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 10.05.2023 – RO 11 K 21.1636
Fundstelle:
BeckRS 2023, 24510

Tenor

I. Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 10. Mai 2023 – RO 11 K 21.1636 – wird verworfen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 85.895,28 € festgesetzt.

Gründe

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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unzulässig, weil er nicht innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO begründet worden ist.
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Nach dieser Vorschrift sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Diese gesetzliche, richterlich nicht verlängerbare Frist hat die Klägerin versäumt. Das erstinstanzliche Urteil wurde ihren Prozessbevollmächtigten vom Verwaltungsgericht vollständig und mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrungversehen am 16. Mai 2023 gemäß § 56 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit § 173 Abs. 1 bis 3 ZPO als elektronisches Dokument auf einem sicheren Übermittlungsweg zusammen mit einem Empfangsbekenntnis in Form eines strukturierten Datensatzes zugestellt.
3
1. Die Zustellung eines elektronischen Dokuments an einen Rechtsanwalt ist gemäß § 173 Abs. 3 Satz 1 ZPO an dem Tag als bewirkt anzusehen, an dem dieser das ihm zugestellte Schriftstück mit dem Willen entgegengenommen hat, es als zugestellt gegen sich gelten zu lassen und dies nach außen kundgetan hat (vgl. BVerwG, B.v. 27.6.2015 – 9 B 33.15 – juris Rn. 5 m.w.N.; BGH, B.v. 24.3.2021 – LwZB 1/20 – juris Rn. 9 m.w.N.; 19.4.2012 – IX ZB 303/11 – juris; BGH, U.v. 18.1.2006 – VIII ZR 114/05 – juris Rn. 8). Die zumindest konkludente Äußerung des Willens, das Schriftstück zur Zustellung anzunehmen, ist zwingende Voraussetzung der wirksamen Zustellung (Schultzky in Zöller, ZPO, § 175 Rn. 4). Denn auch für den Fall der elektronischen Übermittlung eines Dokuments an einen Rechtsanwalt hat der Gesetzgeber daran festgehalten, den Nachweis der Zustellung an ein voluntatives Element zu knüpfen und hierfür nicht allein die automatisierte Eingangsbestätigung ausreichen zu lassen (BVerwG, B.v. 19.9.2022 – 9 B 2.22 – juris Rn. 10). Dabei ist aber zu beachten, dass in einer Anwaltssozietät grundsätzlich jeder Anwalt berechtigt ist, Dokumente auch für die anderen Angehörigen der Partnerschaft als zugestellt entgegenzunehmen (vgl. BFH, B.v. 22.9.2015 – V B 20/15 – juris). Denn nach ständiger höchstrichterlichen Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass ein Rechtsanwalt, der einer Anwaltssozietät angehört, ein ihm angetragenes Mandat zur Prozessführung in der Regel im Namen dieser Sozietät annimmt, d.h. nicht nur sich persönlich, sondern auch den oder die mit ihm zur gemeinsamen Berufsausübung verbundenen Kollegen verpflichtet. Sowohl der Auftraggeber als auch der Rechtsanwalt haben nämlich grundsätzlich den Willen, das Mandatsverhältnis mit allen Mitgliedern der Sozietät zu begründen (vgl. BGH, B.v. 13.11.2002 – XII ZB 104/01 – juris Rn. 7 m.w.N.).
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2. Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin – eine Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Haftung – haben zwar den Empfang des ihnen am 16. Mai 2023 per EGVP übermittelten erstinstanzlichen Urteils vom 10. Mai 2023 nicht zeitnah mittels elektronischen Empfangsbekenntnisses bestätigt. Dies ist jedoch hier unbeachtlich.
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Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, gilt es danach in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist. Legt ein prozessbevollmächtigter Rechtsanwalt – wie im vorliegenden Fall – gegen ein Urteil, das ihm zugestellt werden soll, ein Rechtsmittel ein und benennt er dabei ein Datum der tatsächlichen Zustellung, so bestätigt er damit nicht nur den Eingang des Urteils in seiner Kanzlei an diesem Tag, sondern auch, dass er – oder ein empfangsbevollmächtigter Vertreter – bereit war, das Urteil an diesem Datum entgegen und zur Kenntnis zu nehmen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 27.3.2001 – 2 BvR 2211/97 – juris Rn. 19; OVG Saarl, B.v. 21.2.2020 – 2 E 340/19 – juris Rn. 12; B.v. 24.6.2019 – 2 A 140/19 – juris Rn. 7; NdsOVG, B.v. 28.5.2019 – 13 ME 136/19 – juris Rn. 3).
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Die Hinausgabe einer solchen Erklärung ist einem Empfangsbekenntnis gleichgestellt (vgl. OLG Frankfurt, B.v. 26.6.2022 – U 102/22 – juris Rn. 25).
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In ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung vom 16. Juni 2023 haben die Prozessbevollmächtigten der Klägerin ausdrücklich als Tag der Zustellung des angefochtenen Urteils den 16. Mai 2023 angegeben und damit den erforderlichen Nachweis der Zustellung unter diesem Datum erbracht (vgl. OVG Saarl, B.v. 21.2.2020 – E 340/19 – juris Rn. 12; BGH, B.v. 12.9.2017 – XI ZB 2/17 – juris Rn. 12; U.v. 19.4.1994 – VI ZR 269/93 – juris Rn. 12). Diese Angabe bringt – in gleicher Weise wie ein zurückgesandtes elektronisches Empfangsbekenntnis – grundsätzlich den vollen Beweis dafür, dass das Urteil an diesem Tag von einem der Kanzlei angehörenden Anwalt mit dem Willen entgegengenommen worden ist, es zu behalten und damit als zugestellt gelten zu lassen (vgl. OLG Frankfurt, B.v. 26.6.2022 – U 102/22 – juris Rn. 25; OVG NW, B.v. 10.11.2020 – 2 B 1263/20 – juris Rn. 7).
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3. Die Klägerin muss sich an dem dem elektronischen Empfangsbekenntnis gleichgestellten schriftsätzlich erklärten Empfangsbekenntnis festhalten lassen. Den durch den Schriftsatz vom 16. Juni 2023 erbrachten vollen Beweis für die Zustellung des Urteils bereits am 16. Mai 2023 (vgl. Musielak/Voit/Wittschier, ZPO, 19. Aufl. 2022, § 175 Rn. 4) haben die Klägervertreter nicht hinreichend erschüttert. An den – grundsätzlich zulässigen – Nachweis eines falschen Datums sind strenge Anforderungen zu stellen (vgl. BVerfG, B.v. 27. März 2001 – 2 BvR 2211/97 – juris). Der Gegenbeweis ist vollständig erst dann erbracht, wenn die Beweiswirkungen des § 175 ZPO entkräftet sind und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angabe auf dem Empfangsbekenntnis richtig sein könnte (vgl. BVerwG, B.v. 19.9.2022 – 9 B 2.22- juris Rn. 7 m.w.N.; OVG NW, B.v. 10.11.2020 – 2 B 1263/20 – juris Rn. 7; BGH, B.v. 24.3.2021 – LwZB 1/20 – juris Rn. 9; U.v. 18.1.2006 – VIII ZR 114/05 – juris Rn. 8 m.w.N.; Schultzky in: Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022 § 173 Rn. 18 m.w.N).
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a) Für den von der Klägerin zu erbringenden Gegenbeweis genügt die Erklärung ihrer Prozessbevollmächtigten nicht, „der zuständige Anwalt und Sachbearbeiter“ habe von dem erstinstanzlichen Urteil erst am 19. Mai 2023 Kenntnis erlangt, weshalb von einer Zustellung erst an diesem Tag auszugehen sei. Bei den Prozessbevollmächtigten der Klägerin handelt es sich um eine Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Haftung.
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Wie bereits oben dargelegt ist grundsätzlich jeder Anwalt einer solchen Sozietät empfangsberechtigt (vgl. BGH, U.v. 14.12.1979 – V ZR 146/78 – juris Rn. 9), so dass es für die Bestimmung des Zustellungszeitpunktes nicht maßgeblich sein kann, wann der kanzleiintern als zuständiger Sachbearbeiter bestimmte Sozius tatsächlich Kenntnis vom zuzustellenden Dokument erhält. Ausreichend für eine bewirkte Zustellung eines an die Partnerschaftsgesellschaft adressierten Dokuments ist vielmehr, dass (irgend-)ein der Sozietät angehörender Rechtsanwalt das Schriftstück erhalten und als zugestellt entgegengenommen hat (vgl. BVerwG, B.v. 27.7.2015 – 9 B 33.15 – juris Rn. 5 m.w.N). Dass die mit dem Fall zuvor betraute Sozia diesen Annahmewillen bei der Übermittlung des erstinstanzlichen Urteils per EGVP am 16. Mai 2023 gehabt hat, hat der Klägervertreter im Zulassungsantrag bestätigt. Der Empfangswille findet in der Formulierung „zugestellt am 16. Mai 2023“ sinnfälligen Ausdruck. Die Empfangsbereitschaft der Prozessbevollmächtigten der Klägerin zeigt sich zudem auch daran, dass mit Schreiben vom 17. Juli 2023 unter Hinweis auf die an diesem Tag endende Begründungsfrist ein – vom Verwaltungsgerichtshof zwingend abzulehnender (§ 57 Abs. 2 VwGO, § 224 Abs. 2 ZPO) – Antrag auf Verlängerung der Frist gestellt worden ist.
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b) Auch der (bloße) Hinweis darauf, dass sich die Sozia, die das Verfahren der Klägerin zuletzt betreut hat und über deren besonderes elektronisches Anwaltspostfach das Urteil daher elektronisch übermittelt worden ist, in Elternzeit befinde, genügt zur Entkräftung der Beweiswirkung des im Zulassungsantrag genannten Zustelldatums nicht. Unabhängig davon, dass schon keine Angaben zum Beginn der behaupteten Elternzeit gemacht wurden, steht jedenfalls nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Rechtsanwältin nicht dennoch das Urteil des Verwaltungsgerichts am 16. Mai 2023 mit dem erforderlichen Annahmewillen entgegengenommen hat, es als (der Anwaltssozietät) zugestellt gelten zu lassen. Der Umstand, dass die E-Mail vom 19. Mai 2023, mit der die verwaltungsgerichtliche Entscheidung an den derzeit kanzleiintern zuständigen Sozius weitergeleitet wurde, ausdrücklich auf den Eingang bei der Sozia am 16. Mai 2023 und die damit zu beachtenden Fristen hinweist, legt dies sogar eher nahe. Aber selbst wenn die Beweiskraft der Bescheinigung des Zustelldatums mit dem Hinweis auf die Elternzeit der Kollegin erschüttert sein mag, ist der Gegenbeweis damit nicht geführt. Denn die bloße Möglichkeit der Unrichtigkeit reicht dafür nicht aus.
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c) Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit des auf den 16. Mai 2023 abgegebenen Empfangsbekenntnisses ist auch nicht dadurch erbracht, dass der Klägervertreter (nach Ablauf von zweieinhalb Monaten) am 1. August 2023 per EGVP an das Verwaltungsgericht das elektronische Empfangsbekenntnis nachgeliefert hat, auf dem nunmehr als Zustelldatum der 19. Mai 2023 vermerkt ist. Es enthält insofern keine Negativ-Erklärung dazu, dass eine frühere Zustellung nicht stattgefunden hat und ist daher nicht geeignet, die Beweiskraft des im Zulassungsantrag vom 16. Juni 2023 genannten früheren Zustelldatums (vollständig) zu erschüttern. Das im jetzt erst zu den Akten gereichten elektronischen Empfangsbekenntnis genannte Datum des 19. Mai 2023 lässt sich im Übrigen durchaus auch damit erklären, dass das elektronische Empfangsbekenntnis erst nach – aufgrund der Nachfrage durch den Senat erfolgten – Aufforderung des Verwaltungsgerichts und im Hinblick auf die andernfalls drohende Verwerfung des Rechtsmittels wegen Fristablaufs abgegeben wurde.
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Die zweimonatige Frist für die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung endete somit nach § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO, §§ 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 1. Alt. BGB mit Ablauf des 17. Juli 2023 (einem Montag). An diesem Tag ging lediglich ein Antrag auf Verlängerung der Begründungsfrist ein, dem nicht entsprochen werden konnte, da es sich hierbei um eine gesetzliche Frist handelt, die nicht verlängert werden kann (§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 224 Abs. 2 ZPO). Der Begründungsschriftsatz erreichte den Verwaltungsgerichtshof erst am 19. Juli 2023 und war deshalb verfristet.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit ihm wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).