Inhalt

VGH München, Beschluss v. 28.08.2023 – 20 N 20.2560
Titel:

Unzulässiger Normenkontrollantrag bei außer Kraft getretener Norm – § 23 Nr. 2 8. BayIfSMV

Normenketten:
VwGO § 47 Abs. 5
8. BayIfSMV § 23 Nr. 2
GG Art. 19 Abs. 4 S. 1
Leitsätze:
1. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ist es grundsätzlich vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse abhängig zu machen und bei Erledigung des Verfahrensgegenstandes einen Fortfall des Rechtsschutzinteresses anzunehmen; trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels kann ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung aber fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Aufklärungspflicht hinsichtlich eines möglichen Feststellungsinteresses obliegt den Verwaltungsgerichten nicht. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Normenkontrollantrag gegen außer Kraft getretene Norm, Feststellungsinteresse nicht dargelegt, Normenkontrollantrag, Feststellungsinteresse, außer Kraft getretene Norm, 8. Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, Wiederholungsgefahr, Schließungen von Kultureinrichtungen und Kulturveranstaltungen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 24482

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1
Der gegen § 23 Nr. 2 der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 30. Oktober 2020 (8. BayIfSMV, BayMBl. 2020 Nr. 616) gerichtete Antrag ist unzulässig und durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung (vgl. § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO) abzulehnen.
2
1. Die Antragstellerin hat zuletzt mit Schriftsatz vom 23. Juli 2021 beantragt festzustellen, dass § 23 Nr. 2 der 8. BayIfSMV unwirksam gewesen ist. Die Verordnung ist mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft getreten (vgl. § 28 Satz 1 8. BayIfSMV).
3
Zu ihrem Feststellungsinteresse trug sie mit Schreiben vom 23. Juli 2021 vor, dass zum einen aufgrund der fortdauernden Pandemie der Erlass inhaltsgleicher Regelungen drohe. Zum anderen bestehe das Interesse der Antragstellerin dahingehend, dass sie im Falle des Obsiegens nicht mit der Kostentragung belastet werde. Zum dritten würden etwaige Ansprüche gegen den Staat geltend gemacht. Auf den Hinweis des Senats vom 16. September 2023, dass damit ein Feststellungsinteresse wohl nicht dargelegt sei, berief sich die Antragstellerin erneut auf die Wiederholungsgefahr.
4
Damit ist ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Unwirksamkeit nach § 47 VwGO zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nicht substantiiert geltend gemacht. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Die Gerichte sind verpflichtet, bei der Auslegung und Anwendung des Prozessrechts einen wirkungsvollen Rechtsschutz zu gewährleisten und den Zugang zu den eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ist es grundsätzlich vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse abhängig zu machen und bei Erledigung des Verfahrensgegenstandes einen Fortfall des Rechtsschutzinteresses anzunehmen. Trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels kann ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung aber fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist (stRspr, vgl. BVerfG, B. v. 3.3.2004 – 1 BvR 461/03 – BVerfGE 110, 77 <85 f.> m. w. N.; Kammerbeschlüsse v. 11.4.2018 – 2 BvR 2601/17 – juris Rn. 32 ff. und vom 26.1.2021 – 2 BvR 676/20 – juris Rn. 30 f.; BVerwG, U. v. 12.11.2020 – 2 C 5.19 – BVerwGE 170, 319 Rn. 15; B. v. 28. Juli 2022 – 3 BN 8.21 – juris Rn. 9 ff. m. w. N.). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die begehrte Feststellung präjudizielle Wirkung für die Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines auf die Norm gestützten behördlichen Verhaltens und damit für in Aussicht genommene Entschädigungs- oder Schadensersatzansprüche haben kann oder ein schwerwiegender Grundrechtseingriff das Rechtsschutzinteresse fortbestehen lässt (BVerwG, B.v. 26.5.2005 – 4 BN 22.05 – juris Rn. 5; B.v. 2.8.2018 – 3 BN 1.18 – juris Rn. 5). Auch eine Wiederholungsgefahr kann grundsätzlich ein solches Feststellungsinteresse begründen (BVerwG, B.v. 2.8.2018 – 3 BN 1.18 – juris Rn. 4).
5
Die vage Behauptung der Antragstellerin, „etwaige Ansprüche gegen den Staat geltend zu machen“ ist hierfür nicht ausreichend. Zwar kann die ernsthafte Absicht zur Erhebung einer Entschädigungsklage einer Antragstellerin regelmäßig nicht abgesprochen werden, die bereits einen Normenkontrollantrag gegen die Norm wegen der damit verbundenen Eingriffe erhoben hat (vgl. BVerwG, U.v. 19.2.2004 – 7 CN 1.03 – juris Rn. 14). Zusätzlich ist aber darzutun, was konkret angestrebt wird; hierzu gehört auch eine zumindest annähernde Angabe, welcher Schaden entstanden ist. Hierzu fehlen im Falle der Antragstellerin jegliche Angaben. Eine Aufklärungspflicht hinsichtlich eines möglichen Feststellungsinteresses obliegt den Verwaltungsgerichten nicht (vgl. BVerwG, B. v. 25.3.2010 – 1 WB 42/09 – juris Rn. 20).
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Eine konkrete Wiederholungsgefahr von (flächendeckenden) Schließungen von Kultureinrichtungen und Kulturveranstaltungen ist jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senates aufgrund des aktuellen und zukünftig erwarteten Infektionsgeschehens aus tatsächlichen Gründen in absehbarer Zukunft voraussichtlich nicht zu befürchten. Die Antragstellerin hat insoweit auch nichts vorgetragen. Zudem endete die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite am 25. November 2021, was nach § 28a Abs. 1 Nr. 8 IfSG aber – zumindest im Hinblick auf Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 – Voraussetzung der Untersagung des Betriebs von Kulturveranstaltungen und Kultureinrichtungen ist.
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Im Falle des Obsiegens nicht die Kosten des Rechtsstreits tragen zu müssen, kann schon grundsätzlich kein berechtigtes Interesse an der Fortsetzung des Rechtsstreits und der nachträglichen Feststellung der Unwirksamkeit der streitgegenständlichen Norm begründen.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 52 Abs. 1 GKG.
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3. Die Festsetzung des Streitwerts (Ziff. III.) ist nicht anfechtbar (§ 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG). Im Übrigen wird die Revision (§ 132 Abs. 1 VwGO) nicht zugelassen, weil die Frage, ob außer Kraft getretene Normen Gegenstand einer Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 VwGO sein können, in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt ist.