Inhalt

VGH München, Beschluss v. 30.08.2023 – 10 CE 23.1408
Titel:

isolierte Kassation eines Beschlusses wegen sachlicher Unzuständigkeit

Normenkette:
VwGO § 83 S. 1, § 123 Abs. 2 S. 1, § 124a Abs. 4, § 146 Abs. 4 S. 6
Leitsatz:
Im Berufungszulassungsverfahren ist das Berufungs(zulassungs)gericht - zunächst aufschiebend bedingt - Gericht der Hauptsache; eine gleichwohl durch das Verwaltungsgericht erlassene einstweilige Anordnung ist formell rechtswidrig, weil dieses im Zeitpunkt des Erlasses hierfür sachlich nicht mehr zuständig war. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beschwerde, Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, Unzuständigkeit, Gericht der Hauptsache, Antrag auf Zulassung der Berufung, Kassation, Berufungszulassungsverfahren, einstweilige Anordnung, sachliche Zuständigkeit, perpetuatio fori, isolierte Kassation
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 31.07.2023 – Au 6 E 23.713
Fundstelle:
BeckRS 2023, 24454

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners hin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 31. Juli 2023 (Au 6 E 23.713) aufgehoben.

Tatbestand

I.
1
Der Antragsgegner begehrt mit seiner Beschwerde die Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses ihn im Verfahren der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO verpflichtet hat, dem Antragsteller für die Dauer des Asylfolgeverfahrens, längstens bis zum Eintritt der Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts vom 21. Juni 2023 (Au K 22.2302), eine Duldung nach § 60a AufenthG zu erteilen, obwohl der Antragsgegner hiergegen bereits am 26. Juni 2023 die Zulassung der Berufung beantragt hatte.
2
Der Senat hat mit Beschluss vom 22. August 2023 auf Antrag des Antragsgegners die Vollziehung von Nr. I. des genannten Beschlusses im Zwischenverfahren gemäß § 149 Abs. 1 Satz 2 VwGO einstweilen bis zu einer Entscheidung des Senats über die Beschwerde des Antragsgegners ausgesetzt.
3
Im Übrigen ist wegen der weiteren Einzelheiten auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug zu nehmen.
II.
4
1. Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist begründet.
5
Die zur Begründung dargelegten Gründe, auf die der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO seine Prüfung zu beschränken hat, rechtfertigen im Ergebnis ausnahmsweise eine (isolierte) Aufhebung des angegriffenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts.
6
a) Der Beschluss des Verwaltungsgerichts ist formell rechtswidrig, weil dieses im Zeitpunkt des Erlasses der angegriffenen einstweiligen Anordnung hierfür sachlich nicht mehr gemäß § 123 Abs. 2 Satz 1 VwGO zuständig war, und daher mangels Heilbarkeit des Verfahrensfehlers im Beschwerdeverfahren (isoliert) aufzuheben.
7
(1) Für den Erlass einstweiliger Anordnungen ist nach § 123 Abs. 2 Satz 1 VwGO das Gericht der Hauptsache zuständig. Die Hauptsache ist grundsätzlich der prozessual geltend gemachte Anspruch, dessen vorläufige Sicherung beziehungsweise Regelung im Eilverfahren nach § 123 VwGO begehrt wird. Ist in dem zugrundeliegenden Klageverfahren ein Antrag auf Zulassung der Berufung nach § 124a Abs. 4 VwGO gestellt, so ist die Hauptsache nicht mehr bei dem Verwaltungsgericht, sondern, wenn auch zunächst nur aufschiebend bedingt, bei dem Berufungs(zulassungs)gericht anhängig, mit der Folge, dass dieses als das Gericht der Hauptsache im Sinne von § 123 Abs. 2 VwGO anzusehen ist (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 28 f. m.w.N.). Diese akzessorische Zuständigkeitsregelung bildet − wie auch jene in § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO − eine Ausnahme zu dem in § 83 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 17 Abs. 1 Satz 1 GVG angeordneten Grundsatz der perpetuatio fori (vgl. BVerwG, B.v. 4.11.2021 − 6 AV 9.21 – juris Rn. 14).
8
(2) Der Antragsgegner hat am 26. Juli 2023 gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts in dem zugrundeliegenden Klageverfahren (Au 6 K 22.2302), das − unter anderem − die Verpflichtung des Antragsgegners zum Gegenstand hat, dem Antragsteller eine Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen, die Zulassung der Berufung bei dem Verwaltungsgericht beantragt (vgl. Senatsakte 10 ZB 23.1344, Bl. 4 f., Bl. 6 Rückseite). Mit Eingang des Zulassungsantrags ist dieser anhängig und der Senat damit Gericht der Hauptsache im Sinne von § 123 Abs. 2 Satz 1 VwGO geworden. Dass der Zulassungsantrag eingegangen ist, hat das Verwaltungsgericht zwar in dem Tatbestand des angegriffenen Beschlusses erwähnt (vgl. BA S. 3), gleichwohl dann aber entgegen § 123 Abs. 2 Satz 1 VwGO die eingangs angeführte einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zum Erlass einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ausgesprochen.
9
b) Die Entscheidung des Senats über die Beschwerde des Antragsgegners kann hierbei nur in einer (isolierten) Kassation des angegriffenen Beschlusses bestehen, weil der Verfahrensfehler der Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts für den Erlass der einstweiligen Anordnung im Beschwerdeverfahren nicht geheilt werden kann.
10
Da der bei dem Verwaltungsgericht gestellte Eilantrag des Antragstellers vom 11. Mai 2023 mit einer Kassation nicht in der Sache verbeschieden ist, gilt der Eilantrag des Antragstellers aus Gründen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes mit dem Erlass der Beschwerdeentscheidung – zur Vermeidung einer doppelten Rechtshängigkeit – als dem Senat vorgelegt und damit anhängig gemacht, mit der Folge, dass dann, wie für einen bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof erstinstanzlich anhängigen Eilantrag nach § 123 VwGO üblich, ein gesondertes Verfahren anzulegen ist (vgl. BayVGH, B.v. 22.8.2023 – 10 CE 23.1408 – Rn. 11).
11
2. Die Entscheidung über die Nichterhebung der Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens beruht auf § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG. Die Beteiligten sind insofern von einer Kostenbelastung freizustellen, weil es bei richtiger Sachbehandlung in der ersten Instanz zu dem Beschwerdeverfahren nicht gekommen wäre. Die anlässlich des Beschwerdeverfahrens entstandenen außergerichtlichen Kosten der Beteiligten der Staatskasse aufzuerlegen, kommt mangels gesetzlicher Grundlage nicht in Betracht. Eine analoge Anwendung von § 155 Abs. 4 VwGO und § 162 Abs. 3 VwGO sowie § 21 GKG ist abzulehnen, weil die Regelungslücke nicht planwidrig ist (vgl. BVerwG, B.v 20.8.2001 – 3 B 88.01 − juris Rn. 2; B.v. 4.6.1991 – 4 B 189.90 − juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 8.12.2015 – 4 C 15.2471 – juris Rn. 10; OVG Berlin-Bbg, B.v. 27.2.2012 – OVG 2 S 78.11 − juris Rn. 7; OVG Bremen, B.v. 25.3.2010 – 2 B 447/09 − juris Rn. 3; Neumann/Schaks, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 155 Rn. 113 m.w.N.; Wöckl in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 155 Rn. 14; a.A. Hug in Kopp/Schenke, VwGO, 29. Aufl. 2023, § 155 Rn. 24 m.w.N.).
12
3. Da Gerichtsgebühren für das Beschwerdeverfahren nicht erhoben werden, ist auch eine Streitwertfestsetzung entbehrlich.
13
4. Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.