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OLG München, Hinweisbeschluss v. 04.09.2023 – 30 U 6629/22
Titel:

VW-Dieselskandal: Keine Ansprüche gegen Herstellerin bei Motortyp EA 288 (hier: VW Golf)

Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
Fahrzeugemissionen-VO Art. 5
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
ZPO § 522 Abs. 2
Leitsätze:
1. Zu – jeweils verneinten – (Schadensersatz-)Ansprüchen von Käufern eines Fahrzeugs, in das ein Diesel-Motor des Typs EA 288 eingebaut ist, vgl. auch BGH BeckRS 2022, 11891; BeckRS 2022, 18404; BeckRS 2023, 22177; OLG Bamberg BeckRS 2023, 24363; OLG München BeckRS 2023, 22881; BeckRS 2023, 22928; OLG Schleswig BeckRS 2022, 10559 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG München BeckRS 2023, 754 (mit weiteren Nachweisen in Leitsatz 1); OLG Koblenz BeckRS 2022, 25075 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG Bamberg BeckRS 2021, 55750 mit zahlreichen weiteren Nachweisen (auch zur aA) im dortigen Leitsatz 1; anders durch Versäumnisurteil OLG Köln BeckRS 2021, 2388. (redaktioneller Leitsatz)
2. Von einer vorsätzlichen Täuschung mit dem Ziel der Erschleichung einer ansonsten nicht zu erreichenden Typgenehmigung kann nicht ausgegangen werden, wenn das KBA als zuständige Behörde nach gezielten eigenen Untersuchungen in Kenntnis der verwendeten Funktionen keine Veranlassung sieht, die Typgenehmigung zu widerrufen oder deren Fortbestand von verpflichtenden Software-Updates abhängig zu machen. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
3. Steht fest, dass eine ausreichende Erkundigung der einem Verbotsirrtum unterliegenden Herstellerin deren Fehlvorstellung bestätigt hätte, scheidet eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB infolge eines unvermeidbaren Verbotsirrtums auch dann aus, wenn die Herstellerin eine entsprechende Erkundigung nicht eingeholt hat ("hypothetische Genehmigung"). (Rn. 16 – 17) (redaktioneller Leitsatz)
4. Eine Auskunft des KBA für ein anderes Fahrzeugmodell kann verwertet werden, wenn kein Zweifel besteht, dass das KBA eine Anfrage bezogen auf das streitgegenständliche Fahrzeug aufgrund der Vergleichbarkeit der Motoren genauso beantwortet hätte. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, EA 288, unzulässige Abschalteinrichtung, Schadensersatz, sittenwidrig, Thermofenster, Fahrkurvenerkennung, SCR-Katalysator, hypothetische Genehmigung, (kein) Differenzschaden
Vorinstanz:
LG Augsburg, Urteil vom 30.09.2022 – 092 O 746/22
Fundstelle:
BeckRS 2023, 24387

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt weiterhin, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 30.09.2022, Az. 092 O 746/22, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.

Entscheidungsgründe

1
Die Parteien streiten über Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem Erwerb eines PKW VW Golf. In dem von der Klagepartei am 25.10.2021 erworbenen Fahrzeug ist ein Dieselmotor des Typs EA 288 (Euro 6) verbaut. Es verfügt über einen SCR-Katalysator.
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Die Klagepartei hat im Verfahren vor dem Landgericht Augsburg geltend gemacht, das Fahrzeug sei mit unzulässigen Abschalteinrichtungen versehen (Fahrkurvenerkennung/Umschaltlogik, Thermofenster). Das Landgericht hat eine deliktische Haftung der Beklagten verneint und die in der Hauptsache auf Rückzahlung des Kaufpreises unter Abzug einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Übereignung des Fahrzeugs gerichtete Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Berufung der Klagepartei, die im Berufungsverfahren ihre erstinstanzlichen Ansprüche weiterverfolgt, hilfsweise mit Schriftsatz vom 14.08.2023 den Minderwert als Schadensersatz begehrt.
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Das angegriffene Urteil beruht nicht auf Rechtsfehlern i.S.d. § 546 ZPO und die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Feststellungen rechtfertigen keine andere Entscheidung (§ 513 ZPO). Das Erstgericht hat die vorliegende Schadensersatzklage auch unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 21.03.2023, Az. C-100/21) und des BGH (Urteil vom 26.06.2023, Az. VIa ZR 335/21) zu Recht abgewiesen.
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1. Die Klagepartei hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf großen Schadensersatz, gerichtet auf Rückabwicklung des Kaufvertrags.
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Ein Anspruch auf großen Schadensersatz kommt nur im Falle einer Haftung gemäß § 826 BGB bzw. § 823 BGB i.V.m. § 263 StGB in Betracht, nicht jedoch im Falle einer Haftung gemäß § 823 BGB i.V.m. §§ 6 27 EG-FGV (BGH, Urteil vom 26.06.2023, Az. VIa ZR 335/21).
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Voraussetzung wäre, dass die Verantwortlichen der Beklagten nicht nur objektiv eine unzulässige Abschalteinrichtung in der Motorsteuerung implementiert haben, sondern sich dessen auch bewusst gewesen sind und den darin liegenden Gesetzesverstoß zumindest billigend in Kauf genommen haben.
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Wie der Senat bereits in zahlreichen Parallelverfahren aufgezeigt hat, liegen die Voraussetzungen für eine solche vorsätzliche sittenwidrige Schädigung gemäß § 826 BGB bzw. eine Verwirklichung des Betrugstatbestands nicht vor.
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Vom KBA sind verschiedenste Fahrzeugmodelle mit Motoren des Typs EA 288 (sowohl EU 5 als auch EU 6) untersucht worden, ohne dass es zu Beanstandungen im Hinblick auf das Emissionsverhalten gekommen ist. Dem Senat sind zudem zahlreiche von ihm selbst eingeholte gleichlautende Auskünfte des KBA aus anderen Verfahren bekannt. Insbesondere liegen keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass der streitgegenständliche Motor mit einer Prüfstanderkennung (Umschaltlogik) ausgestattet ist, die mit der des Motors EA 189 vergleichbar ist.
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Die Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 der Verordnung VO (EG) Nr. 715/2007 allein genügt darüber hinaus nicht für den Vorwurf der Sittenwidrigkeit (z.B. BGH, Beschluss vom 21.03.2022, Az. VIa ZR 334/21, juris, Rn. 19: „…Der darin liegende Gesetzesverstoß wäre für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz emissionsbeeinflussender Einrichtungen im Verhältnis zum Kläger als besonders verwerflich erscheinen zu lassen. Hierfür bedürfte es vielmehr weiterer Umstände. Die Annahme von Sittenwidrigkeit setzt jedenfalls voraus, dass die verantwortlich handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der emissionsbeeinflussenden Einrichtungen in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Fehlt es hieran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt…“).
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Von einer vorsätzlichen Täuschung mit dem Ziel der Erschleichung einer ansonsten nicht zu erreichenden Typgenehmigung kann nicht ausgegangen werden, wenn das KBA als zuständige Behörde nach gezielten eigenen Untersuchungen in Kenntnis der verwendeten Funktionen keine Veranlassung sieht, die Typgenehmigung zu widerrufen oder deren Fortbestand von verpflichtenden Software-Updates abhängig zu machen.
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Ein vorsätzliches bzw. sittenwidriges Verhalten der Beklagten kann deshalb auch dann nicht angenommen werden, wenn man zugunsten der Klagepartei unterstellt, dass in dem streitgegenständlichen Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zum Einsatz kommt.
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2. Die Beklagte haftet auch nicht für einen Differenzschaden der Klagepartei.
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Ein solcher deliktischer Anspruch, der auf Ersatz des Betrags gerichtet ist, um den der Kaufgegenstand mit Rücksicht auf die mit der unzulässigen Abschalteinrichtung verbundenen Risiken zu teuer erworben wurde, kommt nach dem Urteil des BGH vom 26.06.2023, Az. VIa ZR 335/21, in Betracht, wenn das Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung i.S.d. Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ausgestattet ist. Der Anspruch gemäß § 823 BGB i.V.m. §§ 6 27 EG-FGV knüpft demnach an die vom Fahrzeughersteller unzutreffend ausgestellte Übereinstimmungsbescheinigung an.
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Eine Haftung der Beklagten gemäß § 823 II BGB §§ 6 I, 27 I EG-FGV scheidet jedenfalls mangels Verschuldens aus.
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Zwar genügt für einen Anspruch aus § 823 BGB – anders als für einen solchen aus § 826 BGB – Fahrlässigkeit i.S.d. § 276 1 BGB. Der BGH hat in dem genannten Urteil vom 26.06.2023 jedoch ausdrücklich bestätigt, dass die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung allgemein entwickelten Grundsätze zum Ausschluss eines Anspruchs aus § 823 BGB infolge eines – vom Anspruchsgegner darzulegenden und zu beweisenden – unvermeidbaren Verbotsirrtums auch auf die Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen durch Fahrzeughersteller anzuwenden sind (BGH, a.a.O., Rn 62 ff, juris).
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Ein solcher, den Fahrlässigkeitsvorwurf ausschließender unvermeidbarer Verbotsirrtum ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Fahrzeughersteller darlegen und ggf. beweisen kann, dass seine Rechtsauffassung von Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 bei einer entsprechenden Nachfrage von der für die EG-Typgenehmigung oder anschließende Maßnahmen zuständigen Behörde bestätigt worden wäre (hypothetische Genehmigung). Dabei ist auf die konkret verwendete Abschalteinrichtung in allen für die Beurteilung nach Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 maßgebenden Einzelheiten abzustellen, wobei bei der Verwendung mehrerer Abschalteinrichtungen auch die Einzelheiten der konkret verwendeten Kombination zu berücksichtigen sind (BGH, a.a.O., RN 66).
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Auf dieser Grundlage wäre vorliegend ein aus einer etwaigen Unzulässigkeit der hier streitgegenständlichen Abschalteinrichtungen (Thermofenster und Zykluserkennung) und einer damit verbundenen Unrichtigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung resultierender Verstoß gegen §§ 6, 27 EG-FGV nicht schuldhaft. Denn das KBA als für den Vollzug zuständige Behörde hat in der Vergangenheit amtliche Auskünfte erteilt, die den Schluss auf eine hypothetische Genehmigung im vorliegenden Fall zulassen.
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Konkret bezogen auf Motoren der Baureihe EA 288, Schadstoffklasse Euro 6, mit SCR-Katalysator hat das KBA wiederholt erklärt, dass es die von der Klagepartei behaupteten Abschalteinrichtungen nicht als unzulässig ansieht. Es hat sich auch explizit mit der Kombination von Thermofenster und Zykluserkennung (Fahrkurve) auseinandergesetzt. So hat das KBA insbesondere in der senatsbekannten Auskunft vom 09.03.2021 klar zum Ausdruck gebracht, dass es die Zykluserkennung und das Thermofenster in demselben Fahrzeug als zulässig ansieht. Daraus ist zu schließen, dass die Behörde eine entsprechende Auskunft auch schon vor Erteilung der Typgenehmigung erteilte hätte, wenn eine solche Auskunft seinerzeit eingeholt worden wäre (ebenso OLG München, Beschluss vom 05.07.2023, Az. 37 U 1684/23 e, Beschluss vom 28.06.2023, Az. 37 U 2061/23 e; OLG Bamberg, Hinweisbeschluss vom 30.06.2023, Az. 3 U 48/23 e, Beschluss vom 11.07.2023, Az. 1 U 306/22).
19
Dass in der Auskunft des KBA die konkret durchgeführten Untersuchungsmaßnahmen und die festgestellten Messeergebnisse nicht genannt werden, ist unschädlich und steht der Annahme eines unvermeidbaren Verbotsirrtums der Beklagten nicht entgegen. Maßgeblich ist, ob die Auskunft einen sicheren Rückschluss darauf zulässt, dass das KBA die Funktionen hypothetisch genehmigt hätte, wenn es deren Konfigurierung bereits vor Erteilung der Typgenehmigung für das Fahrzeug gekannt hätte.
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Einen solchen Rückschluss lässt die genannte Auskunft nach Überzeugung des Senats zu; denn ihr ist zu entnehmen, dass die Behörde auf Grundlage „sehr umfassende(r) Untersuchungen “ von Aggregaten der Baureihe EA 288 unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die durch das Thermofenster bedingte Reduzierung der Abgasrückführungsrate „in der Regel zu erhöhten Stickoxid- (NOx-) Emissionen des Motors (führt)“, die Auffassung vertrat, die Funktion sei aufgrund der Ausnahmeregelung in Art. 5 2 a) der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aus Gründen des Motorschutzes zulässig („Eine Unzulässigkeit einer entsprechenden Funktion wurde von dem KBA in Bezug auf die EA288 Aggregate nicht festgestellt “). Aus dem Verweis darauf, dass jener Bewertung „sehr umfassende Untersuchungen “ von Motoren der Baureihe EA 288 durch die Behörde zugrunde lagen, ist in Verbindung mit den anschließenden Erläuterungen dazu, welche Faktoren für die Bewertung der Zulässigkeit der Funktion i.S.v. Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 als maßgebend erachtet wurden, zu folgern, dass sich das KBA bei Erteilung der Auskunft – im Sinne der vom BGH aufgestellten Anforderungen – aller für die Beurteilung maßgebenden Einzelheiten bewusst war.
21
Da es für einen unvermeidbaren Verbotsirrtum auf die hypothetische Genehmigung durch das KBA ankommt, ist es unerheblich, dass zwischen dessen damaliger Bewertung und der aktuellen Rechtsprechung des EuGH und des BGH Divergenzen bestehen. Dies gilt für die Auslegung der Ausnahmetatbestände des Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 gleichermaßen wie hinsichtlich der Umschaltlogik für das Kriterium der fehlenden Grenzwertkausalität (die Grenzwerte werden in den Prüfverfahren auch bei Deaktivierung der Funktion eingehalten), welches das KBA – abweichend von der jüngsten Rechtsprechung des BGH – als maßgeblich angesehen hat.
22
Soweit die Auskunft ein anderes Fahrzeugmodell als das klägerische betrifft, ist dies ebenfalls unbeachtlich. Die Auskunft ist ohne weiteres auf das klägerische Fahrzeug übertragbar, weil sie einen Motor der gleichen Baureihe (EA 288) betrifft, der – ebenso wie das im klägerischen Fahrzeug verbaute Aggregat – der Schadstoffklasse Euro 6 unterfällt und bei dem zur Abgasreinigung neben der Abgasrückführung ein Abgasnachbehandlungssystem in Form eines SCR-Katalysators beiträgt. Wie sich der o.g. Auskunft und zahlreichen weiteren Auskünften entnehmen lässt, beantwortet das KBA die Fragen zur Zulässigkeit der Abschalteinrichtung nicht auf Grundlage von Untersuchungen an dem Fahrzeug, auf das sich die Anfrage bezieht, sondern stellt darauf ab, ob insoweit das Aggregat, die Schadstoffklasse und die Art der Abgasreinigung übereinstimmen. Es besteht deshalb für den Senat kein Zweifel, dass das KBA eine Anfrage bezogen auf das streitgegenständliche Fahrzeug aufgrund der Vergleichbarkeit der Motoren genauso beantwortet hätte.
23
Der Senat empfiehlt daher aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung. Im Fall der Rücknahme ermäßigen sich die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 (Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).