Inhalt

LG Ingolstadt, Endurteil v. 17.03.2023 – 42 O 1198/22 Die
Titel:

VW-Dieselskandal: Keine Ansprüche gegen Herstellerin bei Motortyp EA 288 (hier: VW Passat 2.0 TDI)

Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
Fahrzeugemissionen-VO Art. 5 Abs. 2
ZPO § 148
Leitsätze:
1. Zu – jeweils verneinten – (Schadensersatz-)Ansprüchen von Käufern eines Fahrzeugs, in das ein Diesel-Motor des Typs EA 288 eingebaut ist, vgl. auch BGH BeckRS 2022, 11891; BeckRS 2022, 18404; BeckRS 2023, 22177; OLG Bamberg BeckRS 2023, 24363; OLG München BeckRS 2023, 22881; BeckRS 2023, 22928; BeckRS 2023, 24387; BeckRS 2023, 24385; OLG Schleswig BeckRS 2022, 10559 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG München BeckRS 2023, 754 (mit weiteren Nachweisen in Leitsatz 1); OLG Koblenz BeckRS 2022, 25075 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG Bamberg BeckRS 2021, 55750 mit zahlreichen weiteren Nachweisen (auch zur aA) im dortigen Leitsatz 1; anders durch Versäumnisurteil OLG Köln BeckRS 2021, 2388. (redaktioneller Leitsatz)
2. Es kann auch begründet zulässige Zykluserkennungen und Abschalteinrichtungen geben. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es kann nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden, dass eine bestimmte illegale Manipulationssoftware vorhanden ist, weil die Vorgängergeneration über eine solche verfügt hat; ebenso gibt es keinen Erfahrungssatz, der einen Generalverdacht gegenüber sämtlichen Dieselmotoren eines Konzerns begründen kann. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
4. Es ist gerichtsbekannt, dass Emissionswerte wie auch Kraftstoffverbrauch branchenweit im normalen Fahrbetrieb höher sind als im NEFZ-Prüfzyklus. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
5. Aufgrund des Umstands, dass die Verwendung von Thermofenstern dem Kraftfahrt-Bundesamt spätestens seit Veröffentlichung des Berichts zur Untersuchungskommission Volkswagen im April 2016 bekannt ist, muss davon ausgegangen werden, dass das Kraftfahrt-Bundesamt, selbst wenn die Herstellerin im Rahmen des Typengenehmigungsverfahrens die Verwendung des Thermofensters nicht offengelegt haben sollte, die Typengenehmigung auch bei Offenlegung des Thermofensters erteilt hätte. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, EA 288, unzulässige Abschalteinrichtung, Schadensersatz, sittenwidrig, Thermofenster, Fahrkurvenerkennung, hypothetische Genehmigung, Generalverdacht, NEFZ-Prüfzyklus
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Beschluss vom 11.09.2023 – 19 U 1842/23 e
Fundstelle:
BeckRS 2023, 24386

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 18.229,04 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Klagepartei begehrt Schadensersatz für ein angeblich mit unzulässigen Abschalteinrichtungen versehenes Fahrzeug im Rahmen der Rückabwicklung des Kaufvertrags.
2
Die Klagepartei erwarb am 04.10.2017 einen Pkw VW Passat 2.0 TDI Schadstoffklasse EURO 6, 110 kW, Fahrgestellnummer …61, von dem Autohaus P. in N. a.d. D. zu einem Kaufpreis von EUR 25.600,00 brutto. Das Fahrzeug war ein Gebrauchtwagen und wies zum Kaufzeitpunkt einen Kilometerstand von 19.100 km auf. Bei Klageerhebung wies das Fahrzeug einen Kilometerstand von 106.366 km auf. Am 23.02.2023 betrug der aktuelle Kilometerstand 116.815 km.
3
Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor der Baureihe EA 288 ausgestattet, welchen die Beklagte entwickelt und hergestellt hat. Bei der Baureihe EA 288 handelt es sich um die Nachfolgebaureihe zu der vom sog. „Abgasskandal“ betroffenen Baureihe EA 189. Betreffend die Baureihe EA 288 gibt es – anders als betreffend die Baureihe EA 189 – keinen Bescheid des Kraftfahrtbundesamts („KBA“) bzw. einer anderen zuständigen Genehmigungsbehörde, der das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung feststellt. Das Fahrzeug ist dementsprechend auch von keiner Maßnahme betroffen und unterliegt auch keinem verpflichtendem Rückruf. In der Fahrzeugsoftware zur Motorsteuerung/Abgasnachbehandlung ist ein sog. Thermofenster implementiert.
4
Die Klagepartei behauptet im Wesentlichen,
das Fahrzeug sei vom sog. „Abgasskandal“ betroffen. Es sei mit einer illegalen Abschalteinrichtung versehen, um im Falle eines Abgastests die zulässigen Abgaswerte zu erreichen.
5
Die Klagepartei habe darauf vertraut, dass das Fahrzeug den gesetzlichen Bestimmungen entspreche. Anhaltspunkte für das Vorliegen der unzulässigen Abschalteinrichtung bei den EA 288 – Motoren ergäben sich zudem aus Unterlagen der Beklagten zu den EA 288 – Motoren sowie daraus, dass das KBA bereits unter dem Code 23Z7 einige Fahrzeuge mit dem streitgegenständlichen Motor EA 288 zurückgerufen habe. Grund für den Rückruf sei die „Überschreitung des Euro-6-Grenzwertes für Stickoxide“ gewesen. Wegen der aktuellen Entscheidung des Verwaltungsgerichts Schleswig vom 20.03.2023, wonach Mechanismen, wie sie auch in diesem Fahrzeug verbaut sind, eigentlich gar nicht genehmigt werden hätten dürfen, könnte das streitgegenständliche Fahrzeug auch bald von einem Rückruf betroffen sein. Eine abstrakte Stilllegungsgefahr genüge hier.
6
Mit Schriftsatz vom 16.02.2023 änderte die Klagepartei ihre Klageanträge und begehrt nunmehr nicht die Rückabwicklung des Kaufvertrags, sondern kleinen Schadensersatz. Darüber hinaus regte die Klagepartei an, bis zur Entscheidung des EuGH im Vorlageverfahren Az.: C-100/21 keine Entscheidung in diesem Verfahren zu treffen.
7
Die Klagepartei beantragt zuletzt,
1.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen Entschädigungsbetrag bezüglich des Fahrzeugs der Marke VW mit der Fahrzeugidentifikationsnummer …61 zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, der jedoch mindestens EUR 5.120,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit betragen muss.
2.
Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von den durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten der Klägerin entstandenen Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von EUR 1.856,40 freizustellen.
8
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
9
Die Beklagte trägt im Wesentlichen vor, dass der Motor des Fahrzeugs keine unzulässige Abschalteinrichtung enthalte. Der Vortrag der Klagepartei sei insoweit unsubstantiiert und ins Blaue hinein. Das KBA habe die EA 288 – Motoren untersucht und festgestellt, dass diese nicht die aus den EA 189 – Motoren bekannte Umschaltlogik enthielten. Es werde auf dem Prüfstand auch kein optimierter Modus angewendet. Auch das eingesetzte Thermofenster stelle keine unzulässige Abschalteinrichtung dar. Ein Schaden sei nicht eingetreten.
10
Das Gericht hat am 24.02.2023 mündlich zur Sache verhandelt und die Klägerin informatorisch angehört. Wegen der Einzelheiten der mündlichen Verhandlung wird auf das Sitzungsprotokoll vom 24.02.2023 verwiesen.
11
Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

A.
12
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
13
I. Die Klage ist zulässig.
14
Die örtliche Zuständigkeit des Gerichts folgt aus § 32 ZPO.
15
II. Die Klage ist aber unbegründet.
16
Die Klagepartei hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf einen angemessenen Entschädigungsbetrag.
17
Der Klagepartei stehen die geltend gemachten Ansprüche gegen die Beklagte unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu. Die tatsächlichen Voraussetzungen einer mangels vertraglicher Beziehung zwischen den Parteien allein denkbaren deliktischen Haftung der Beklagten sind von der Klagepartei nicht schlüssig vorgetragen.
18
Die Klagepartei hat deswegen auch keinen Anspruch auf Freistellung von angefallenen außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten.
19
1. Ein Anspruch nach § 826 BGB besteht nicht.
20
Nach § 826 BGB ist zum Schadensersatz verpflichtet, wer einem anderen in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich Schaden zufügt.
21
Die Klagepartei hat die Voraussetzungen des von ihr geltend gemachten Anspruchs nach § 826 BGB nicht schlüssig vorgetragen.
22
Sowohl der Vortrag der Klagepartei, das Fahrzeug sei mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet, als auch der Vortrag der Klagepartei, das Fahrzeug enthalte ein unzulässiges Thermofenster, begründen keine Ansprüche gegen die Beklagte, weil er als Vortrag „ins Blaue hinein“ anzusehen ist bzw. weil die Klagepartei den Vorsatz der Beklagten nicht dargelegt hat.
23
a) Die Klagepartei bringt vor, der Motor des streitgegenständlichen Fahrzeugs enthalte eine illegale Abschalteinrichtung.
24
Hierzu verweist die Klagepartei auf die Funktionsweise einer Software, die den Schadstoffausstoß gezielt manipuliere, in dem sie erkenne, ob das Fahrzeug auf einem Prüfstand oder im allgemeinen Straßenverkehr betrieben werde, und bei einer Fahrzeugnutzung auf einem Prüfstand den Schadstoffausstoß zur gezielten Veränderung des Prüfergebnisses durch Umschaltung auf einen hierfür programmierten Modus verringere. Die Klagepartei verkennt dabei, dass es auch begründet zulässige Zykluserkennungen und Abschalteinrichtungen geben kann.
25
Dieser Sachvortrag weist daher keine Substanz auf und ist willkürlich aus der Luft gegriffen. Er rechtfertigt daher nicht die Veranlassung einer Beweisaufnahme (vgl. dazu auch OLG Koblenz, Urt. v.18.06.2019, Az. 3 U 416/19 m.w.N.).
26
Grundsätzlich ist bei der Annahme einer „ins Blaue hinein“ aufgestellten Behauptung Zurückhaltung geboten. Die Annahme eines willkürlichen Sachvortrags kommt nur im Ausnahmefall in Betracht. Es muss einer Partei möglich sein, im Zivilprozess Tatsachen zu behaupten, über die sie keine genaue Kenntnis haben kann, die sie aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält.
27
Eine zivilprozessual unzulässige Ausforschung ist aber dann gegeben, wenn eine Partei ohne greifbaren Anhaltspunkt für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ Behauptungen aufstellt und jegliche tatsächlichen Anhaltspunkte für diese Behauptung fehlen (vgl. etwa BGH NJW-RR 2003, 69, 70).
28
Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben, da jeglicher tatsächliche Anhaltspunkt für den Einsatz einer unzulässigen Manipulationssoftware, wie z.B. aus den EA 189 – Motoren bekannt, in dem EA 288 – Motor im Fahrzeug der Klagepartei fehlt.
29
aa) Die Klagepartei beschränkt sich mit Blick auf die Beschaffenheit der behaupteten Steuerungssoftware darauf die Unzulässigkeit zu behaupten. Hierin liegt kein hinreichender Sachvortrag.
30
Es kann auch nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden, dass eine bestimmte illegale Manipulationssoftware vorhanden ist, weil die Vorgängergeneration über eine solche verfügt hat (vgl. dazu auch OLG Köln, Beschluss vom04.07.2019, Az.3 U 148/18). Es gibt keinen Erfahrungssatz, der einen Generalverdacht gegenüber sämtlichen Dieselmotoren eines Konzerns begründen kann. Dagegen spricht auch, dass das KBA eine Rückrufaktion für den streitgegenständlichen Motor nicht angeordnet hat.
31
bb) Anhaltspunkte für das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung bei den EA 288 – Motoren folgen auch nicht aus dem weiteren Vorbringen der Klagepartei.
32
Die von der Klagepartei zitierte und als Anlage K3 und Anlage B7 vorgelegte Entscheidungsvorlage der Beklagten vom 18.11.2015 „Applikationsrichtlinien & Freigabevorgaben EA 288“ betrifft zwar – gerichtsbekannt aus anderen vergleichbaren Verfahren – das streitgegenständliche Fahrzeug mit der Schadstoffklasse Euro 6 mit SCR – Technologie.
33
Allerdings folgen daraus keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung. Es gehen aus der Entscheidungsvorlage bestimmte Zielwerte im NEFZ sowie in anderen Prüfzyklen sowie Applikationsanweisungen hervor. Eine unzulässige Abschalteinrichtung ist daraus aber nicht ersichtlich. Auch daraus, dass es dort auf Seite 5 (Anlage K3 und Anlage B7) unter „Applikationsanweisungen Diesel“ wie von der Klagepartei zitiert heißt:,SCR Bedatung, Aktivierung und Nutzung der Erkennung des Precon und NEFZ, um die Umschaltung der Rohemissionsbedatung (AGR-High/Low) streckengesteuert auszulösen (bis Erreichung SCR-Arbeitstemperatur und OBD-Schwellwert)" folgt nicht ohne weiteres das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung.
34
Vielmehr hat die Beklagte detailliert ausgeführt, dass dies insoweit keinerlei Einfluss auf die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerte hatte. Die in der Software des Motors EA 288 hinterlegten Fahrkurven führten insoweit nicht zu einer Optimierung der NOx – Emissionen im Prüfstandbetrieb, wie beim EA 189. Dem ist die Klagepartei ebenso wenig entgegengetreten, wie dem mit Anlagen belegten Vortrag der Beklagten, dass das KBA nach eingehender Überprüfung bestätigt habe, dass in den Motoren EA 288 mit SCR Technologie keine unzulässige Abschalteinrichtung vorliege. Insoweit ist zu sehen, dass trotz Vorlage der Applikationsrichtlinie an das KBA dort bis heute keine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt bzw. ein entsprechender Rückrufbescheid erlassen worden wäre. Die Beklagte legte darüber hinaus eine Auskunft des KBA vom 30.05.2022 an das Landgericht Lübeck vor, in dem das KBA feststellt, dass in dem untersuchten Pkw VW Passat, 2.0 l TDI, 110 kW, keine unzulässige Abschalteinrichtung aufweist. Lediglich Verdachtsäußerungen der Klagepartei, dass insoweit dem KBA durch die Beklagte nicht alle Details offengelegt worden sein könnten, genügt nicht.
35
cc) Auch aus einer möglichen Überschreitung der Grenzwerte auf der Straße folgt ebenfalls nicht das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung.
36
Es ist gerichtsbekannt, dass Emissionswerte wie auch Kraftstoffverbrauch branchenweit im normalen Fahrbetrieb höher sind als im NEFZ-Prüfzyklus. Der NEFZ-Prüfzyklus soll insofern vor allem eine Vergleichbarkeit verschiedener Fahrzeugmodelle und Motoren gewährleisten. Dies war auch der Grund für die Einführung anderer, normalbetriebsähnlicherer Prüfzyklen wie RDE und WLTP. In diesem Zusammenhang ist ferner der Vortrag der Beklagten zu berücksichtigen, wonach hinsichtlich des streitgegenständlichen Fahrzeugs bzw. der streitgegenständlichen Motorenbaureihe kein Rückruf vorliege. Schließlich hat die Beklagte vorgetragen, dass der streitgegenständliche Fahrzeugtyp einschließlich des Motors nach Bekanntwerden des Abgasskandals beim KBA vorgestellt und untersucht worden sei und dass es gleichwohl zur Anordnung eines Rückrufs nicht gekommen sei. Auch dies hat die Klagepartei nicht substantiiert widerlegt.
37
Nach alledem liegen die strengen Anforderungen eines rechtsmissbräuchlichen und damit unzureichenden Sachvortrags vor (vgl. dazu auch OLG Koblenz, Urt. v. 18.06.2019, Az.3 U 416/19 m.w.N.).
38
b) Auch der Vorwurf der Klagepartei, das Fahrzeug sei mit einem als unzulässige Abschalteinrichtung anzusehenden sog. Thermofenster ausgestattet, begründet keinen Anspruch aus § 826 BGB gegen die Beklagte.
39
Ob es sich bei dem konkreten Thermofenster des streitgegenständlichen Fahrzeugs um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt, kann im Ergebnis dahinstehen. Daher ändert auch das Urteil des Verwaltungsgerichts Schleswig vom 20.02.2023 nichts an der obigen Beurteilung.
40
Selbst wenn das Thermofenster eine unzulässige Abschalteinrichtung sein sollte, geht damit keine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung einher. Thermofenster sind allgemein anerkannte und von sämtlichen Herstellern eingesetzte technische Einrichtungen. Sie werden branchenweit bei allen Dieselmotoren eingesetzt. Ihr Zweck besteht darin, eine „Versottung“ zu verhindern. Sie dienen daher dem Motorschutz und können auch zulässig sein. Nicht jedes Thermofenster stellt zwingend eine unzulässige Abschalteinrichtung dar. Von der Manipulationssoftware beim Motortyp EA 189 unterscheidet sich das von der Klagepartei behauptete Thermofenster zudem grundlegend. Beim Thermofenster handelt es sich anders als bei der Manipulationssoftware der EA 189 – Motoren nicht um eine Programmierung zum Erkennen des Betriebs des Fahrzeugs auf dem Prüfstand. Das Thermofenster arbeitet gleichermaßen im Straßenbetrieb und auf dem Prüfstand.
41
Zudem fehlt es in diesem Zusammenhang an einer Darlegung der subjektiven Haftungsvoraussetzungen.
42
Das bloße Vorhandensein einer (behaupteten) objektiv unzulässigen Abschalteinrichtung allein ist nicht geeignet, Ansprüche der Klagepartei aus § 826 BGB zu begründen. Ein Schädigungsvorsatz kann nur dann angenommen werden, wenn über die bloße Kenntnis von dem Einbau einer Einrichtung mit der in Rede stehenden Funktionsweise in den streitgegenständlichen Motor hinaus zugleich auch Anhaltspunkte dafür erkennbar wären, dass dies von Seiten der Beklagten in dem Bewusstsein geschah, hiermit möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen, und dieser Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen wurde.
43
Es ist aber weder ersichtlich noch von der Klagepartei dargelegt, dass die Beklagte mit der Unzulässigkeit des eingesetzten Thermofensters gerechnet hätte. Ein Thermofenster kann durchaus zulässig sein. Bei der gegebenen Sachlage kann – anders als beim Einsatz einer versteckten Software – nicht ohne weiteres von einem vorsätzlichen Rechtsverstoß ausgegangen werden. Im vorliegenden Fall kann insofern bei Fehlen jedweder konkreter Anhaltspunkte ein Vorsatz der Beklagten nicht ohne weiteres unterstellt werden. Vielmehr kann dann eine möglicherweise falsche, aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Organe der Beklagten in Betracht gezogen werden. Eine Verkennung der Rechtslage begründet aber selbst im Falle eines fahrlässigen oder gar grob fahrlässigen Handelns keinen Schädigungsvorsatz.
44
Schließlich zeigt auch der in der Literatur (vgl. Führ, NVwZ 2017, 265) betriebene erhebliche Begründungsaufwand, um das „Thermofenster“ als unzulässige Abschalteinrichtung einzustufen, dass keine klare und eindeutige Rechtslage gegeben ist, gegen welche die Beklagte bewusst verstoßen hätte (vgl. OLG Koblenz, Urt. v. 21.10.2019 – 12 U 246/19, BeckRS 2019, 25135, beck-online, mwN).
45
Eine Auslegung, wonach ein Thermofenster eine zulässige Abschalteinrichtung darstellt, ist daher jedenfalls nicht unvertretbar. Ein Handeln unter vertretbarer Auslegung des Gesetzes kann nicht als besonders verwerfliches Verhalten angesehen werden (vgl. OLG Stuttgart, Urteil v. 30.07.2019, 10 U 134/19, Rn. 90). An der obigen Beurteilung ändert auch die Ansicht des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19) zu der Frage einer sittenwidrigen Schädigung in Verbindung mit einem Thermofenster nichts. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Beschluss darauf hingewiesen, dass die Entwicklung und der Einsatz der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) für sich genommen nicht ausreichen, um einen Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung (§ 826 BGB) zu begründen, dass aber eine Sittenwidrigkeit angenommen werden könne, wenn weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen.
46
Insbesondere stellt der Bundesgerichtshof auf die Frage ab, inwieweit die Beklagte im Genehmigungsverfahren gegenüber der zuständigen Behörde (un) zutreffende Angaben über die Arbeitsweise des Abgasrückführungssytems gemacht hat. Selbst wenn die Beklagte das Thermofenster in ihrer konkreten Ausgestaltung im Rahmen des Typengenehmigungsverfahrens nicht gegenüber dem KBA offengelegt hätte, hat der Kläger keine Tatsachen vorgetragen, die Rückschlüsse auf das Vorstellungsbild der Beklagten zum maßgeblichen Zeitpunkt erlauben.
47
Denn aufgrund des Umstands, dass die Verwendung von Thermofenstern dem Kraftfahrt-Bundesamt spätestens seit Veröffentlichung des Berichts zur Untersuchungskommission Volkswagen im April 2016 (abrufbar unter:
https://www.kba.de/DE/Marktueberwachung/Abgasthematik/erster_ber_uk_vw_nox_pdf.pdf? b lob=publicationFile& v=4) bekannt ist, muss davon ausgegangen werden, dass das Kraftfahrt-Bundesamt, selbst wenn die Beklagte im Rahmen des Typengenehmigungsverfahrens die Verwendung des Thermofensters nicht offengelegt haben sollte, die Typengenehmigung auch bei Offenlegung des Thermofensters erteilt hätte. Ein Verschweigen des Thermofensters durch die Beklagte im Typengenehmigungsverfahren stellt sich damit schon nicht als sittenwidrig dar.
48
c) Aus diesem Grund besteht auch kein Anlass, das Verfahren im Hinblick auf die Schlussanträge des Generalanwalts Rantos im Verfahren C-100/21 vor dem EuGH auszusetzen. Die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens liegt, wenn die Voraussetzungen des § 148 ZPO erfüllt sind, im Ermessen des Gerichts. Abzuwägen sind das Interesse der Beklagtenpartei an einer zeitnahen Entscheidung gegen das Interesse der Klagepartei, keine klageabweisende Entscheidung wegen einer vorgreiflichen Rechtsfrage zu erhalten. Ferner sollen widersprüchliche Entscheidungen vermieden werden (vgl. BGH I ZR 228/12 Rn 17). Das Gericht hat sich nach Abwägung der genannten Umstände gegen eine Aussetzung entschieden.
49
Selbst wenn von einer drittschützenden Wirkung der Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 VO 715/2007 bzw. Art. 18 Abs. 1, 26 Abs. 1, 46 der RL 2007/46 i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB ausgegangen würde, müsste als Mindestvoraussetzung das entsprechende Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet sein und der Fahrzeughersteller hätte dies zum Zeitpunkt des Verbaus der Einrichtung erkennen müssen. Dies ist vorliegend jedoch nicht mit der erforderlichen Sicherheit anzunehmen.
50
Die Diskussion um die Zulässigkeit des Thermofensters zeigt wie bereits dargestellt, dass es zum Zeitpunkt des Verbaus desselben gerade nicht eindeutig war, ob es sich um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt. Aus dem Bericht der Untersuchungskkommission „Volkswagen“ vom April 2016 (abzurufen auf der Homepage des KBA) ist zu entnehmen, dass Thermofenster von allen Autoherstellern verwendet und mit dem Erfordernis des Motorschutzes begründet wurden. Nach Einschätzung der Untersuchungskommission handelt es sich bei der Verwendung eines Thermofensters angesichts der Unschärfe der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Buchs. a VO (EG) Nr. 715/2007, wonach zum Schutz des Motors vor Beschädigungen und zur Gewährleistung eines sicheren Fahrzeugbetriebs notwendige Abschalteinrichtungen zulässig sind, um keine eindeutigen Gesetzesverstöße, sofern ohne die Verwendung des Thermofensters dem Motor Schaden drohe und „sei dieser auch noch so klein“ (vgl. BMVI, Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen, Stand April 2016, S. 123).
51
Zudem bleibt die Prüfung der Frage, ob ein bestimmtes Interesse dem sachlichen Schutzbereich einer Norm unterfällt, den nationalen Gerichten vorbehalten, vgl. BGH III ZR 87/21 Rn 11. Der BGH hat aber unter anderem in seiner Entscheidung vom 25.05.2020 (VI ZR 252/19 Rn 76) klargestellt, dass die europarechtlichen Bestimmungen nicht dem (vermögensrechtlichen) Interesse dienen, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden. Demnach würde sich ein etwaiger Drittschutz des Typgenehmigungsrechts allenfalls auf Schäden erstrecken, die durch eine verzögerte Erstzulassung oder ein erforderlich gewordenes Software-Update entstanden sind. Der auch hier fragliche Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsinteresses hingegen liegt nicht im Aufgabenbereich der Norm.
52
2. Mangels Anspruchs in der Hauptsache ist auch der Antrag der Klagepartei auf Freistellung von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten unbegründet.
B.
53
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Die Klagepartei hat als unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
54
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 2 ZPO.