Inhalt

LG Nürnberg-Fürth, Beschluss v. 11.09.2023 – 2 O 5971/21
Titel:

Streitwertbemessung bei Stufenklagen in Prämienanpassungsverfahren

Normenketten:
GKG § 40, § 44, § 52 Abs. 2
ZPO § 4 Abs. 1
RVG § 23 Abs. 3
Leitsätze:
1. Durchschnittswerte aus einer Vielzahl anderer Verfahren betreffend Prämienrückforderungen berücksichtigen nicht, dass das wirtschaftliche Interesse gerade für das konkrete Verfahren ermittelt werden muss; sie sind deshalb zur Ermittlung des Streitwerts einer Stufenklage auf Auskunft hinsichtlich der auslösenden Faktoren ungeeignet. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Streitwert für den im Rahmen einer Stufenklage des Versicherungskunden wegen einer Prämienanpassung gestellten Antrag auf Auskunft über die jeweilige Höhe der auslösenden Faktoren für die Neukalkulation der Prämien in sämtlichen ehemaligen und derzeitigen Tarifen ist mit 500 EUR zu bemessen.  (Rn. 1 – 2) (redaktioneller Leitsatz)
3. Für die Bemessung des im Wege der Stufenklage gestellten Feststellungs- und Leistungsantrags können auch im Prämienanpassungsverfahren nicht Durchschnittswerte aus anderen, individuell ausgewählten Verfahren vergleichsweise herangezogen werden (im Anschluss an OLG München BeckRS 2023, 10841). Diese unterscheiden sich auch innerhalb der jeweiligen Prämienanpassungsverfahren deutlich voneinander, insbesondere in Abhängigkeit von der Anzahl der im Streit stehenden Tarife, der Anzahl der versicherten Personen und der Anzahl der Jahre, für die Rückforderungen im Raum stehen. (Rn. 7 – 9) (redaktioneller Leitsatz)
4. Auf den "Auffangstreitwert" entsprechend § 52 Abs. 2 GKG, § 23 Abs. 3 RVG ist nicht abzustellen, wenn auf das konkrete streitige Versicherungsverhältnis bezogene und anhand der Kontoauszüge leicht zu ermittelnde Anhaltspunkte für eine Wertschätzung, wie etwa der aufaddierte und mit der Zahl der Monate multiplizierte Differenzbetrag zwischen dem ersten und dem letzten im Betrachtungszeitraum gezahlten Beitrag, vorliegen.  (Rn. 8 und 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Stufenklage, Bemessung des Streitwertes, Bemessung des Streitwerts für die Auskunftsstufe, unbezifferter Zahlungsantrag, Prämienanpassungsverfahren, Heranziehung von Durchschnittswerten aus anderen Verfahren, genügende tatsächliche Anhaltspunkte für Schätzung, Auffangstreitwert
Weiterführende Hinweise:
Red. Anm.: Der in Rn. 17 genannte § 52 Abs. 2 GVG ist ein offensichtlicher Schreibfehler, es muss GKG heißen.
Fundstellen:
r+s 2023, 910
LSK 2023, 24361
BeckRS 2023, 24361

Tenor

Der Beschwerde der Klägervertreter gegen den Beschluss vom 29.09.2022 (Bl. 117 d. A.) wird nicht abgeholfen.

Gründe

1
Die im eigenen Namen der Klägervertreter eingelegte (vgl. § 32 Abs. 2 RVG und Gerold/Schmidt/Mayer, 25. Aufl. 2021, RVG § 32 Rn. 125; BeckOK RVG/K. Sommerfeldt/M. Sommerfeldt, 53. Ed. 1.9.2021, RVG § 32 Rn. 20) und wohl auch im Übrigen zulässige Streitwertbeschwerde wendet sich gegen die Bewertung des im Rahmen einer Stufenklage gestellten Auskunftsanspruchs „über die jeweilige Höhe der auslösenden Faktoren für die Neukalkulation der Prämien in sämtlichen ehemaligen und derzeitigen Tarifen“ mit 500 € (Endurteil vom 29.09.2022, S. 17; Gerichtsakte S. 132).
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Die Kammer sieht inhaltlich keinen Anlass zur Abhilfe. Hierfür sind folgende Erwägungen maßgeblich:
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1. Im Ausgangspunkt richtet sich der Streitwert einer Stufenklage gemäß § 44 GKG nach dem höchsten der mit der Klage verbundenen Ansprüche. Wird ein Anspruch auf Auskunft in der ersten Stufe mit einem unbezifferten Zahlungsantrag in der zweiten Stufe verbunden, ist dies regelmäßig der Leistungsantrag. Dabei ist in Bezug auf die Höhe des Leistungsanspruches auf die Vorstellungen der Klagepartei im Zeitpunkt der Antragstellung (vgl. § 40 GKG, § 4 Abs. 1 Hs. 1 ZPO) abzustellen. Da zum Zeitpunkt der Klageeinreichung aber nicht feststeht, welchen Streitwert der Leistungsanspruch hat, ist dieser gemäß § 3 ZPO vom Gericht nach freiem Ermessen festzusetzen (OLG Nürnberg, Urteil vom 15. Februar 2022 – 3 U 2794/21 –, juris Rn. 64 ff.). Im Rahmen der vorzunehmenden Schätzung sind die Vorstellungen der Klagepartei insoweit zu berücksichtigen, als sie aufgrund ihrer zur Begründung der Klage vorgebrachten Behauptungen objektiv gesehen Leistungen zu erwarten hat. Dies folgt aus dem Grundsatz, dass der Streitwert sich nach dem Interesse der Klagepartei bestimmt, wobei die Bemessung dieses Interesses allerdings nicht im Belieben der Klagepartei steht, sondern nach objektiven Gesichtspunkten zu erfolgen hat (OLG Nürnberg, Urteil vom 15. Februar 2022 – 3 U 2794/21 –, juris Rn. 64 ff.; OLG Köln, Beschluss vom 17. Februar 2014 – 19 W 43/13 –, juris Rn. 15; KG Berlin, Beschluss vom 27. Juni 2006 – 1 W 386/05 –, juris). Offensichtlich übertriebene Einschätzungen und Angaben insbesondere zu Umständen, über die der Beklagte erst Auskunft erteilen soll, haben dabei außer Betracht zu bleiben (BGH, Beschluss vom 12. Juni 2012 – X ZR 104/09 –, juris Rn. 5).
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2. Soweit die Beschwerde zum Beleg einer Indizwirkung für die Richtigkeit der Angaben der Klagepartei auf BGH-Rechtsprechung verweist, ist diese schon nicht einschlägig:
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a) BGH MDR 2012, 1429 (= Beschluss vom 8. Oktober 2012 – X ZR 110/11 –, juris) stellt ausdrücklich lediglich für – im Streitfall nicht vorliegende – übereinstimmende (!) Angaben der Parteien zur Höhe des Streitwerts fest, dass diese ein – widerlegbares – Indiz für die Richtigkeit des festgesetzten Streitwerts sind (Rn. 4). Die Rechtsprechung des OLG Naumburg (vgl. die von der Beschwerde vorgelegten nicht veröffentlichten Beschlüsse), die sich auf die vorzitierte BGH-Entscheidung stützt, verkennt die Maßgeblichkeit übereinstimmender (!) Angaben der Parteien zum Streitwert.
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b) BGH FamRZ 2014, 1445 (= Beschluss vom 2. Juli 2014 – XII ZB 219/13 –, juris) trifft zu Angaben der Partei(en) betreffend die Höhe des Streitwertes keinerlei Aussage, sondern befasst sich im Schwerpunkt materiell lediglich mit der Beschwer des zur Auskunft Verurteilten.
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3. Die Kammer sieht weder Veranlassung noch Berechtigung, den Wert des im Wege der Stufenklage gestellten Feststellungs- und Leistungsantrags anhand von Durchschnittswerten aus denjenigen Verfahren zu ermitteln, die die Klägervertreter betreut haben (wollen) bzw. betreuen (vgl. Klageschrift S. 39). Diese Werte können nicht herangezogen werden.
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a) Die Kammer schließt sich insoweit den überzeugenden Ausführungen des OLG München an (Beschluss vom 1.3.2023 – 38 U 7394/22 e, BeckRS 2023, 10841; aA ohne Begründung OLG Rostock Urt. v. 18.7.2023 – 4 U 46/22, BeckRS 2023, 20313 Rn. 49):
„…derartige Durchschnittswerte aus anderen, individuell ausgewählten Verfahren können mangels statistischer Relevanz nicht zur Wertermittlung für einzelne andere Vertragsverhältnisse vergleichsweise herangezogen werden. Zu berücksichtigen ist auch, dass eine derartige Wertermittlung schon nicht erforderlich ist, weil die Parteien, insbesondere die Klagepartei und/oder ihr anwaltlicher Vertreter, unschwer auf das konkrete streitige Versicherungsverhältnis bezogene und anhand der Kontoauszüge leicht zu ermittelnde Anhaltspunkte für eine Wertschätzung, wie etwa den aufaddierten und mit der Zahl der Monate multiplizierten Differenzbetrag zwischen dem ersten und dem letzten im Betrachtungszeitraum gezahlten Beitrag, mitteilen könnten, soweit diese Anhaltspunkte zu einem niedrigeren oder höheren Schätzbetrag führen und soweit einer der Parteien oder ihre anwaltlichen Vertreter ein berechtigtes Interesse daran haben sollte, dass der Streitwert entsprechend niedriger oder höher festgesetzt wird mit der Folge, dass die Gerichtsgebühren sowie die Rechtsanwaltskosten, die davon abhängig berechnet werden, niedriger oder höher ausfallen.“
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Durchschnittswerte berücksichtigen im Übrigen nicht, dass das wirtschaftliche Interesse gerade für das konkrete Verfahren ermittelt werden muss. Diese unterscheiden sich auch innerhalb der jeweiligen „Prämienanpassungsverfahren“ deutlich voneinander, insbesondere in Abhängigkeit von der Anzahl der im Streit stehenden Tarife, der Anzahl der versicherten Personen und der Anzahl der Jahre, für die Rückforderungen im Raum stehen.
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b) Unabhängig davon hat die Kammer auch Zweifel an der Verlässlichkeit der von den Klägervertretern angegebenen Durchschnittswerten, jedenfalls der Aussagekraft der deren Berechnung zugrunde liegenden Daten:
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Handelte es sich hierbei – und so versteht die Kammer den entsprechenden Vortrag der Klägervertreter – um den Durchschnittswert aus den von den Klägervertretern selbst „aufgerufenen“ Streitwerten, wäre jener im Sinne eines Zirkelschlusses lediglich rechnerischer Durchschnittswert aus einer Summe ohne realistische Grundlage „gegriffener“ Einzelbeträge. Dass diese realistischerweise auch rechtskräftig durchgesetzt werden können bzw. worden sind, lässt sich dem Vortrag der Klägervertreter hierzu nicht entnehmen.
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Zudem steht zu befürchten, dass in die Berechnung der Klägervertreter auch von vornherein offensichtlich aussichtslose Klagen eingeflossen sind, wie beispielsweise die unter dem Aktenzeichen 2 O 108/23 vor der Kammer erhobene Auskunftsklage betreffend einen bereits 2017 beendeten Versicherungsvertrag, für den schon unter dem Aktenzeichen 2 O 8443/21 eine Klage auf Feststellung, Rückzahlung von 6.914,77 € und Auskunft zur Höhe der auslösenden Faktoren vollumfänglich und rechtskräftig abgewiesen worden war.
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Ein realistischer Wert kann sich nach alledem nicht am Gebühreninteresse der Klägervertreter orientieren.
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c) Die von den Klägervertretern angegebenen Durchschnittswerte entsprechen auch nicht den Erfahrungswerten der Kammer. Wie eine Sichtung der letzten 54 Urteile der Kammer in Prämienanpassungsverfahren ergeben hat, sind diese (im Zahlungsantrag) überwiegend weitestgehend vollständig erfolglos geblieben; lediglich in 9 Fällen wurden 4-stellige Beträge (höchster: 5.637,38 €) zugesprochen, im Übrigen niedrige 3-stellige Beträge.
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Dieser Befund wird für das konkrete Verfahren – wenngleich erst in einer grundsätzlich nicht zulässigen rückschauenden Betrachtung – dadurch zumindest untermauert, dass die Klagepartei selbst im Weiteren einen Rückforderungsanspruch in Höhe von „nur“ 150,24 € beziffert hat, der letztlich sogar in voller Höhe unbegründet war. Einen (behaupteten) „Erwartungs-Wert“ in der Größenordnung von 150,24 € hätte die Klagepartei bei Orientierung an der Differenz der Gesamtprämiensteigerungen für die streitgegenständlichen Zeiträume selbst ermitteln können (vgl. auch OLG München Beschluss vom 1.3.2023 – 38 U 7394/22 e, BeckRS 2023, 10841 zur Orientierung an branchenüblichen durchschnittlichen Steigerungssätzen).
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d) Zu berücksichtigen ist im konkreten Streitfall auch, dass der Auskunftsanspruch nicht umfassend, sondern lediglich hinsichtlich der auslösenden Faktoren gestellt worden war. Deren konkrete Höhe ist für einen etwaigen Folgeanspruch der Klagepartei jedenfalls in wirtschaftlicher Hinsicht nur von theoretischer Bedeutung. Es ist bei einer praxisnahen Bewertung des Sachverhalts kaum vorstellbar, dass der Versicherer eine Beitragsanpassung bei einem den tariflichen oder gesetzlichen Schwellenwert nicht übersteigenden Wert vorgenommen und der Treuhänder einer derartigen Anpassung zugestimmt hat (OLG Nürnberg, Endurteil vom 24.04.2023 – 8 U 22/23).
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4. Beim vorstehenden Befund besteht folglich auch keine Notwendigkeit – wie von der Beschwerde hilfsweise gefordert –, auf den „Auffangstreitwert“ entsprechend § 52 Abs. 2 GVG, § 23 Abs. 3 RVG in Höhe von 5.000 € abzustellen. Es bestehen eben doch genügende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Schätzung. Die abweichende, nicht weiter begründete Behauptung im Beschluss des OLG Naumburg vom 26.01.2023 (Aktenzeichen 1 W 1/23) vermag die Kammer deshalb nicht nachzuvollziehen.
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5. Schließlich ist eine Heraufsetzung des Streitwerts für die Auskunftsstufe auch nicht im Hinblick auf einen wirksamen Rechtsschutz geboten (OLG München Beschluss vom 1.3.2023 – 38 U 7394/22 e, BeckRS 2023, 10841 Rn. 13 unter Hinweis auf BGH Beschluss vom 17.11.2015 – II ZB 8/14, BeckRS 2015, 20307, wo es allerdings – anders als hier – um eine nicht-vermögensrechtliche Streitigkeit ging): Das hiesige Verfahren ist in der Hauptsache rechtskräftig abgeschlossen, ohne dass die Klagepartei Berufung eingelegt hätte. Im Übrigen ist kein Grund dafür ersichtlich, den Wert einer Stufen- bzw. Auskunftsklage im Hinblick auf Rechtsschutzerwägungen höher anzusetzen, als im Fall einer unmittelbar bezifferten Leistungsklage.