Inhalt

VG Augsburg, Beschluss v. 21.07.2023 – Au 5 S 23.1052
Titel:

Eilrechtsschutz des Nachbarn, Baugenehmigung zur Nutzungsänderung eines bestehenden Gebäudes zum Betrieb einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber im Gewerbegebiet, Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs (verneint), Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans, Würdigung nachbarlicher Interessen, Rücksichtslosigkeit des Vorhabens (verneint), Dringend benötigte Unterkünfte

Normenketten:
VwGO § 80a Abs. 3
VwGO § 80 Abs. 5
BauGB § 30 Abs. 1
BauGB § 212a
BauGB § 246 Abs. 10 und 13a
BauNVO § 8
BauNVO § 15 Abs. 1
Schlagworte:
Eilrechtsschutz des Nachbarn, Baugenehmigung zur Nutzungsänderung eines bestehenden Gebäudes zum Betrieb einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber im Gewerbegebiet, Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs (verneint), Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans, Würdigung nachbarlicher Interessen, Rücksichtslosigkeit des Vorhabens (verneint), Dringend benötigte Unterkünfte
Fundstelle:
BeckRS 2023, 24357

Tenor

I. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Baugenehmigung vom 5. Juni 2023 (Az. ...) wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin wendet sich als Nachbarin gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die auf fünf Jahre befristete Nutzungsänderung eines bestehenden Gebäudes zum Betrieb einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber auf dem Grundstück Fl.Nr. ... der Gemarkung ... (Adresse: ...Straße, ...; nachfolgende Fl.Nrn.-Angaben beziehen sich auf dieselbe Gemarkung).
2
Die Antragstellerin ist Eigentümerin des östlich an das Baugrundstück angrenzenden Grundstücks Fl.Nr. .... Dem Ehemann der Antragstellerin wurde mit Bescheid vom 25. Oktober 2021 eine Baugenehmigung zur Nutzung des bestehenden Gebäudes als Beherbergungsbetrieb bzw. Hotel mit Gastronomie auf dem Grundstück Fl.Nr. ... erteilt.
3
Die vorbezeichneten Grundstücke liegen im Geltungsbereich des vorhabenbezogenen Bebauungsplans Nr. ... „Gewerbepark ...“ der Stadt ... in der Endfassung vom 23. Januar 2018 (im Folgenden: Bebauungsplan). In § 2 Nr. 1 des Bebauungsplans ist hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung ein Gewerbegebiet mit reduzierten Emissionen gemäß § 8 Baunutzungsverordnung (BauNVO) festgesetzt. Ausweislich der Planzeichnung des Bebauungsplans liegen die vorbezeichneten Grundstücke im Bereich „Gewerbegebiet ...Ost (Süd)“. Für diesen Bereich ist in § 2 Nr. 5 des Bebauungsplans hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung festgesetzt, dass Gewerbebetriebe aller Art, öffentliche Betriebe, Geschäfts-, Büro- und Verwaltungsgebäude, Anlagen für sportliche, kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke, Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter und Beherbergungsbetriebe allgemein zulässig sind.
4
Auf den weiteren Inhalt des Bebauungsplans wird ergänzend Bezug genommen.
5
Mit Formblattantrag vom 30. Januar 2023, bei der Antragsgegnerin eingegangen am darauffolgenden Tag, beantragte der Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für die Nutzungsänderung des bestehenden Gebäudes auf dem Grundstück Fl.Nr. ... zum Betrieb einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber, befristet auf fünf Jahre.
6
Die Antragstellerin hat die Baupläne nicht unterzeichnet.
7
Bereits mit Bescheid vom 15. März 2023 (Az. ...) erteilte die Antragsgegnerin dem Beigeladenen eine Baugenehmigung für das beantragte Vorhaben. Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg Anfechtungsklage und stellte zugleich einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (Az. Au 5 K 23.561 und Au 5 S 23.562). Mit Bescheid vom 23. Mai 2023 nahm die Antragsgegnerin den Bescheid vom 15. März 2023 im Hinblick auf die vorgenannten Verfahren nach nochmaliger rechtlicher Überprüfung zurück, woraufhin die vorgenannten Verfahren übereinstimmend für erledigt erklärt und mit Beschlüssen vom 30. Mai 2023 eingestellt wurden.
8
Mit Schreiben vom 22. Mai 2023 beantragte der Beigeladene für sein Bauvorhaben eine Befreiung nach § 246 Abs. 10 Baugesetzbuch (BauGB).
9
Jeweils mit E-Mail vom 24. Mai 2023 nahmen der Landkreis Günzburg und die Regierung von ... zum Bedarf an der Erstaufnahmeeinrichtung Stellung.
10
Mit Bescheid vom 5. Juni 2023 (Az. ...), dem Bevollmächtigten der Antragstellerin zugestellt am 9. Juni 2023, erteilte die Antragsgegnerin (erneut) eine Baugenehmigung für das beantragte Vorhaben. Die mit dem technischen Prüfungs- und Genehmigungsvermerk versehenen Bauvorlagen sind Grundlage für die Genehmigung und Bestandteil des Bescheids (Ziffer I.). Die Baugenehmigung ist befristet bis 31. Mai 2028 (Ziffer III.). In Ziffer IV. wurde eine Befreiung von der im Bebauungsplan festgesetzten Art der baulichen Nutzung für eine Erstaufnahmeeinrichtung im „Gewerbegebiet ... Ost (Süd)“ erteilt.
11
Auf den Inhalt des Bescheids wird ergänzend Bezug genommen.
12
Am 7. Juli 2023 hat die Antragstellerin gegen diesen Bescheid Klage erhoben und beantragt, den Bescheid aufzuheben. Über die Klage ist noch nicht entschieden (Az. Au 5 K 23.1051).
13
Mit selbem Schriftsatz hat die Antragstellerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beantragt,
14
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Baugenehmigung vom 5. Juni 2023 (Az. ...) anzuordnen.
15
Zur Antragsbegründung wird ausgeführt, dass der Hotelbetrieb auf dem Grundstück der Antragstellerin unmittelbar an das Baugrundstück angrenze. Das Grundstück der Antragstellerin sowie das Baugrundstück lägen im „Gewerbegebiet ... Ost (Süd)“ des Bebauungsplans Nr. ... „Gewerbepark ...“. Dort seien ausschließlich gewerblich genutzte Betriebe vorhanden. Das Gebäude auf dem Baugrundstück werde schon seit Sommer 2022 als Unterkunft für Asylbewerber aus der Ukraine genutzt. Eine Baugenehmigung für eine solche Nutzung sei der Antragstellerin nicht zugestellt worden. Der Ehemann der Antragstellerin habe Ende März 2023 bei der Polizei ... Anzeige wegen Ruhestörung auf dem Grundstück der Antragstellerin erstattet. Die Baugenehmigung verletze den Gebietserhaltungsanspruch der Antragstellerin. Im Bebauungsplan sei ein Gewerbegebiet festgesetzt. Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung seien stets nachbarschützend. Gemeinschaftsunterkünfte und Erstaufnahmeeinrichtungen seien als Anlagen für soziale Zwecke i.S.d. § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO zu qualifizieren. Jedoch seien diese aufgrund ihres wohnähnlichen Charakters mit dem Charakter eines Gewerbegebiets nicht vereinbar. Wie sich aus dem Bebauungsplan ergebe, sehe dieser lediglich die Zulässigkeit von Beherbergungsbetrieben, nicht aber von Wohnheimen vor. Auch aus dem Durchführungsvertrag ergebe sich nichts Anderes. Der auf dem Grundstück der Antragstellerin befindliche Hotelbetrieb sei besonders empfindlich gegenüber möglichen Störungen. Den Hotelgästen solle ein möglichst angenehmer und ruhiger Aufenthalt vermittelt werden. Dies sei mit der geplanten Nutzungsänderung nicht vereinbar. Schon aus vergangenen Lärmbelästigungen seien erhebliche Störungen hervorgegangen, die sich nachteilig auf den Betrieb ausgewirkt hätten. Einige Hotelgäste hätten sogar die Buchung storniert. Auch aus den Gästebewertungen ergebe sich als Hauptkritikpunkt die Ruhestörung und die damit verbundene Unzufriedenheit. Durch das geplante Vorhaben bestehe ein möglicher Störfaktor, welcher sich erheblich nachteilig auf den betrieblichen Werdegang des Hotels auswirke. Es ergäben sich erhebliche betriebsschädigende Störungen für das Hotel. Ein anderer Standort für die Unterkunft erscheine sinnvoller. Es sei nicht allein auf das individuelle Verhalten der untergebrachten Personen abzustellen, sondern vielmehr auf die betriebsschädigenden Handlungen, die auf das Hotel auswirkten. Zudem könne sich die Antragstellerin auf das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme berufen. Die empfindliche und schutzwürdige Stellung des Hotels dürfe durch gebietsunverträgliche Bauvorhaben nicht gefährdet werden. Die Nutzungsänderung begründe für die Antragstellerin und für den Hotelbetrieb ihres Ehemanns eine unzumutbare Beeinträchtigung. Zu berücksichtigen sei dabei auch, dass Asylbewerbererstaufnahmeeinrichtungen mit einer hohen Belegungsdichte tatsächliche und rechtliche Besonderheiten aufweisen könnten, die dazu führten, dass das Vorhaben eine boden- bzw. bauplanungsrechtliche Relevanz habe. Aus dem Bescheid gehe nicht hervor, mit welcher Belegungsdichte die Nutzungsänderung vorgenommen werden solle. Dieser Umstand alleine spreche schon für eine mögliche Störung des nachbarschaftlichen Zusammenlebens. Aus der Flächenzusammenstellung ergebe sich, dass mit einer Belegung von ca. 200 Personen zu rechnen sei. Bislang werde das Hotel – außer durch die Nutzung auf dem Baugrundstück – nicht gestört. Die vorhandene Tankstelle und die Waschanlage befänden sich weder in unmittelbarer Nähe zum Hotelbetrieb, noch gingen hiervon betriebsschädigende Störungen aus. Beschwerden und Stornierungen der Hotelgäste ließen sich ausschließlich auf Störungen aus dem streitgegenständlichen Grundstück zurückführen. Auch die Paintballanlage sei bisher kein Störfaktor. Die Gäste seien von überragender Bedeutung für ein erfolgreiches Unternehmen auf dem Grundstück der Antragstellerin. Der Wert des Grundstücks werde wesentlich gemindert, da durch die unmittelbare Nähe der Erstaufnahmeeinrichtung bodenrechtlich relevante Konflikte mit dem Betrieb als solchem entstehen könnten. Diese Konflikte bestünden bei einer Befristung von 5 Jahren auch nicht für einen nur kurzen Zeitraum. Folglich bestehe eine nachteilige Beeinträchtigung des Hotelbetriebs. Zu den zu berücksichtigenden öffentlichen Belangen gehörten die in § 1 Abs. 6 Baugesetzbuch (BauGB) genannten öffentlichen Belange der allgemeinen Anforderung an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse. Auch zu berücksichtigen seien betriebliche Belange der im Gewerbegebiet ansässigen Gewerbebetriebe an der Erhaltung des betrieblichen Bestands. Eine Befreiung nach § 246 Abs. 10 BauGB habe nicht erteilt werden können. Die Würdigung nachbarlicher Interessen setze die Beachtung des Rücksichtnahmegebots voraus, was vorliegend nicht der Fall sei. Die Begründung der Antragsgegnerin, dass bei bestimmungsgemäßer Nutzung die von der baulichen Anlage ausgehenden Störungen und Belästigungen mit denen der benachbarten, genehmigten Beherbergungsbetriebe vergleichbar seien, überzeuge nicht. Der Hotelbetrieb auf dem Grundstück der Antragstellerin habe bei einer Vollbelegung weder eine Belegungsdichte von 200 Personen, noch seien Störungen oder Belästigungen durch Gäste zu erwarten. Das Hotel habe weder in der Vergangenheit, noch in der Gegenwart Störungen durch die Gäste hervorgerufen. Der Hotelbetrieb müsse im Rahmen der Würdigung nachbarlicher Interessen berücksichtigt werden. Das streitgegenständliche Vorhaben und das Hotel seien nicht weit voneinander entfernt. Abgestellt auf diesen geringen Abstand, erscheine die Angabe zum Schallleistungspegel im Bescheid nicht nachvollziehbar. Es könne aufgrund der unmittelbaren Nähe der Vorhaben nicht sichergestellt werden, dass auch tatsächlich keine Störungen zu Ruhezeiten oder Lärmbelästigungen seitens der Erstaufnahmeeinrichtung zu erwarten seien.
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Mit Beschluss vom 10. Juli 2023 wurde der Bauherr zum Verfahren beigeladen.
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Mit Schriftsatz vom 13. Juli 2023 hat die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzuweisen.
19
Zur Antragserwiderung wird ausgeführt, dass die Antragsgegnerin eine nicht zu beanstandende Befreiung nach § 246 Abs. 10 i.V.m. Abs. 13a BauGB erteilt habe. Bei der Erteilung der Befreiung habe die Antragsgegnerin insbesondere die nachbarlichen Interessen ausreichend und ermessensgerecht gewürdigt. Es werde auf die Begründung des angefochtenen Bescheids verwiesen, die auch mit der Antrags- und Klagebegründung nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden könne. Darüber hinaus werde ergänzt, dass der Anwendungsbereich des § 246 Abs. 10 BauGB eröffnet sei, da dringend benötigte Unterkünfte im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin nicht bzw. nicht rechtzeitig bereitgestellt werden könnten. Diesbezüglich werde auf die in den Akten befindlichen Ausführungen des Landkreises Günzburg sowie der Regierung von ... vom 24. Mai 2023 verwiesen. Sonstige bauliche Anlagen, die als Erstaufnahmeeinrichtung im Stadtgebiet der Antragsgegnerin genutzt werden könnten, stünden nicht zur Verfügung und könnten auf absehbare Zeit auch nicht zur Verfügung gestellt werden. Die nachbarlichen Belange seien bei Erteilung der Befreiung ausreichend gewürdigt und ermessensgerecht behandelt worden. Es sei darauf hinzuweisen, dass bei Erstaufnahmeeinrichtungen standardmäßig Sicherheitspersonal eingesetzt werde. Die wiederholt aufgeführten Belange des § 1 Abs. 6 BauGB seien im Zusammenhang mit der Erteilung einer Befreiung nicht unmittelbar anwendbar. Sofern antragsbegründend vorgetragen werde, dass der Hotelbetrieb auf dem Grundstück der Antragstellerin auf Ruhe angewiesen sei (möglichst ruhiger Aufenthalt für die Gäste, „Ruhestörung“, „Lärmbelästigung“), werde angemerkt, dass ein Gewerbegebiet nach § 8 BauNVO gem. § 8 Abs. 1 „vorwiegend der Unterbringung von nicht erheblich belästigenden Gewerbebetrieben“ diene. Gerade in einem solchen Gebiet sei mit Lärm und sonstigen Emissionen zu rechnen. Ein Hotelbetrieb, der auf Ruhe angewiesen sei, sei möglicherweise in einem Gewerbegebiet falsch angesiedelt. Bei einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber sei jedenfalls nicht von anlagebedingten Lärmemissionen auszugehen, die in einem Gewerbegebiet unzulässig seien. Soweit in der Klagebegründung auf verhaltensbedingte Lärmemissionen abgestellt werde, werde dem durch das übliche Betriebskonzept eines „ANKER-Zentrums“ begegnet. Die Klage habe keinerlei Erfolgsaussichten, weshalb das Vollzugsinteresse überwiege und der Antrag abzulehnen sei.
20
Der Beigeladene äußerte sich im Verfahren nicht.
21
Ergänzend wird auf die Gerichtsakte sowie die elektronisch vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
22
Der Antrag nach § 80a Abs. 3, Abs. 1, § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 212a BauGB ist zulässig, aber unbegründet.
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1. Der Antrag ist zulässig.
24
Nach § 212a Abs. 1 BauGB hat die Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Legt ein Dritter gegen die einem anderen erteilte und diesen begünstigende Baugenehmigung eine Anfechtungsklage ein, so kann das Gericht auf Antrag gemäß § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die bundesgesetzlich gemäß § 212a Abs. 1 BauGB ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ganz oder teilweise anordnen. Die Antragsbefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO analog) der Antragstellerin ist als direkt angrenzende Nachbarin gegeben.
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2. Der Antrag ist jedoch unbegründet.
26
Das Gericht der Hauptsache kann die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft aufgrund der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine eigene Ermessensentscheidung darüber, ob die Interessen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, oder diejenigen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streiten, höher zu bewerten sind. Die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache sind ein wesentliches Indiz. Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen, summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein, so wird regelmäßig nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben, so ist dies ein starkes Indiz für die Ablehnung des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Sind schließlich die Erfolgsaussichten offen, findet eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (BayVGH, B.v. 24.6.2022 – 15 CS 22.1389 – juris Rn. 14).
27
Dritte – wie hier die Antragstellerin als Nachbarin – können sich mit einer Anfechtungsklage gem. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nur dann mit Aussicht auf Erfolg gegen einen Baugenehmigungsbescheid zur Wehr setzen, wenn dieser rechtswidrig ist und die Rechtswidrigkeit auf der Verletzung einer Norm beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Dritten zu dienen bestimmt ist (BayVGH, B.v. 13.9.2022 – 15 CS 22.1851 – juris Rn. 8).
28
Dies zugrunde gelegt, überwiegt nach Auffassung der Kammer das Vollzugsinteresse das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin, da nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage die Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. Juni 2023 voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Der Bescheid verletzt die Antragstellerin voraussichtlich nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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a) Eine Verletzung der Rechte der Antragstellerin ergibt sich nicht aus einer Unbestimmtheit der streitgegenständlichen Baugenehmigung, weil – wie der Bevollmächtigte der Antragstellerin vorträgt – aus dem Bescheid nicht hervorgehe, mit welcher Belegungsdichte die Nutzungsänderung vorgenommen werden solle.
30
Nachbarrechte können zwar verletzt sein, wenn der Gegenstand und Umfang der Baugenehmigung nicht eindeutig festgestellt und deshalb nicht ausgeschlossen werden kann, dass das genehmigte Vorhaben gegen nachbarschützendes Recht verstößt (BayVGH, B.v. 25.7.2019 – 1 CS 19.821 – juris Rn. 14). Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots nicht ausgeschlossen werden kann (BayVGH, B.v. 31.10.2016 – 15 B 16.1001 – juris Rn. 4; B.v. 5.7.2017 – 9 CS 17.603 – juris Rn. 13; jeweils m.w.N.).
31
Ein solcher Fall ist hier jedoch nicht gegeben. Die Baugenehmigung vom 5. Juni 2023 ist insbesondere hinsichtlich der durch sie zugelassenen maximalen Belegung hinreichend bestimmt. Der Inhalt der Baugenehmigung ergibt sich aus der Bezeichnung und den Regelungen im Baugenehmigungsbescheid, der durch die in Bezug genommenen Bauvorlagen konkretisiert wird (BayVGH, B.v. 23.9.2020 – 1 CS 20.1595 – juris Rn. 3; B.v. 27.11.2019 – 9 ZB 15.442 – juris Rn. 10). Aus den zum Bestandteil der Genehmigung gemachten, mit technischem Prüfungs- und Genehmigungsvermerk versehenen Bauvorlagen ergibt sich die mögliche Belegungsdichte eindeutig. So stellen die Planunterlagen dar, welche Nutzung jeweils in den einzelnen Räumen des Gebäudes stattfinden soll. In den Planunterlagen für das 1. und 2. OG sind die vorgesehenen Bewohneranzahlen der einzelnen Räume dargestellt (Bl. 23 und 24 der Behördenakte). Addiert man die in den Planunterlagen dargestellten Bewohneranzahlen zusammen, ergibt sich eine mögliche Belegung von insgesamt maximal 206 Personen, davon 98 Personen im 1. OG (davon 92 Personen in „normalen“ Zimmern und sechs Personen im Isolationszimmer, das wohl eher nicht zur dauerhaften Unterbringung genutzt werden wird) und 108 Personen im 2. OG. Insofern lässt sich anhand der Baugenehmigung und den zum Bestandteil der Baugenehmigung gemachten Bauvorlagen für die Antragstellerin hinreichend erkennen, dass die maximale Belegungsdichte 206 Personen umfasst.
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b) Ein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts liegt nach summarischer Prüfung nicht vor.
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Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich vorliegend nach §§ 29 Abs. 1, 30 Abs. 2 BauGB, da das streitgegenständliche Grundstück – wie auch das Grundstück der Antragstellerin – im Geltungsbereich des vorhabenbezogenen Bebauungsplans Nr. ... „Gewerbepark ...“ liegt.
34
aa) Die Antragstellerin ist voraussichtlich nicht in ihrem Gebietserhaltungsanspruch verletzt.
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Der Anspruch auf Gebietserhaltung ermöglicht es dem Eigentümer eines in einem Bebauungsplangebiet (§ 30 BauGB) gelegenen Grundstücks, Vorhaben auch ohne konkrete Beeinträchtigung abzuwehren, welche nach ihrer Art in diesem Gebiet nicht zulässig sind oder unter Erteilung von Abweichungen auch nicht zugelassen werden können. Der Gebietserhaltungsanspruch resultiert daraus, dass Baugebietsfestsetzungen kraft Gesetzes dem Schutz aller Eigentümer der in dem Gebiet gelegenen Grundstücke dienen. Diese weitreichende nachbarschützende Wirkung beruht auf der Erwägung, dass die Grundstückseigentümer durch die Lage ihrer Grundstücke in demselben Baugebiet zu einer Gemeinschaft verbunden sind, bei der jeder in derselben Weise berechtigt und verpflichtet ist. Im Hinblick auf diese wechselseitige Wirkung der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Grundeigentums nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) hat jeder Eigentümer unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung das Recht, sich gegen eine schleichende Umwandlung des Gebiets durch die Zulassung einer gebietsfremden Nutzung zur Wehr zu setzen (BVerwG, B.v. 18.12.2007 – 4 B 55/07 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 26.2.2014 - 2 ZB 14.101 – juris Rn. 10; U.v. 6.2.2015 – 15 B 14.1832 – juris Rn. 14; VGH BW, U.v. 23.6.2020 – 3 S 2781/18 – juris Rn. 20).
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§ 2 Nr. 1 des Bebauungsplans setzt hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung ein Gewerbegebiet mit reduzierten Emissionen gemäß § 8 BauNVO fest. Nach § 8 Abs. 2 BauNVO sind im Gewerbegebiet Gewerbebetriebe aller Art, Lagerhäuser, Lagerplätze und öffentliche Betriebe (Nr. 1), Geschäfts-, Büro-, und Verwaltungsgebäude (Nr. 2), Tankstellen (Nr. 3), und Anlagen für sportliche Zwecke (Nr. 4) allgemein zulässig. § 8 Abs. 3 BauNVO bestimmt weiter, dass in Gewerbegebieten Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter, die dem Gewerbebetrieb zugeordnet und ihm gegenüber in Grundfläche und Baumasse untergeordnet sind (Nr. 1), Anlagen für kirchliche, kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke (Nr. 2) und Vergnügungsstätten (Nr. 3) ausnahmsweise zugelassen werden können.
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Ausweislich der Planzeichnung des Bebauungsplans liegen sowohl das streitgegenständliche Grundstück als auch das Grundstück der Antragstellerin im Bereich „Gewerbegebiet ... Ost (Süd)“. In § 2 Nr. 5 des Bebauungsplans ist hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung im „Gewerbegebiet ... Ost (Süd)“ festgesetzt, dass Gewerbebetriebe aller Art, öffentliche Betriebe, Geschäfts-, Büro- und Verwaltungsgebäude, Anlagen für sportliche, kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke, Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter und Beherbergungsbetriebe allgemein zulässig sind. § 2 Nr. 5 des Bebauungsplans sieht also abweichend von der gesetzlichen Regelung in § 8 BauNVO vor, dass Einrichtungen für soziale Zwecke im maßgeblichen Plangebiet allgemein zulässig sind. Als Rechtsgrundlage für diese abweichende Festsetzung dient § 1 Abs. 6 Nr. 2 BauNVO.
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(1) Die Kammer geht im Ausgangspunkt davon aus, dass die geplante Erstaufnahmeeinrichtung mit dem Gebietscharakter des festgesetzten Gewerbegebiets grundsätzlich nicht vereinbar ist.
39
Mit der herrschenden Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung sieht die Kammer eine Unterkunft für Asylsuchende nicht als – im Gewerbegebiet nach § 8 BauNVO von vornherein unzulässige – Wohnanlage im bauplanungsrechtlichen Sinn an‚ sondern als eine Anlage für soziale Zwecke mit wohnähnlichem Charakter. Diese Auffassung findet ihre Rechtfertigung insbesondere darin‚ dass der Aufenthalt von Asylsuchenden in solchen Unterkünften nicht freiwillig‚ sondern gesetzlich vorgesehen ist (vgl. für Aufnahmeeinrichtungen § 47 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG)) bzw. auf einer Zuweisungsentscheidung der zuständigen Behörde beruht‚ auf die der Asylbewerber keine Einflussmöglichkeiten hat. Zudem sind Asylsuchende von den Entscheidungen der Verwaltung der Unterkunft (etwa im Hinblick auf die Raumbelegung) abhängig‚ so dass von einer Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises nicht gesprochen werden kann (BayVGH, B.v. 5.3.2015 – 1 ZB 14.2373 – juris Rn. 3 m.w.N.). (Erst-)Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünfte für Flüchtlinge sind demnach Anlagen für soziale Zwecke und damit weder Wohngebäude noch Beherbergungsbetriebe. Charakteristische Eigenschaften insbesondere von Aufnahmeeinrichtungen (§ 44 AsylG) oder Gemeinschaftsunterkünften für diese Personengruppen (§ 53 AsylG) sind eine hohe Belegungsdichte bei kurzer, jedenfalls aber begrenzter Verweildauer, eine gemeinschaftliche Nutzung von Küche und Sanitäranlagen und zuweilen auch eine kasernenartige Unterbringung mit Hausordnung und Hausmeister. Solche Anlagen sind Übergangs- oder Notunterkünfte, die sich – auch wenn die Aufenthaltsdauer länger ausfallen kann – regelmäßig nach ihrer baulichen Struktur für eine selbstbestimmte Haushaltsführung nicht eignen (Stock in König/Roeser/Stock, Baunutzungsverordnung, 5. Aufl. 2022, § 4 Rn. 52).
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Mit der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte und der Oberverwaltungsgerichte ist jedoch auch die Kammer der Auffassung, dass Gemeinschaftsunterkünfte für Asylsuchende, auch wenn diese als Anlagen für soziale Zwecke im bauplanungsrechtlichen Sinn angesehen werden können, mit dem Charakter eines Gewerbegebiets unvereinbar sind, weil die Unterbringung von Asylsuchenden keine Funktion im Zusammenhang mit oder für eine der im Gewerbegebiet zulässigen Hauptnutzungsarten erfüllt. Die von § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO als ausnahmsweise zulassungsfähig erklärten Wohnungen, „die dem Gewerbebetrieb zugeordnet und ihm gegenüber […] untergeordnet sind“, genießen die Vorteile ihrer betriebsnahen Unterbringung nur unter Inkaufnahme des von den Gewerbetrieben ausgehenden Störpotentials. Damit ist die Unterbringung von Asylsuchenden nicht vergleichbar. Ferner bildet eine Gemeinschaftsunterkunft für einen mehr als nur unbeachtlich kurzen Zeitraum den Lebensmittelpunkt des einzelnen Asylsuchenden. Die tatsächlich stattfindende Nutzung ist nicht entscheidungserheblich anders einzustufen als das Wohnen im bauplanungsrechtlichen Sinn, sie ist „wohnähnlich“ (BayVGH, B.v. 6.2.2015 – 15 B 14.1832 – juris Rn. 16 m.w.N.).
41
Nach der Rechtsauffassung der Kammer gilt dies nicht nur für Gemeinschaftsunterkünfte, sondern auch für Erstaufnahmeeinrichtungen, d.h. in Bayern die sog. ANKER-Einrichtungen. Wenngleich es in der Praxis – so die Stellungnahme der Regierung von ... in der E-Mail vom 24. Mai 2023 – derzeit so gehandhabt werden mag, dass die Flüchtlinge durchschnittlich nur etwa zwei bis drei Monate in der Erstaufnahmeeinrichtung verbringen, bevor sie in eine Anschlussunterkunft verteilt werden, sind die Erstaufnahmeeinrichtungen jedenfalls nach der gesetzlichen Zweckbestimmung auf einen längeren Aufenthalt angelegt. Nach § 47 Abs. 1b AsylG i.V.m. Art. 2 Aufnahmegesetz (AufnG) sind Asylbewerber verpflichtet, bis zur Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge über den Asylantrag und im Falle der Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet oder als unzulässig bis zur Ausreise oder bis zum Vollzug der Abschiebungsandrohung oder -anordnung in der für ihre Aufnahme zuständigen Aufnahmeeinrichtung, längstens jedoch für 24 Monate, zu wohnen. So führt auch das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration auf seiner Informationsseite über die Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern (abrufbar unter https://www.stmi.bayern.de/mui/asylsozialpolitik/unterbringung_versorgung/index.php) aus, dass „in den ANKERn […] das komplette Asylverfahren von der Einreise bis zu einer positiven Entscheidung über den Asylantrag oder der Ausreise (einschließlich der Rückführung) durchgeführt werden“ soll. Insofern sollen auch Erstaufnahmeeinrichtungen für eine mehr als nur unbeachtlich kurze Dauer den Lebensmittelpunkt des einzelnen Asylsuchenden darstellen, sodass im Ausgangspunkt von einer mit dem Gebietscharakter eines Gewerbegebiets unvereinbaren Wohnähnlichkeit der Nutzung auszugehen ist.
42
Unabhängig davon, ob eine derartige Festsetzung rechtlich überhaupt Bestand haben könnte, lässt sich weder den Festsetzungen des Bebauungsplans, noch dessen Begründung entnehmen, dass im streitgegenständlichen Gebiet eine wohnähnliche Nutzung zulässig sein sollte.
43
(2) Die Antragstellerin ist jedoch voraussichtlich deshalb nicht in ihrem Gebietserhaltungsanspruch verletzt, da die mit der Baugenehmigung in Ziffer IV. erteilte Befreiung von der im Bebauungsplan festgesetzten Art der baulichen Nutzung zugunsten einer Erstaufnahmeeinrichtung nach summarischer Prüfung rechtmäßig ist.
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Nach § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB (in der zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses gültigen Fassung) kann in Gewerbegebieten bis zum Ablauf des 31. Dezember 2024 für Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünfte oder sonstige Unterkünfte für Flüchtlinge oder Asylbegehrende von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn an dem Standort Anlagen für soziale Zwecke als Ausnahme zugelassen werden können oder allgemein zulässig sind und die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit öffentlichen Belangen vereinbar ist. Wird in rechtmäßiger Weise eine Befreiung nach § 246 Abs. 10 BauGB erteilt, scheidet eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs regelmäßig aus (VG München, U.v. 7.2.2022 – M 8 K 19.6345 – juris Rn. 19; VG Augsburg, B.v. 17.3.2016 – Au 4 S 16.191 – juris Rn. 57). Denn mit der Regelung in § 246 Abs. 10 BauGB ging es dem Gesetzgeber darum, Asylbewerberunterkünfte kraft Gesetzes als gewerbegebietsverträglich einzustufen. Bei einer Unterkunft, die im Wege der Befreiung über § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB in einem Gewerbegebiet zugelassen wird, handelt es sich in der Regel um keine gebietsfremde Nutzung (BVerwG, B.v. 15.11.2018 – 4 B 2/18 – juris Rn. 10).
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(a) Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung nach § 246 Abs. 10 BauGB sind voraussichtlich erfüllt.
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Vorliegend sind Anlagen für soziale Zwecke im „Gewerbegebiet ... Ost (Süd)“ nach § 2 Nr. 5 des Bebauungsplans allgemein zulässig (s.o.). Nach der erforderlichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung ist die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit öffentlichen Belangen vereinbar.
47
Dabei ist zu berücksichtigen, dass in dem Tatbestandsmerkmal „Würdigung nachbarlicher Interessen“ zugleich die Vereinbarkeit mit dem bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebot zu prüfen ist (BayVGH, U.v. 14.2.2018 – 9 BV 16.1694 – juris Rn. 52; VG München, U.v. 7.2.2022 – M 8 K 19.6345 – juris Rn. 21). Zu den zu berücksichtigenden Belangen gehören insbesondere die allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohnverhältnisse und die Sicherheit der Wohnbevölkerung (§ 1 Abs. 6 Nr. 1 BauGB); gleichsam spiegelbildlich dazu sind die Belange benachbarter Gewerbebetriebe zu berücksichtigen (§ 1 Abs. 6 Nr. 8 Buchst. a und c BauGB), die ein schutzwürdiges Interesse daran haben, durch eine an sich im Gewerbegebiet nicht vorgesehene wohnähnliche Nutzung nicht in ihrer Gewerbeausübung eingeschränkt zu werden. Entscheidend ist insoweit, ob die beantragte Flüchtlingsunterkunft mit den jeweils zulässigen Nutzungen im Gewerbegebiet verträglich ist. Das kann etwa der Fall sein, wenn die Nutzungen im Gewerbegebiet im Hinblick auf ihre Emissionen und verkehrlichen Auswirkungen so festgesetzt sind, dass es Bereiche gibt, in denen eine wohnähnliche Nutzung nicht unzumutbar gestört wird und durch diese wohnähnliche Nutzung auch keine Einschränkungen für gewerbliche und sonstige zulässige Nutzungen, einschließlich deren Erweiterung, entstehen. Letztlich werden also Standorte in Gewerbegebieten in Betracht kommen, an denen die benachbarte gewerbliche Nutzung keine wesentlichen Lärm- und Geruchsimmissionen für die Flüchtlingsunterkünfte erwarten lässt (Blechschmidt in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand: 149. EL Februar 2023, § 246 Rn. 69).
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Sofern die Antragstellerin (einerseits) vorbringt, dass in einem Gewerbegebiet ein gewisses Störpotential vorherrsche, mit dem eine wohnähnliche Nutzung nicht vereinbar sei, ist darauf hinzuweisen, dass Gewerbegebiete nach § 8 BauNVO der Unterbringung von nicht erheblich belästigenden Gewerbebetrieben dienen. Die vorhandenen gewerblichen Nutzungen müssen die nach Nr. 6.1 Satz 1 Buchst. b TA Lärm geltenden Immissionsrichtwerte von 65 db(A) am Tag und 50 db(A) in der Nacht einhalten (BayVGH, B.v. 22.8.2016 – 2 CS 16.737 – juris Rn. 10). Vorliegend handelt es sich sogar um ein Gewerbegebiet mit reduzierten Emissionen. § 11 Nr. 1 des Bebauungsplans setzt für das „Gewerbegebiet ... Ost (Süd)“ fest, dass nur Betriebe und Anlagen zulässig sind, die einen pro Quadratmeter Gewerbegebietsfläche abgestrahlten immissionswirksamen flächenbezogenen Schalleistungspegel von tagsüber 60 db(A) und nachts 45 db(A) nicht überschreiten. Angesichts dieser Grenzwerte ist nicht ersichtlich, dass das Bauvorhaben mit unzumutbaren Lärmimmissionen durch die umliegenden gewerblichen Nutzungen rechnen muss. Die Antragstellerin hat selbst vorgetragen, dass der Hotelbetrieb auf ihrem Grundstück bislang – mit Ausnahme durch die Nutzung auf dem Baugrundstück – nicht gestört werde. Weder durch die Tankstelle, noch durch die Waschanlage oder die Paintballanlage würden Störungen des Hotelbetriebs hervorgerufen. Insgesamt gebe es keine lärmintensive Nutzung im umliegenden Bereich. Von dem Hotelbetrieb auf dem Grundstück der Antragstellerin gingen – so das Antragsvorbringen – ebenfalls keine Störungen hervor. Nach dem Vortrag der Antragstellerin ist also davon auszugehen, dass auch das Baugrundstück keinen unzumutbaren Belästigungen durch die umliegenden, gewerblichen Nutzungen ausgesetzt ist. Insofern ist nicht ersichtlich, dass die gewerblichen Nutzungen aufgrund des Bauvorhabens mit Einschränkungen ihres Betriebs belastet werden. Ohnehin müssen sich die Bewohner von Flüchtlingsunterkünften in Gewerbegebieten nach dem Sinn und Zweck des § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB mit der Immissionsbelastung abfinden, die generell im Gewerbegebiet zulässig ist. Insoweit wird ihnen, wie der sonstigen betroffenen Nachbarschaft, ein Mehr an Beeinträchtigungen zugemutet (BayVGH, B.v. 2.2.2021 – 9 ZB 17.1350 – juris Rn. 8). Lediglich wenn die Bewohner voraussichtlich gesundheitsgefährdenden Immissionen ausgesetzt wären, ist eine Zulassung der in der Norm benannten Unterkünfte für Flüchtlinge oder Asylbegehrende mangels Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen nicht zulässig (BayVGH, B.v. 22.8.2016 – 2 CS 16.737 – juris Rn. 11; U.v. 14.2.2018 – 9 BV 16.1694 – juris Rn. 28; VGH BW, U.v. 23.6.2020 – 3 S 2781/18 – juris Rn. 36). Dafür, dass die Bewohner voraussichtlich gesundheitsgefährdenden Immissionen ausgesetzt wären, sind hier, insbesondere nach dem Vortrag der Antragstellerin, jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte ersichtlich. Angesichts der Tatsache, dass das Gebäude bereits seit Längerem als Flüchtlingsunterkunft dient, hat sich vielmehr bereits in der Praxis gezeigt, dass der Standort für eine solche Unterbringung geeignet ist.
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Sofern die Antragstellerin (andererseits) vorbringt, dass der Hotelbetrieb auf ihrem Grundstück besonders empfindlich gegenüber möglichen Störungen sei, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass sich ihr Grundstück in einem Gewerbegebiet mit den damit einhergehenden, möglichen Nutzungen und Immissionsrichtwerten befindet. So könnte auf dem streitgegenständlichen Grundstück des Beigeladenen grundsätzlich auch ein produzierender Gewerbebetrieb oder ein sonstiges nach § 2 Nr. 5 des Bebauungsplans zulässiges Vorhaben verwirklich werden, das die in § 11 Nr. 1 des Bebauungsplans festgesetzten Immissionsrichtwerte erreichen dürfte. Die Antragstellerin hat keinen Anspruch darauf, auch künftig von jeglichen, insbesondere gewerblichen Störungen verschont zu bleiben. Insofern hat sie auch selbst zutreffend erkannt, dass in einem Gewerbegebiet ein gewisses Störpotential vorhanden ist. Zum anderen sind Wohnnutzungen oder wohnähnliche Nutzungen mit dem Charakter eines Gewerbegebiets in der Regel nicht deshalb unvereinbar, weil von ihnen unzumutbare Immissionen auf die Gewerbebetriebe ausgingen, sondern – umgekehrt –, weil die Wohnnutzung unzumutbaren Belästigungen durch die gewerblichen Nutzungen ausgesetzt wäre und daher die Gewerbebetriebe mit (nachträglichen) Einschränkungen ihres Betriebs, bspw. immissionsschutzrechtliche Auflagen, zu rechnen hätten (s.o.). Es geht also vorwiegend darum, dass in Bezug auf die Unterkunft i.S.d. § 246 Abs. 10 BauGB gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse gegeben sind, dass also die Bewohner der Unterkünfte nicht gesundheitsgefährdenden Immissionen ausgesetzt werden (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 14.2.2018 – 9 BV 16.1694 – juris Rn. 26 ff.).
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Dafür, dass vom Bauvorhaben bodenrechtlich relevante, unzumutbare Belästigungen auf den Hotelbetrieb ausgehen, ist nichts ersichtlich. Auch das Bauvorhaben ist verpflichtet, die im Bebauungsplan vorgeschriebenen Richtwerte einzuhalten. Es ist nicht substantiiert vorgetragen oder erkennbar, dass die Einhaltung der vorgegebenen Richtwerte durch die wohnähnliche Nutzung des streitgegenständlichen Vorhabens von vornherein nicht möglich ist. Damit ist nicht erkennbar, dass sich das Vorhaben aus Lärmgesichtspunkten als rücksichtslos bzw. als mit den nachbarlichen Belangen nicht vereinbar erweist. Sofern die Antragstellerin vorbringt, dass Lärmbelästigungen und Ruhestörungen zu befürchten seien, die sich nachteilig auf den Hotelbetrieb auswirkten, ist zu beachten, dass von einer baulichen Anlage ausgehende Störungen und Belästigungen nur insoweit auf ihre Nachbarverträglichkeit zu prüfen sind, als sie typischerweise bei der bestimmungsgemäßen Nutzung auftreten und von bodenrechtlicher Relevanz sind. Andere (befürchtete) Belästigungen sind nicht Gegenstand baurechtlicher Betrachtung. Die Lösung sozialer Konflikte, die im Zusammenhang mit der Unterbringung von Flüchtlingen entstehen können, gehört nicht zu den Aufgaben des öffentlichen Baurechts. Denn das allgemeine Bauplanungsrecht kann und soll keinen „Milieuschutz“ gewährleisten. Typischerweise von Wohngrundstücken ausgehende Geräusche wie Gespräche, Musik usw., die das Zusammenleben von Menschen regelmäßig prägen, sind bei baurechtlicher Betrachtung sogar in einem reinen Wohngebiet von den Nachbarn hinzunehmen. Auch von Bewohnern einer Flüchtlingsunterkunft ist unabhängig von ihrer Herkunft und Sozialisation und trotz der eingeschränkten Bedingungen ihrer Wohn- und Lebenssituation zu erwarten, dass sie die Grundregeln des Zusammenlebens, z.B. die Nachtruhe, beachten. Die auf Vermutungen gestützte gegenteilige Erwartung eines Nachbarn kann nicht Anlass für die Bauaufsichtsbehörde sein, quasi präventiv tätig zu werden, indem sie die Baugenehmigung für eine entsprechende Einrichtung versagt. Daher sind Wohnimmissionen, die von einer Asylbewerberunterkunft ausgehen, in der Regel (sogar) auch in solchen Wohngebieten hinzunehmen, die durch eine anderweitige homogene Wohnbevölkerung geprägt sind (BVerwG, U.v. 23.8.1996 – 4 C 13/94 – juris Rn. 72; BayVGH, B.v. 9.12.2015 – 15 CS 15.1935 – juris Rn. 20; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 27.4.2021 – 10 S 73/20 – juris Rn. 24, Rn. 50 m.w.N.). So wurden etwa für eine Flüchtlingsunterkunft mit 700 Plätzen die erwartbaren Geräuschemissionen spielender Kinder auf einem vorgesehenen Spielplatz sowie die allgemeinen Lebensäußerungen der Bewohner bei Wahrung der gesetzlich vorgeschriebenen Abstände als nicht unzumutbar betrachtet, weshalb sie sogar in einem festgesetzten reinen Wohngebiet hinzunehmen seien (OVG Hamburg, B.v. 9.5.2016 – 2 Bs 38/16 – juris Rn. 28). Im hier betroffenen Gewerbegebiet kann nichts anderes gelten. Auch die Anzahl der künftigen Bewohner (hier maximal 206) bietet keinen Anhaltspunkt, um die bauplanungsrechtliche Zulassungsfähigkeit des Vorhabens in Zweifel zu ziehen. Die mit der Unterbringung der Flüchtlinge möglicherweise verbundenen verhaltensbezogenen Störungen sind als individuelles Fehlverhalten nicht bodenrechtlich relevant. Ihnen ist ggf. mit den Mitteln des Polizei- und Ordnungsrechts oder des zivilen Nachbarrechts zu begegnen (BVerwG, B.v. 6.12.2011 – 4 BN 20.11 – juris Rn. 5; BayVGH, U.v. 13.12.2012 – 2 B 12.109 – juris Rn. 40; U.v. 14.2.2018 – 9 BV 16.1694 – juris Rn. 65; OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 19.7.2019 – 10 A 1802/18 – juris Rn. 20; VG München, U.v. 7.2.2022 – M 8 K 19.6345 – juris Rn. 23).
51
Auch eine etwaige Wertminderung des Nachbargrundstücks infolge der Ansiedlung einer Flüchtlingsunterkunft begründet für sich genommen keine Verletzung des Rücksichtnahmegebots (BayVGH, B.v. 29.9.2021 – 9 CS 21.2175 – juris Rn. 23; B.v. 29.12.2017 - 9 ZB 16.1480 – Rn. 5; OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 19.7.2019 – 10 A 1802/18 – juris Rn. 25; VG München, U.v. 7.2.2022 – M 8 K 19.6345 – juris Rn. 23). Denn einen allgemeinen Rechtssatz des Inhalts, dass der Einzelne einen Anspruch darauf hat, vor jeglicher Wertminderung bewahrt zu werden, gibt es nicht (BayVGH, B.v. 29.9.2021 – 9 CS 21.2175 – juris Rn. 23).
52
In einer Gesamtschau kann jedenfalls angesichts des besonderen Gewichts, das der Gesetzgeber mit der Regelung des § 246 Abs. 10 BauGB dem öffentlichen Interesse an der Schaffung von Unterbringungsmöglichkeiten für Asylbewerber beigemessen hat, nicht davon ausgegangen werden, dass dem nachbarlichen Interesse der Antragstellerin gegenüber dem hohen öffentlichen Interesse ein Vorrang bei der Erteilung einer Befreiung nach § 246 Abs. 10 BauGB einzuräumen ist, zumal diese zeitlich befristete Ermächtigungsgrundlage gerade auf die weitgehende Erteilung von Befreiungen abzielt (BayVGH, B.v. 2.2.2021 – 9 ZB 17.1350 – juris Rn. 10; U.v. 14.02.2018 – 9 BV 16.1694 – juris Rn. 68 m.w.N.). Dass das öffentliche Interesse an der Schaffung von Unterbringungsmöglichkeiten für Asylsuchende auch weiterhin vorhanden ist, wird anhand des Gesetzes zur Stärkung der Digitalisierung im Bauleitplanverfahren und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 3. Juli 2023, in Kraft getreten am 7. Juli 2023, deutlich. § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB wurde dahingehend geändert, dass die Angabe „31. Dezember 2024“ durch die Angabe „31. Dezember 2027“ ersetzt, d.h. dass die Befreiungsmöglichkeit nach dieser Vorschrift verlängert wurde. Im Rahmen der Gesamtschau ist auch zu sehen, dass vornherein befristete Maßnahmen eine geringere Eingriffsintensität aufweisen.
53
(b) Die Entscheidung der Antragsgegnerin über die Befreiung ist im Rahmen der nach § 114 VwGO eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung auch hinsichtlich der Ermessensausübung voraussichtlich nicht zu beanstanden.
54
Hierbei darf das hohe öffentliche Interesse an der Schaffung zusätzlicher Unterbringungsmöglichkeiten für Asylsuchende nicht unberücksichtigt bleiben, dass es nahe legt, die Anforderungen an den von der Bauaufsichtsbehörde zu leistenden Begründungsaufwand ihrer Ermessensentscheidung herabzusenken. Aber abgesehen davon, dass für die Ausübung des Befreiungsermessens im Rahmen des § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen wenig Spielraum verbleibt (VG München, U.v. 7.2.2022 – M 8 K 19.6345 – juris Rn. 27; VG Augsburg, U.v. 21.4.2016 – Au 5 K 16.53 – UA Rn. 69), hat die Antragsgegnerin das ihr eröffnete Ermessen erkannt, die Belange – insbesondere auch die nachbarlichen Belange – abgewogen und ihre Entscheidung umfangreich und nach Auffassung der Kammer im Ergebnis überzeugend begründet.
55
(c) Auch die Voraussetzungen der Subsidiaritätsklausel des § 246 Abs. 13a BauGB sind nach summarischer Prüfung erfüllt.
56
§ 246 Abs. 13a BauGB sieht vor, dass von § 246 Abs. 8 bis 13 BauGB nur Gebrauch gemacht werden darf, soweit dringend benötigte Unterkünfte im Gebiet der Gemeinde, in der sie entstehen sollen, nicht oder nicht rechtzeitig bereitgestellt werden können.
57
Betrachtungsgebiet ist dabei allein die Gemeinde, in der die Flüchtlingseinrichtung entstehen soll. Eine besondere Ortsgebundenheit an die betreffende Gemeinde ist nicht erforderlich, so dass insbesondere die Gemeinde nicht selbst Trägerin des Vorhabens sein muss. Vielmehr sollen vor allem auch Einrichtungen des Landes einer sinnvollen landesweiten Verteilung zugänglich sein. Es bedarf einer Klärung, ob die vorgesehene Unterbringungseinrichtung an der dafür vorgesehenen Stelle im Gemeindegebiet unter Abweichung von dem ansonsten geltenden Bauplanungsrecht vernünftigerweise zur Deckung des Unterbringungsbedarfs geboten ist. Dies schließt auch die Prüfung nachbarlicher Interessen ein (Mitschang/Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 15. Aufl. 2022, § 246 Rn. 45a f.).
58
Dass die Erstaufnahmeeinrichtung i.S.d. § 246 Abs. 13a BauGB dringend benötigt wird, steht zur Überzeugung der Kammer nach den Stellungnahmen der Regierung von ... und des Landkreises Günzburg, jeweils mit E-Mail vom 24. Mai 2023 (Bl. 100 ff. der Behördenakte), und den Ausführungen im Bescheid fest. Die Regierung von ... ist die Betreiberin der Erstaufnahmeeinrichtung ANKER .... Der ANKER ... besteht aus dem Behördenzentrum in der Stadt ... und weiteren Dependancen in der Stadt, in ... (Landkreis Augsburg), in ... (Landkreis Aichach-Friedberg) und in der Stadt .... Nach den Ausführungen der Regierung von ... bestehe im ANKER ... derzeit Vollauslastung. Insgesamt verfüge der ANKER ... über 1.964 Plätze, von denen nur 1.137 Plätze für einen dauerhaften Aufenthalt von Flüchtlingen geeignet seien. Im Behördenzentrum in ... und in den Dependancen in der Stadt ... sowie in ... sei die räumliche Struktur dergestalt, dass die Unterbringung in den großen Schlafsälen einer Belegung in Turnhallen ähnle. Aus humanitären Gründen sei dort nur ein Aufenthalt von wenigen Tagen möglich. Die aktuelle Auslastung der für einen längeren Aufenthalt geeigneten Dependancen liege bei 79,5%. Diese stelle nach den Vorgaben des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration eine Vollauslastung dar. Eine Belegung der Bettenkapazitäten zu 100% sei aus verschiedenen Gründen, wie der Rücksichtnahme auf Familien oder vulnerable Personen oder aus gebäudebezogenen Anlässen, nicht möglich.
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Da unter Zugrundelegung dieser Zahlen bereits jetzt eine Vollauslastung besteht, ist es angesichts der aktuellen Flüchtlingszahlen nur logisch, dass die Unterbringungskapazitäten der Erstaufnahmeeinrichtung ANKER ... dringend erhöht werden müssen, um der Aufnahmeverpflichtung nachkommen zu können. Dass die Flüchtlingszahlen zuletzt stark angestiegen sind, ist hinlänglich bekannt. Allein im Zeitraum von Januar bis Juni 2023 wurden im Freistaat Bayern 23.417 Asylerstanträge gestellt (https://de.statista.com/statisik/daten/studie/451903/umfrage/asylantraege-in-deutschland-nach-bundeslaendern/). Laut der Stellungnahme der Regierung von ... werden für das Kalenderjahr 2023 zwischen 40.000 und 60.000 neue Flüchtlinge erwartet. Das sind deutlich mehr als noch im Vorjahr. Im Jahr 2022 waren nach dem bundesweiten Verteilungssystem EASY (Erstverteilung von Asylbegehrenden) in Bayern 28.944 Asylerstanträge zu verzeichnen (Tabelle I – 2: Verteilung der Asylbegehrenden auf die Bundesländer im Jahr 2022 in: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2023, Das Bundesamt in Zahlen 2022 – Asyl, S. 14). Gemäß der in § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Asyldurchführungsverordnung (DVAsyl) festgelegten Quote werden 14,4% der Asylbegehrenden in Bayern auf den Regierungsbezirk ... verteilt. Das entspricht ca. 5.760 bis 8.640 Asylbegehrenden, die im Jahr 2023 im Regierungsbezirk ... untergebracht werden müssen. Dies stimmt mit den (gerundeten) Angaben in der Stellungnahme der Regierung von ... überein, wonach im Regierungsbezirk ... im Jahr 2023 ca. 6.000 bis 9.000 Menschen untergebracht werden müssen. Ausgehend von den oben genannten Zahlen für das Jahr 2022 mussten hier „nur“ 4.168 Asylbegehrende untergebracht werden. Trotz der niedrigeren Flüchtlingszahl im Vorjahr besteht Vollbelegung. Insofern hat die Regierung von ... nachvollziehbar ausgeführt, dass die Kapazitäten im ANKER ... entsprechend dringend erhöht werden müssen. Andernfalls kann der Regierungsbezirk ... seiner Aufnahmeverpflichtung nicht nachkommen. Ausweislich der Stellungnahme der Regierung von ... resultiert die Standortauswahl im Landkreis Günzburg daraus, dass der Landkreis Günzburg seine Quote nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 lit. i) DVAsyl (= 6,7% innerhalb der Verteilung des Regierungsbezirks) bislang nicht erfüllt. Hiermit übereinstimmend hat der Landkreis Günzburg mit E-Mail vom 24. Mai 2023 (Bl. 100 der Behördenakte) ausgeführt, dass sich der Landkreis Günzburg sowohl hinsichtlich der regulären Asylbewerber als auch hinsichtlich der ukrainischen Flüchtlinge ganz erheblich in der Unterquote nach der DVAsyl befinde. Im Landkreis Günzburg müssten daher zwingend weitere Unterbringungskapazitäten geschaffen werden. Die bestehenden Unterkünfte würden voraussichtlich nicht einmal mehr für die bereits angekündigten Zuweisungen ausreichen. Die Unterkünfte, die im Landkreis Günzburg geschaffen werden müssten, würden aufgrund ihrer Lage und Infrastruktur vor allem in der Großen Kreisstadt ... benötigt.
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Dass im Gebiet der Antragsgegnerin eine Erstaufnahmeeinrichtung nicht oder nicht rechtzeitig bereitgestellt werden kann, hat die Regierung von ... nach Auffassung der Kammer ebenfalls nachvollziehbar begründet. Angesichts der oben genannten Zahlen steht es für die Kammer außer Zweifel, dass es erforderlich ist, möglichst schnell möglichst viel Aufnahmekapazität zu generieren. Insofern besteht kein Zweifel daran, dass die mit dem streitgegenständlichen Vorhaben geschaffene Kapazität von 200 Plätzen (206, wenn man den Isolationsraum einbezieht), auch in diesem Umfang erforderlich ist. Dabei sind gewisse Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften zu erfüllen. Die Menschen haben ein Recht auf eine menschenwürdige Unterbringung. Das folgt aus dem Grundgesetz, nationalen Gesetzen (bspw. § 44 Abs. 2a AsylG, wonach die Länder geeignete Maßnahmen treffen sollen, um den Schutz von Frauen und schutzbedürftigen Personen in Aufnahmeeinrichtungen zu gewährleisten) sowie internationalen Abkommen (bspw. die Europäische Menschenrechtskonvention, die UN-Kinderrechtskonvention oder die Charta der Grundrechte der Europäischen Union). Das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration hat mit dem Bayerischen Schutzkonzept der Unterbringungsverwaltung zur Prävention von Gewalt (Stand: 26. August 2020) eine Grundlage für den Gewaltschutz aller Asylsuchenden im Rahmen der Unterbringung in Asylunterkünften des Freistaats Bayern geschaffen. Hiervon erfasst sind auch die sog. ANKER. Auf Grundlage dieses Rahmenkonzepts des Freistaats sollen unterkunftsspezifische Schutzkonzepte erstellt werden (Bayerisches Schutzkonzept der Unterbringungsverwaltung zur Prävention von Gewalt, Stand: 26. August 2020, S. 4 f., abrufbar unter https://www.stmi.bayern.de/assets/stmi/mui/asylsozialpolitik/2020-08-26_bayerisches_gewaltschutzkonzept_asylunterkünfte.pdf). Dieses Rahmenkonzept sieht hinsichtlich der baulichen Ausgestaltung Vorgaben zu einer ausgewogenen Gestaltung der Wohneinheiten, zu den Sanitärräumen, zur Abschließbarkeit des individuellen Wohnbereichs, zur Beleuchtung, zu kinderfreundlichen Orten und zu zusätzlichem Raumbedarf vor. Beispielsweise soll darauf geachtet werden, dass in den Unterkünften, insbesondere den ANKERn, eine Mischung aus größeren und kleineren Wohneinheiten existiert, damit der angemessenen Unterbringung von Einzelreisenden, Paaren und Großfamilien Rechnung getragen werden kann. Im Hinblick auf die Sanitärräume ist vorgesehen, dass Gemeinschaftswasch- und Duschräume sowie Gemeinschaftstoiletten nach Geschlechtern getrennt und vorhandene Kabinen abschließbar und nicht einsehbar eingerichtet werden, wenn die Unterkunft nicht oder nur teilweise über abgeschlossene Wohnbereiche, die mit eigenen Nasszellen ausgestattet sind, verfügt (hierzu: Bayerisches Schutzkonzept der Unterbringungsverwaltung zur Prävention von Gewalt, Stand: 26. August 2020, S. 7 f., abrufbar unter https://www.stmi.bayern.de/assets/stmi/mui/asylsozialpolitik/2020-08-26_bayerisches_gewaltschutzkonzept_asylunterkünfte.pdf). Ferner sieht das Rahmenkonzept besondere Unterbringungsformen für Frauen mit und ohne Kinder, für Menschen mit Behinderung und für LSBTIQ...- Personen vor (hierzu: Bayerisches Schutzkonzept der Unterbringungsverwaltung zur Prävention von Gewalt, Stand: 26. August 2020, S. 9 ff., abrufbar unter https://www.stmi.bayern.de/assets/stmi/mui/asylsozialpolitik/2020-08-26_bayerisches_gewaltschutzkonzept_asylunterkünfte.pdf). Auch den Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften (Stand: April 2021) ist zu entnehmen, dass die Unterkünfte über bauliche Schutzmaßnahmen verfügen sollten (Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften, Stand: April 2021, S. 30, abrufbar unter https://www.bmfsfj.de/resource/blob/117472/7b4cb6a1c8395449cc26a51f407436d8/mindeststandards-zum-schutz-von-gefluechteten-menschen-in-fluechtlingsunterkuenften-data.pdf).
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Dies vorausgeschickt, hat die Regierung von ... in der Stellungnahme mit E-Mail vom 24. Mai 2023 plausibel dargelegt, dass an eine Immobilie für eine kurzfristige Inbetriebnahme als Erstaufnahmeeinrichtung gewisse Anforderungen an Größe, Raumstruktur, Bauzustand, Lage und Infrastruktur zu stellen seien. Das streitgegenständliche Gebäude sei als ehemalige Kaserne mit seiner Größe, Aufteilung der Schlafräume, den vorhandenen Sanitäranlagen, der Kantine und einer ausreichenden Anzahl an Büroräumen bestens für den Betrieb einer Aufnahmeeinrichtung geeignet. Das Anwesen werde bereits derzeit als Notunterkunft für Flüchtlinge genutzt. Der Bauzustand des Objekts sei gut und es bestehe kein Sanierungsbedarf. Aus diesem Grund könne das Objekt kurzfristig in Betrieb genommen und ca. 200 Personen untergebracht werden. Die Regierung von ... hat weiter ausgeführt, dass andere geeignete Immobilien, die kurzfristig – was angesichts der stark angestiegenen Flüchtlingszahlen erforderlich ist – in Betrieb genommen werden könnten, nicht angeboten worden seien. Auch der Landkreis Günzburg hat mit E-Mail vom 24. Mai 2023 mitgeteilt, dass anderweitige Unterkünfte im Moment nicht zur Verfügung stünden. Insofern sieht die Kammer die Voraussetzung des § 246 Abs. 13a BauGB, dass dringend benötigte Unterkünfte im Gebiet der Antragsgegnerin anderweitig nicht oder nicht rechtzeitig bereitgestellt werden können, als erfüllt an.
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Im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung ist auch zu berücksichtigen, dass § 246 Abs. 13a BauGB der entsprechenden Vorgabe in § 246 Abs. 14 BauGB nachgebildet ist (Mitschang/Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 15. Aufl. 2022, § 246 Rn. 45a; Blechschmidt in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand: 149. EL Februar 2023, § 246 Rn. 52m). In der Gesetzesbegründung zu § 246 Abs. 14 BauGB heißt es (siehe BT-Drs. 18/6185, S. 55): „Diese sehr weitgehende Abweichungsbefugnis soll an die Voraussetzung gebunden sein, dass auch bei Anwendung von § 246 Absatz 8 bis 13 BauGB dringend benötigte Unterkunftsmöglichkeiten im Gebiet der Gemeinde, in der sie entstehen sollen, nicht rechtzeitig bereitgestellt werden können. Die Betrachtung des Gemeindegebiets, in der die Unterkunft entstehen soll, gilt auch dann, wenn Vorhabenträger ein Land oder in dessen Auftrag ein Dritter ist. Die Abweichungsbefugnis gilt zudem inhaltlich nicht unbegrenzt, sondern nur im erforderlichen Umfang; eine besondere Ortsgebundenheit ist insoweit jedoch regelmäßig nicht erforderlich. An beide Vorgaben sollen schon angesichts der Dringlichkeit der Unterbringung keine übersteigerten Anforderungen gestellt werden. Eine sich aus der örtlichen Situation ergebende Plausibilität der Erforderlichkeit des Vorhabens ist zur Vermeidung eines ausufernden Gebrauchs dieser Abweichungsbefugnis ausreichend, […]“. Der Gesetzesbegründung lässt sich also entnehmen, dass bereits nach der Vorstellung des Gesetzgebers an die Vorgaben des § 246 Abs. 14 BauGB „schon angesichts der Dringlichkeit der Unterbringung keine übersteigerten Anforderungen gestellt werden“ sollen. Der Bedarfsdeckung kommt ein höheres Gewicht zu als einer erschöpfenden Subsidiaritätsprüfung (OVG Hamburg, B.v. 9.5.2016 – 2 Bs 38/16 – juris Rn. 7). Vor diesem Hintergrund sieht die Kammer die Voraussetzungen des § 246 Abs. 13a BauGB umso mehr als ausreichend dargelegt an.
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(3) Nach der Rechtsauffassung der Kammer scheidet folglich eine Verletzung der Antragstellerin in ihrem Gebietserhaltungsanspruch trotz der Tatsache, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Vorhaben um eine soziale Einrichtung mit wohnähnlichem Charakter in einem Gewerbegebiet handelt, voraussichtlich aus, weil die Befreiung nach § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB in rechtmäßiger Weise erteilt wurde. Damit stellt das streitgegenständliche Vorhaben keine gebietsfremde Nutzung dar.
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bb) Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots liegt nach summarischer Prüfung nicht vor.
65
Hinsichtlich der Rechtsauffassung der Kammer, dass der Hotelbetrieb auf dem Grundstück der Antragstellerin nicht unzumutbar beeinträchtigt wird, wird auf obige Ausführungen verwiesen. Anderweitige Anhaltspunkte, dass das Vorhaben rücksichtslos sein könnte, etwa aufgrund einer erdrückenden oder abriegelnden Wirkung oder einer unzumutbaren Verschattung des Grundstücks der Antragstellerin, wurden weder vorgetragen, noch sind solche ersichtlich.
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c) Ein Verstoß gegen nachbarschützende bauordnungsrechtliche Vorschriften wurde nicht vorgetragen und ist nach summarischer Prüfung auch nicht erkennbar.
67
d) Nach alldem wird die Anfechtungsklage in der Hauptsache voraussichtlich keinen Erfolg haben. Das Vollzugsinteresse überwiegt vorliegend das Suspensivinteresse der Antragstellerin. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist somit abzulehnen.
68
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat die Antragstellerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Da sich der Beigeladene ohne eigene Antragstellung keinem Prozesskostenrisiko aus § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, dass er seine evtl. entstandenen außergerichtlichen Aufwendungen selbst zu tragen hat (§ 162 Abs. 3 VwGO).
69
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG), § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nrn. 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.