Inhalt

LG München I, Beschluss v. 12.09.2023 – 14 T 9699/23
Titel:

Barrierefreier Zugung zu Gerichtsdokumenten für Sehbehinderte

Normenketten:
ZMV § 191a, § 4
GG Art. 3 Abs. 2
GVG § 191a Abs. 1
Leitsätze:
1. Behinderte müssen gerichtliche Schriftsätze und Dokumente barrierefrei erhalten, also durch solche Kommunikationseinrichtungen und -wege, die für behinderte Menschen in der allgemein zugänglichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der barrierefreier Zugang kann nicht dadurch ersetzt werden, dass die Partei für den Zugang zu den Prozessunterlagen auf eine Vermittlung durch ihren (sehenden) Rechtsanwalt verwiesen wird (entgegen BVerfG BeckRS 2014, 57736; BGH BeckRS 2013, 03740; BeckRS 2014, 01455). (Rn. 30 – 40) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
barrierefreier Zugang, Gerichtsdokumente, Rechtsanwalt, Audiodatei
Vorinstanz:
AG München, Beschluss vom 20.06.2023 – 421 C 3915/23
Fundstellen:
GE 2024, 398
NJW-RR 2023, 1486
BeckRS 2023, 24312
LSK 2023, 24312
NJW 2024, 685
ZMR 2024, 580

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts München vom 20.06.2023, Az. 421 C 3915/23, aufgehoben.
2. Auf die Anträge der Beklagten vom 05.04.2023 (Bl. 15/16 d.A.), 06.06.2023 (Bl. 22 d.A.), 09.06.2023 (Bl. 23/25 d.A.) und 30.06.2023 (Bl. 29/55 d.A.) sind dieser die gegnerischen Schriftsätze des gerichtlichen Verfahrens barrierefrei zugänglich zu machen, indem sie ihr gem. § 191a Abs. 1, Abs. 2 GVG i.V.m. § 4 ZMV in Form einer Audiodatei oder mehrerer Audiodateien zur Verfügung gestellt werden.
3. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
4. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof wird zugelassen.

Gründe

I.
1
Die Beklagte wendet sich mit ihrer sofortigen Beschwerde vom 22.07.2023 gegen den Beschluss des Amtsgerichts München – Mietgericht vom 20.06.2023, mit welchem ihre Anträge auf barrierefreie Zugänglichmachung von Schriftsätzen des vorliegenden Verfahrens zurückgewiesen worden sind.
2
Zwischen der Klägerin und der Beklagten besteht ein Mietverhältnis über die 1-Zimmer-Wohnung Nr. 10 im Erdgeschoss des Anwesens F.-straße in München.
3
Die Klägerin nimmt die Beklagte vor dem Amtsgericht München, Az. 421 C 3915/23 auf Räumung und Herausgabe der vorgenannten Wohnung aufgrund einer Eigenbedarfskündigung vom 06.01.2023 sowie zweier fristloser, hilfsweise ordentlicher Kündigungen vom 12.01.2023 bzw. 16.03.2023 wegen Zahlungsverzugs in Anspruch.
4
Die Beklagte behauptet insbesondere, sich in einem „mit Blindheit vergleichbaren Zustand“ zu befinden. Dies ist klägerseits bestritten. Das beklagtenseits als Anlage B1 vorgelegte ärztliche Attest von Dr. med. H. spricht insoweit namentlich von einer „dramatische[n] Gesamtsituation“, die Beklagte sei „funktionell erblindet“ und daher in allen Bereichen des Alltags schwer in ihrer Selbständigkeit eingeschränkt. Der Zustand der Beklagten erfordere, dass „die Augen die meiste Zeit des Tages sowie in der Nacht mit Uhrglasverband abgeklebt werden“. Die Beklagte leide unter „ständigen, nicht behebbaren chronischen Schmerzen der Augenoberfläche bei schwerer Keratokonjuntivitis sicca“.
5
Die der Blindenschrift nicht mächtige Beklagte hat daher mehrfach beantragt, ihr die „Schriftsätze des gerichtlichen Verfahrens“ barrierefrei in Form einer Audiodatei zur Verfügung zu stellen, wobei sie sich auf § 191a Abs. 1, Abs. 2 i.V.m. § 4 ZMV (Zugänglichmachungsverordnung) beruft.
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Die Klägerseite ist dem entgegengetreten.
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Das Erstgericht hat die entsprechenden Anträge der Beklagten mit Beschluss vom 20.06.2023 zurückgewiesen. Es hat dabei unter Berufung auf den Beschluss des BVerfG vom 10.10.2014 – 1 BvR 856/13 bzw. des BGH vom 10.01.2013 – I ZB 70/12 namentlich ausgeführt, dass das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 2 GG von Gesetzgeber und Rechtsprechung fordere, bei Gestaltung und Auslegung der Verfahrensordnungen der spezifischen Situation einer Partei mit Behinderung so Rechnung zu tragen, dass ihre Teilhabemöglichkeit der einer nichtbehinderten Partei gleichberechtigt sei. Danach sei es zumindest dann mit Art. 3 Abs. 2 GG vereinbar, eine sehbehinderte Partei für den Zugang zu den Prozessunterlagen auf eine Vermittlung durch ihren Rechtsanwalt zu verweisen, wenn der Streitstoff übersichtlich ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass seine Vermittlung durch den Rechtsanwalt nicht in einer Art und Weise erfolgt, die der unmittelbaren Zugänglichmachung gleichwertig ist. Dies sei hier aus Sicht des Erstgerichts der Fall. So sei Klage auf Räumung und Herausgabe von Wohnraum aufgrund der klägerischen Eigenbedarfskündigung sowie zweier Kündigungen wegen Zahlungsverzugs erhoben worden. Beide Kündigungsgründe seien der Beklagten gut vermittelbar. Der Umfang der Klage umfasse (ohne Anlagen) vier Seiten. Die Anlagen bestünden aus dem Mietvertrag und den ausgesprochenen Kündigungen. Ein Bestreiten des Eigenbedarfs sei mit Nichtwissen möglich, und eine Schlechterstellung einer blinden Partei gegenüber einer nicht blinden Partei sei bei der Einschätzung des Bestehens eines behaupteten Eigenbedarfs nicht erkennbar. Auch eine Stellungnahme zur fristgerechten Zahlung der Mieten für die Monate Dezember 2021 bis März 2023 sollte der Beklagten mit Hilfe ihres Prozessbevollmächtigten möglich sein. Die Beklagte sei mit ihrer Prozessvertretung ausreichend in der Lage, ihre Rechte im vorliegenden Verfahren wahrzunehmen, was nunmehr mit der Klageerwiderung auch geschehen sei. Es könne davon ausgegangen werden, dass der Beklagten durch ihre Prozessvertretung der Streitstoff ohne Informationsverlust vermittelt werden könne. Diese Vermittlung sei Teil der Pflichten eines Rechtsanwalts (§§ 675 Abs. 1, 666 BGB, 11 BORA). Dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten dieser Verpflichtung nicht nachkomme, sei vorliegend nicht ersichtlich. Solange der sehbehinderten Partei durch ihren Rechtsanwalt der Prozessstoff vermittelt werde, habe sie in gleicher Weise wie eine nichtbehinderte Partei die Möglichkeit zur Kontrolle seiner Tätigkeit (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.10.2014 – 1 BvR 856/13).
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Die Beklagte meint demgegenüber im Rahmen ihrer sofortigen Beschwerde vom 22.07.2023 insbesondere, dass der erstgerichtliche Beschluss einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren darstelle. § 191a Abs. 1 GVG stelle eine wichtige Ergänzung zum Behindertengleichstellungsgesetz (BBG) dar, das darauf abziele, dass Menschen mit Behinderung eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht werde. Die Beklagte könne nicht darauf verwiesen werden, einen sehfähigen Rechtsanwalt an ihrer Seite zu haben. So könne weder dem Rechtsanwalt zugemutet werden, seiner Mandantin die Schriftsätze vorzulesen, noch könne es der Mandantin zugemutet werden, entsprechend den zeitlichen Vorgaben ihres Rechtsanwalts zuzuhören. Die Beklagte sei auf Reproduktion der Schriftsätze angewiesen, damit sie sich einzelne Passagen auch mehrmals anhören und das Wesentliche für sich filtern könne, ohne dass sie durch ihren Rechtsanwalt „bevormundet“ werde. Auch könne der Streitstoff nicht als übersichtlich bezeichnet werden, da es hier auch um Mängel der Mietsache und um insoweit erklärte Aufrechnungen gehe. Die „hilflose Lage“ der Beklagten gebiete dringend, ihr den Streitstoff in Audiodateien zur Verfügung zu stellen.
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Die Parteien haben sich in der mündlichen Verhandlung vor dem Erstgericht vom 31.07.2023 auf einen widerruflichen Räumungsvergleich geeinigt. Dieser ist von der Beklagten form- und fristgerecht widerrufen worden. Insoweit bringt die Beklagte vor, dass dem Widerruf insbesondere die Überlegung zugrunde gelegen habe, dass ihr mangels Vorlage von Audio-Dateien nicht habe vermittelt werden können, welcher Vergleich vor Gericht geschlossen worden sei.
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Mit Beschluss vom 02.08.2023 hat das Erstgericht der sofortigen Beschwerde der Beklagten nicht abgeholfen.
II.
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Die sofortige Beschwerde der Beklagten ist zulässig und begründet.
12
1. Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig.
13
Es fehlt der Beklagten insbesondere nicht an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis, zumal der mit der Klagepartei geschlossene Räumungsvergleich wirksam widerrufen worden ist. Damit kann insbesondere die Frage dahinstehen, ob der Anspruch nach § 191a Abs. 1, Abs. 2 GVG auch nach rechtskräftigem Abschluss eines Verfahrens noch besteht und das Rechtsmittel der Beklagten dadurch ggf. bereits unzulässig oder unbegründet (geworden) ist.
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Lediglich ergänzend sei angemerkt, dass sich die Verfahrensbeendigung durch Vergleich auf das beschwerdegegenständliche Recht der Beklagten wohl nicht ausgewirkt hätte. Denn nach § 191a Abs. 1 S. 3 GVG kann eine blinde oder sehbehinderte Person, der Akteneinsicht zu gewähren ist, verlangen, dass ihr die Akteneinsicht nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach § 191a Abs. 2 GVG (also der ZMV) barrierefrei gewährt wird. Akteneinsicht kann aber grundsätzlich auch nach Abschluss eines Verfahrens mit Recht beantragt werden (vgl. MüKoZPO/Pabst, 6. Aufl. 2022, § 191a GVG Rn. 10). § 4 Abs. 3 S. 1 ZMV regelt überdies ausdrücklich, dass das Verlangen auf Zugänglichmachung in jedem Abschnitt des Verfahrens geltend gemacht werden kann.
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2. Die sofortige Beschwerde der Beklagten ist auch begründet.
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Denn die Beklagte verlangt vorliegend zu Recht die barrierefreie Übermittlung der verfahrensgegenständlichen Schriftsätze in Form von Audio-Dateien.
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Der durchaus beachtlichen Argumentation des Erstgerichts kann daher letztlich – zumindest im vorliegenden Fall – nicht gefolgt werden. Die angefochtene Entscheidung war somit aufzuheben, den gestellten Anträgen stattzugeben.
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Die Beklagte stützt ihr Verlangen vorliegend zu Recht auf § 191a Abs. 1 S. 2, Abs. 2 GVG i.V.m. § 4 ZMV.
19
Nach § 191a Abs. 1 S. 2 i.V.m. Abs. 1 S. 1 GVG kann ein blinde oder sehbehinderte Person nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach § 191a Abs. 2 GVG verlangen, dass ihr Schriftsätze und andere Dokumente eines gerichtlichen Verfahrens barrierefrei zugänglich gemacht werden.
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Nach § 191a Abs. 2 GVG bestimmt das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz durch Rechtsverordnung insbesondere unter welchen Voraussetzungen und in welcher Weise die in § 191 Abs. 1 GVG genannten Dokumente und Dokumente, die von den Parteien zur Akte gereicht werden, einer blinden oder sehbehinderten Person zugänglich gemacht werden. Nach § 4 Abs. 1 ZMV besteht der Anspruch auf Zugänglichmachung, soweit der berechtigten Person dadurch der Zugang zu den ihr zugestellten oder formlos mitgeteilten Dokumenten erleichtert und sie in die Lage versetzt wird, eigene Rechte im Verfahren wahrzunehmen, wobei die Zugänglichmachung nach § 4 Abs. 2 S. 1 ZMV auf Verlangen der berechtigten Person erfolgt.
21
§ 191a Abs. 3 S. 3 GVG besagt überdies, dass nach Einführung elektronischer Dokumente (siehe u.a. § 130c ZPO), diese blinden oder sehbehinderten Personen barrierefrei zugänglich zu machen sind.
22
Die Voraussetzungen dieser Normen sind hier nach Ansicht der Kammer letztlich erfüllt.
Hierzu im Einzelnen:
23
a) Vorab ist zu betonen, dass ein barrierefreier Zugang zu den Gerichten eine der zentralen Bedingungen für die Chance auf die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist (vgl. BT-Drs. 17/13948, 37; MüKoZPO/Pabst, 6. Aufl. 2022, § 191a GVG Rn. 1). Die Norm des § 191a GVG soll dabei die Informationsmöglichkeiten blinder und sehbehinderter Personen stärken und ihnen dadurch die Wahrnehmung ihrer verfahrensmäßigen Rechte erleichtern (MüKoZPO/Pabst, 6. Aufl. 2022, § 191a GVG Rn. 2).
24
b) Ohne Zweifel handelt es sich bei der Beklagten um eine Person mit Sehbehinderung i.S. des § 191a Abs. 1 GVG.
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Blind ist eine Person, wenn ihr die Sehfähigkeit vollständig fehlt. Eine Sehbehinderung ist anzunehmen, wenn eine zuverlässige Kenntnisnahme von Schriftstücken auch nicht unter Zuhilfenahme üblicher Hilfsmittel (Brille, Kontaktlinsen, Lupe usw.) gewährleistet ist (MüKoStPO/Oğlakcıoğlu, 1. Aufl. 2018, § 191a GVG Rn. 7). Wann eine Sehbehinderung vorliegt, hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, wobei es sich insbesondere ein ärztliches Zeugnis vorlegen lassen kann (vgl. MüKoZPO/Pabst, 6. Aufl. 2022, § 191a GVG Rn. 3).
26
Aus dem beklagtenseits vorgelegten ärztlichen Attest geht nach voller Überzeugung der Kammer ohne Weiteres hervor, dass die Beklagte sehbehindert i.S.d. § 191a GVG ist. Einen anderen Schluss lassen die fundierten und nachvollziehbaren Ausführungen des behandelnden Arztes mitnichten zu. Dass das Attest aus dem Jahr 2021 stammt, ist dabei unerheblich, zumal der gesundheitliche Zustand der Beklagten offenbar nicht lediglich temporärer Natur ist.
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c) Die Beklagte gehört zweifelsfrei auch zum qualifizierten Personenkreis des § 191a GVG. Denn informationsberechtigt i.S. der Norm sind blinde und sehbehinderte Verfahrensbeteiligte, denen Rechte im Verfahren zustehen. Dies können sowohl materielle als auch prozessuale Rechte sein. Verfahrensbeteiligt i.S.d. Regelung sind insbesondere die Parteien selbst (MüKoZPO/Pabst, 6. Aufl. 2022, § 191a GVG Rn. 4), hier also die Beklagte.
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d) § 191a Abs. 1 S. 2 GVG gewährt den Zugang zu gerichtlichen Schriftsätzen und Dokumenten. Das Informationsrecht in besonderer Form ist nicht beschränkt auf Dokumente, die zur Wahrnehmung der verfahrensmäßigen Rechte erforderlich sind. Der Zugang muss barrierefrei erfolgen, also durch solche Kommunikationseinrichtungen und -wege, die für behinderte Menschen in der allgemein zugänglichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind (§ 4 BGG). Der Zugang erfolgt dabei nach Maßgabe der ZMV (siehe jeweils MüKoZPO/Pabst, 6. Aufl. 2022, § 191a GVG Rn. 8). Nach § 2 ZMV sind alle Dokumente, die der betroffenen Person zuzustellen oder formlos bekannt zu geben sind, vom Anspruch auf Zugänglichmachung umfasst. Als solche gerichtliche Dokumente kommen insbesondere Beschlüsse, Verfügungen und sonstige Entscheidungen in Betracht, die gemäß der Verfahrensordnung zur Kenntnisnahme durch die betroffene Person bestimmt sind. Der Anspruch besteht ferner für Schriftsätze des Gegners (siehe jeweils MüKoZPO/Pabst, 6. Aufl. 2022, § 191a GVG Rn. 9).
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Da die Beklagte hier offenbar die Zugänglichmachung der gegnerischen Schriftsätze (namentlich der Klage) begehrt, ist ihr Verlangen auch dem Umfang nach berechtigt.
30
Der Tenor der Beschwerdeentscheidung wird insoweit (deklaratorisch) präzisiert, als dort explizit von den gegnerischen Schriftsätzen des gerichtlichen Verfahrens gesprochen wird.
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e) Soweit das Erstgericht hier davon ausgegangen ist, dass die barrierefrei Zugänglichmachung der maßgeblichen Schriftsätze zur Wahrnehmung der Rechte der Beklagten im Verfahren nicht erforderlich sei, vermag sich die Kammer diesem Standpunkt nicht anzuschließen.
32
Wie vom Erstgericht noch zutreffend aufgezeigt, ist zwar sowohl vom BVerfG als auch vom BGH in den Jahren 2013 bzw. 2014 entschieden worden, dass eine Erforderlichkeit für die Wahrnehmung der Rechte im Verfahren zu verlangen sei (siehe BVerfG, Beschluss vom 10.10.2014 – 1 BvR 856/13, NJW 2014, 3567; BGH, Beschluss vom 10.01.2013 – I ZB 70/12, NJW 2013, 1011; BGH, Beschluss vom 19.02.2014 – I ZB 70/12, NJW 2014, 1455). Dies bedeute, dass eine sehbehinderte Partei für den Zugang zu den Prozessunterlagen auf eine Vermittlung durch ihren (sehenden) Rechtsanwalt verwiesen werden könne, wenn der Streitstoff übersichtlich ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass seine Vermittlung durch den Rechtsanwalt nicht in einer Art und Weise erfolgt, die der unmittelbaren Zugänglichmachung gleichwertig ist.
33
Die Kammer ist insoweit – anders als das Erstgericht – zunächst der Ansicht, dass diese Rechtsprechung auf den vorliegenden konkreten Fall nicht übertragbar ist. Ferner ist sie der Meinung, dass die Rechtsprechung des BVerfG sowie des BGH jedenfalls auf die aktuelle Fassung des § 191a GVG keine Anwendung (mehr) finden kann.
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(1) Will man der vorstehend zitierten Rechtsprechung – wie nicht – folgen, so wäre gleichwohl von der Erforderlichkeit der Bereitstellung von Audiodateien auszugehen. Denn streitgegenständlich sind hier gleich mehrere Kündigungen, nämlich eine Eigenbedarfskündigung sowie fristlose, hilfsweise ordentliche Kündigungen wegen Zahlungsverzugs. Bereits vor diesem Hintergrund bestehen erhebliche Bedenken bezüglich der Annahme einer Übersichtlichkeit des Streitstoffs, zumal die Beschwerde insoweit zudem vorbringt, dass die kündigungsgegenständlichen Zahlungsrückstände wegen behaupteter Mängeln der Mietsache nach § 536 BGB in Zweifel zu ziehen seien. Auch stünden Aufrechnungen im Raum.
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In Bezug auf die Eigenbedarfskündigung ist zudem Widerspruch nach §§ 574 ff. BGB erhoben worden.
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Nach alledem ergeben sich vorliegend durchaus materiell-rechtliche sowie prozessuale Schwierigkeiten, die die Annahme der Erforderlichkeit i.S. der Rechtsprechung des BVerfG und des BGH rechtfertigen würden.
37
Am bloßen Umfang der Klageschrift (vier Seiten) lässt sich die Erforderlichkeit jedenfalls nicht belastbar festmachen.
38
Bereits in diesem Lichte wäre daher – selbst bei Anwendung der zitierten Rechtsprechung – von einem berechtigten Verlangen der Beklagten auszugehen.
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(2) Darüber hinaus ist die Kammer der Meinung, dass bei Anwendung von § 191a GVG i.V.m. § 4 ZMV in der derzeit maßgeblichen Fassung das Kriterium der Erforderlichkeit keine tragfähige Grundlage (mehr) besitzt und als überholt anzusehen ist (so auch MüKoZPO/Pabst, 6. Aufl. 2022, § 191a GVG Rn. 14).
40
Bereits der Wortlaut der o.g. Vorschriften steht dem (nunmehr) entgegen. Für eine entsprechende Auslegung bzw. teleologische Reduktion besteht in Ansehung des aufgezeigten Sinns und Zwecks der Norm ebenfalls kein Raum. So ist insbesondere nachvollziehbar, dass die Beklagte nicht darauf verwiesen werden will, dass ihr Rechtsanwalt ihr die Schriftsätze ja erklären oder vorlesen könne. Ihr muss vielmehr die Möglichkeit gegeben sein, sich mit den entsprechenden Dokumenten selbst – und ggf. auch wiederholt – auseinanderzusetzen. Sehfähige Personen, die dieses überaus legitime Interesse haben, können die gegnerischen Schriftsätze (ggf. auch wiederholt) selbst durchlesen und sich intensiv – sowie zu selbstgewählten Zeiten – mit ihnen befassen. Nicht (ausreichend) sehfähigen Personen muss dagegen eine barrierefreie Form der Dokumente zur Verfügung gestellt werden, damit ihnen die gleichen Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem gegnerischen Vorbringen an die Hand gegeben sind. In der Tat gebieten dies auch die Gebote der Gleichbehandlung und des fairen Verfahrens.
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f) Als Form der barrierefreie Zugänglichmachung der begehrten Dokumente kommt insbesondere die verlangte Audiodatei in Betracht. Dies gilt gerade auch dann, wenn eine sehbehinderte Person der Blindenschrift nicht mächtig ist.
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g) Ergänzend wird angemerkt, dass Anhaltspunkte für eine rechtsmissbräuchliche Geltendmachung der Rechte nach § 191a GVG i.V.m. der ZMV – etwa zum Behufe der Verzögerung der nach § 272 Abs. 4 ZPO beschleunigt durchzuführenden Räumungssache – nicht ersichtlich sind.
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f) Für die Kostentragung wird § 191a Abs. 1 S. 5 GVG zu beachten sein, der bestimmt, dass für die Übertragung keine Auslagen erhoben werden. Dies spiegelt sich in den Kostenverzeichnissen wider (siehe Nr. 9005 Abs. 3 KV-GKG). Die Kosten für die Übertragung in oder aus z.B. Blindenschrift bzw. die Kosten der hier verlangten Audiodateien trägt daher stets die Staatskasse (vgl. namentlich MüKoZPO/Pabst, 6. Aufl. 2022, § 191a GVG Rn. 17).
44
Nach alledem ist der sofortigen Beschwerde vorliegend Erfolg beschieden.
III.
45
Die Kostenfolge beruht auf § 91 ZPO. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 574 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ZPO zuzulassen.
46
Denn die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern hier eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts, § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Es steht vorliegend eine Abweichung von der Rechtsprechung des BVerfG sowie des BGH im Raum.