Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 17.08.2023 – 204 StObWs 295/23
Titel:

Rechtsbeschwerde im Strafvollzugsverfahren nach Gehörsverletzung durch Verwertung von Beweisergebnissen, über die der Strafgefangene zuvor nicht informiert wurde

Normenketten:
GG Art. 103 Abs. 1
EMRK Art. 6 Abs. 1
Leitsatz:
Zu den Grundsätzen der Gewährung rechtlichen Gehörs und eines fairen Verfahrens gehört es auch, dass ein Gericht in seiner Entscheidung nur solche Beweisergebnisse verwerten darf, über die es den Strafgefangenen zuvor informiert hat und zu denen der Strafgefangene Stellung nehmen konnte. Für die Feststellung einer Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Rechts auf ein faires Verfahren kommt der Beruhensfrage dabei keine entscheidende Bedeutung zu. (Rn. 14 – 16)
Schlagworte:
Strafvollzugsverfahren, Verwertung von Beweisergebnissen, rechtliches Gehör, faires Verfahren, Beruhensfrage, Rechtsbeschwerde
Vorinstanz:
LG Regensburg, Beschluss vom 01.06.2023 – SR StVK 1332/22
Fundstellen:
BeckRS 2023, 24310
LSK 2023, 24310
StV 2024, 45

Tenor

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen M.K. wird der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing vom 1.6.2023 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.
2. Der Geschäftswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 100,00 EUR festgesetzt.
3. Dem Beschwerdeführer wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt. Der Antrag auf Beiordnung eines Rechtsanwalts für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird zurückgewiesen.
4. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird als unzulässig verworfen.

Gründe

I.
1
Mit Schreiben vom 9.11.2022 beantragte der Strafgefangene, die Justizvollzugsanstalt S. zu verpflichten, ihm auf seinen Antrag vom 8.8.2022 hin Akteneinsicht in seine Gefangenenpersonalakte zu gewähren. Er habe am 8.8.2022 beantragt, Akteneinsicht in die genannten Personenakten zu bekommen, diese jedoch nicht erhalten.
2
Mit Schreiben vom 13.12.2022 beantragte die Justizvollzugsanstalt S., den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unzulässig zu verwerfen, da ein Antrag des Strafgefangenen vom 8.8.2022, Akteneinsicht in seine Gefangenenpersonalakte zu erhalten, nicht vorliege.
3
Mit Schreiben vom 20.1.2023 nahm der Strafgefangene hierzu Stellung und teilte mit, dass er den Antrag vom 8.8.2022 zusammen mit dem Antrag auf Einsicht in seine Krankenakte eingeworfen habe.
4
Mit Beschluss vom 7.2.2023 wies die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg beim Amtsgericht Straubing den Antrag auf gerichtliche Entscheidung des Strafgefangenen vom 9.11.2022 als unzulässig zurück und verwies zur Begründung darauf, dass Voraussetzung für das gerichtliche Verfahren ein entsprechender Antrag auf Einsicht in die Gefangenenpersonalakte gewesen wäre, welcher nach der Mitteilung der Antragsgegnerin nicht vorhanden wäre.
5
Auf die gegen diesen Beschluss eingelegte Rechtsbeschwerde hob das Bayerische Oberste Landesgericht mit Beschluss vom 3.4.2023 (AZ: 204 StObWs 70/23) den Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg beim Amtsgericht Straubing vom 7.2.2023 wegen eines Aufklärungsmangels auf. Die Strafvollstreckungskammer hätte sich selbst durch Einsicht in die Gefangenenpersonalakte davon überzeugen müssen, dass der vom Strafgefangenen genannte Antrag nicht in der Gefangenenpersonalakte vorhanden wäre.
6
Mit Anforderungen in den Verfügungen vom 26.4.2023 und 4.5.2023 ließ sich das Gericht die relevanten Bände der Gefangenenpersonalakte des Beschwerdeführers vorlegen und nahm in diese Einsicht.
7
Mit Beschluss vom 1.6.2023 wies die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg beim Amtsgericht Straubing den Antrag auf gerichtliche Entscheidung erneut zurück. Zur Begründung führte die Strafvollstreckungskammer aus, dass die richterliche Einsichtnahme in die Gefangenenpersonalakte ergeben habe, dass der vom Antragsteller genannte Antrag nicht vorhanden sei.
8
Gegen diesen Beschluss, dem Beschwerdeführer zugestellt am 9.6.2023, legte dieser zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts Straubing am 22.6.2023 Rechtsbeschwerde ein und rügte die Verletzung rechtlichen Gehörs, weil ihm die Verfahrensakten vor der erneuten Entscheidung der Strafvollstreckungskammer trotz Antrag nicht zur Einsicht überlassen worden wären. Weiter beantragte er die Gewährung von Prozesskostenhilfe und den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
9
Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragte mit Schreiben vom 11.7.2023, die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen kostenfällig als unzulässig zu verwerfen und den Prozesskostenhilfeantrag zurückzuweisen.
10
Zum Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft München vom 11.7.2023 nahm der Strafgefangene mit Schreiben vom 27.7.2023 Stellung.
II.
11
Die form- und fristgerecht (Art. 208 BayStVollzG i.V.m. §§ 116 Abs. 1 und 2, 118 Abs. 1 bis 3 StVollzG) eingelegte Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat mit der Verfahrensrüge einen vorläufigen Erfolg.
12
1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil mit der angefochtenen Entscheidung, wäre sie fehlerhaft, dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör versagt worden wäre. Ein solcher (möglicher) Verfahrensverstoß ist neben den in § 116 Abs. 1 StVollzG genannten ein weiterer Zulassungsgrund (KG, Beschluss vom 15.8.2013 – 2 Ws 389/13 Vollz –, juris Rn. 11).
13
Die Verfahrensrüge ist auch zulässig erhoben, da die vom Strafgefangenen vorgebrachte Begründung den Verfahrensverstoß ausreichend bezeichnet. Es wird deutlich, dass er von dem ihm nicht mitgeteilten Ergebnis der Beweiserhebung überrascht wurde. Die Anforderungen an den Vortrag dürfen insoweit nicht zu streng gehandhabt werden, weil es um die Gewährung effektiven Rechtsschutzes geht. Nach Art. 19 Abs. 4 GG darf der Zugang zu den Gerichten und den vorgesehenen Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Dies muss auch der Richter bei der Auslegung prozessualer Normen beachten. Er darf ein von der Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch eine überstrenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften ineffektiv machen und für den Bf. „leerlaufen“ lassen. Formerfordernisse dürfen nicht weiter gehen, als es durch ihren Zweck geboten ist, da von ihnen die Gewährung des Rechtsschutzes abhängt (BVerfG, Beschluss vom 18.3.2015 – 2 BvR 1111/13 –, juris Rn. 49).
14
2. Die Strafvollstreckungskammer hat vorliegend das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) des Beschwerdeführers verletzt, indem sie die Ergebnisse der von ihr durch Überprüfung des Inhalts der Gefangenenpersonalakte durchgeführten Beweisaufnahme ihrer Entscheidung zu Grunde gelegt hat, ohne den Strafgefangenen über das Ergebnis der Beweisaufnahme vorher zu informieren und ihm Gelegenheit zu geben, hierzu Stellung zu nehmen.
15
Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs erschöpft sich nicht in dem Recht des Verfahrensbeteiligten, Äußerungen abzugeben, und in der entsprechenden Pflicht des Gerichts, solche Äußerungen zur Kenntnis zu nehmen und in die Erwägungen einzubeziehen. Art. 103 Abs. 1 GG verleiht vielmehr dem Verfahrensbeteiligten darüber hinaus einen Anspruch darauf, zu Tatsachen und Beweisergebnissen, die das Gericht bei seiner Entscheidung berücksichtigen will, gehört zu werden, und verpflichtet demgemäß das Gericht, nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zu verwerten, zu denen Stellung zu nehmen der Beteiligte Gelegenheit hatte. Verwertet die Strafvollstreckungskammer in ihrem Beschluss Tatsachen und Beweisergebnisse, zu denen der Antragsteller mangels Kenntnis nicht Stellung nehmen konnte, verletzt sie dessen Recht auf rechtliches Gehör (KG Berlin, Beschluss vom 15.8.2013 – 2 Ws 389/13 Vollz –, juris; Schwind/Böhm/ Jehle/Laubenthal, StVollzG, 7. Auflage 2020, 12. Kap. I. Rn. 6 mit weiteren Nachweisen).
16
Dies gilt – auch wenn der Gehörsverstoß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Aufhebung der ergangenen Entscheidung nur unter der Voraussetzung führt, dass sie auf dem Verstoß beruht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.1.1958 – 1 BvR 271/57 –, juris Rn. 5) – grundsätzlich unabhängig davon, ob unter den gegebenen Umständen von der Möglichkeit auszugehen ist, dass eine etwaige Äußerung Einfluss auf das Entscheidungsergebnis gewinnt oder nicht. Denn der grundrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör dient nicht nur der Gewährleistung sachrichtiger Entscheidungen, sondern auch der Wahrung der Subjektstellung der Beteiligten im gerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6.6.2011 – 2 BvR 2076/08 –, juris Rn. 3 m.w.N.). Angesichts einer verbreiteten Praxis der Gerichte, Strafgefangenen die Stellungnahme der Gegenseite wegen deren rein rechtsbezogenen Inhalts oder wegen aus sonstigen Gründen unterstellter mangelnder Entscheidungserheblichkeit möglicher Erwiderungen regelmäßig nicht zur Kenntnis zu geben, hat das Bundesverfassungsgericht hierauf mehrfach hingewiesen (vgl. die Nachweise bei BVerfG, Beschluss vom 06.06.2011 – 2 BvR 2076/08 –, juris Rn. 3). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte misst für die Feststellung einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK), das den Anspruch auf rechtliches Gehör einschließt, ausdrücklich der Beruhensfrage keine entscheidende Bedeutung zu, sofern der Anspruch auf rechtliches Gehör in seiner Funktion als Grundlage für das Vertrauen der Verfahrensbeteiligten in die Arbeit der Justiz berührt ist (vgl. EGMR, Urteil vom 21.2.2002, Ziegler v. Switzerland – 33499/96, Rn. 38; Urteil vom 12.2.2004, Steck-Risch et al. v. Liechtenstein – 63151/00, Rn. 57; vgl. auch EGMR, Urteil vom 3.7.2008, Vokoun c. République Tchèque – 20728/05, Rn. 25 ff., und EGMR, Urteil vom 18.10.2007, Asnar c. France – 12316/04, Rn. 24 ff.).
17
3. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass dem Strafgefangenen auch ein Akteneinsichtsrecht zusteht, § 185 StVollzG. Dieses umfasst sowohl das Verwaltungs- als auch das Gerichtsverfahren nach § 109 StVollzG einschließlich der beigezogenen Akten wie Gefangenenpersonal- und Gesundheitsakten (Arloth/Krä/Arloth, 5. Aufl. 2021, StVollzG § 185 Rn. 5 mwN). Voraussetzung ist, dass der Antragsteller darlegt, dass er zur Wahrung seiner rechtlichen Interessen (etwa um bestimmte Gesetzesverletzungen der Vollzugsbehörde bezeichnen zu können) auf die Einsichtnahme angewiesen ist. Vorliegend würde damit auch nicht die Hauptsache vorweggenommen, da es sich bei den vom Gericht beigezogenen Gefangenenpersonalakten nur um einen Teil derselben handelt, so dass im Fall der Einsichtnahme durch den Strafgefangenen die Hauptsache noch nicht vorweggenommen wäre.
III.
18
1. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers bleibt bei einer Zurückverweisung der Strafvollstreckungskammer vorbehalten (BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, 23. Ed. 1.2.2023, StVollzG § 121 Rn. 1).
19
2. Die Festsetzung des Geschäftswerts für das Rechtsbeschwerdeverfahren beruht auf § 1 Abs. 1 Nr. 8, §§ 60, 65, 52 Abs. 1 GKG. Es besteht keine Veranlassung, den von der Strafvollstreckungskammer zutreffend festgesetzten Geschäftswert für die erste Instanz nach § 63 Abs. 3 Nr. 2 GKG abzuändern.
20
3. Die Entscheidung über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren für den mittellosen Beschwerdeführer beruht auf Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 120 Abs. 2 StVollzG, §§ 114, 115, 119 Abs. 1 ZPO.
21
Der Beiordnung eines Rechtsanwalts bedarf es nicht, da bereits aufgrund der vom Beschwerdeführer form- und fristgerecht eingelegten Rechtsbeschwerde die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen ist, so dass die Tätigkeit eines Rechtsanwalts im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht mehr erforderlich ist (Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 120 Abs. 2 StVollzG, § 121 Abs. 2 ZPO; st. Rspr. des Senats, u.a. Beschlüsse vom 9.11.2022 – 204 StObWs 322/22, vom 23.8.2021 – 204 StObWs 83/21, juris Rn. 24, und vom 7.2.2023 – 204 StObWs 22/23).
IV.
22
Der Antrag auf einstweilige Anordnung ist auf die Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet und erweist sich im Rechtsbeschwerdeverfahren als unzulässig (BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, 23. Ed. 1.2.2023, StVollzG § 114 Rn. 9).