Inhalt

OLG Nürnberg, Beschluss v. 28.08.2023 – 7 WF 622/23
Titel:

Ablehnung eines Sachverständigen wegen seines Aussageverhaltens in einem Parallelverfahren

Normenketten:
FamFG § 30 Abs. 1
ZPO § 42, § 406 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 5, § 568
BGB § 1684 Abs. 4
Leitsätze:
Ein Sachverständiger, der in einem mündlichen familiengerichtlichen Sachverständigengutachten in einem Parallelverfahren psychologische Testergebnisse zum Nachteil einer Verfahrensbeteiligten mindestens fahrlässig falsch dargestellt hat, liefert damit einen Grund, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit in einem Verfahren zu rechtfertigen, in dem ein schriftliches Gutachten durch ihn noch aussteht. (Rn. 29 – 31)
Da eine ordnungsgemäße Abhilfeentscheidung keine Verfahrensvoraussetzung für die Durchführung des Verfahrens auf eine sofortige Beschwerde eines Beteiligten ist, kann das Beschwerdegericht davon absehen, die Sache wegen fehlender Abhilfeentscheidung an das Amtsgericht zurückzugeben, sondern selbst entscheiden (ebenso OLG München BeckRS 2016, 3389). (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
familienpsychologisches Sachverständigengutachten, Umgangsausschluss, Gutachten im einstweiligen Anordnungsverfahren, Kindeswohlgefährdung, Befangenheitsantrag, Abhilfeentscheidung, Aussageverhalten des Sachverständigen
Vorinstanz:
AG Nürnberg, Beschluss vom 07.07.2023 – 117 F 3859/21
Fundstellen:
FamRZ 2024, 66
BeckRS 2023, 24281
LSK 2023, 24281

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin hin wird der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg, Abteilung für Familiensachen, Az: 117 F 3859/21, vom 07.07.2023 abgeändert.
Das den Sachverständigen Dr. S. betreffende Ablehnungsgesuch der Antragstellerin wird für begründet erklärt.
2. Der Wert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.300 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Beteiligten sind die seit Mai 2021 getrenntlebenden Eltern des Kindes H., geb. am …2018, die bislang das gemeinsame Sorgerecht für das Kind ausüben. Mit Antrag vom 06.12.2021 beantragte die Antragstellerin im vorliegenden Verfahren die Übertragung der elterlichen Sorge auf sich. Hintergrund des Antrags war eine seitens der Antragstellerin beim Antragsgegner über mehrere Jahre hinweg festgestellte Persönlichkeitsveränderung und der von ihr geäußerte Verdacht, der Antragsgegner habe einen Vergiftungsversuch zu ihren Lasten und sexuellen Missbrauch zu Lasten von H… begangen. Der Antragsgegner wies sämtliche Vorwürfe zurück und erklärte die Situation mit dem schlechten psychischen Allgemeinzustand der Antragstellerin, der Züge von Paranoia aufweise. Die zwischenzeitlich laufenden staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren gegen den Antragsgegner wurden eingestellt.
2
Am 21.12.2021 erließ das Amtsgericht einen Beweisbeschluss, nach dem ein schriftliches familienpsychologisches Sachverständigengutachten über die Erziehungsfähigkeit und Bindungstoleranz der Elternteile sowie die Frage, welcher Elternteil besser in der Lage sei, das Kind zu betreuen und zu erziehen, zu erholen sei. Dabei möge der Sachverständige auf die von der Mutter vorgebrachten Vorwürfe betreffend des Verdachts des sexuellen Missbrauchs des Kindes durch den Antragsteller sowie auf die seitens des Antragsgegners geäußerten Vorwürfe von paranoiden Störungen und Verfolgungswahn bei der Antragstellerin eingehen. Das Gutachten sei bis Juni 2022 zu erstatten. Mit Beschluss vom 02.02.2022 wurde der Beschluss dahingehend ergänzt, dass Dr. S… zum Sachverständigen bestellt wurde.
3
Am 22.03.2022 reichte die Antragstellerin einen Antrag auf einstweilige Anordnung auf Ausschluss des Umgangsrechts gem. § 1684 Abs. 4 BGB beim Amtsgericht ein (Az: 117 F 1033/22). Sie führte aus, am 18.03.2022 habe die Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kinder- und Jugendalter (KJP) bezüglich H… die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung nach körperlichem, anzunehmend sexuellem Missbrauch gestellt. Sie, die Antragstellerin habe bei H. jeweils nach den Umgängen ein äußerst aggressives Verhalten und massive nächtliche Alpträume beobachtet. Diese Beobachtung werde auch von der Tagesklinik der KJP, in der sich H. seit Januar 2022 tagsüber zur Diagnostik und Behandlung aufhalte, geteilt. Das Verhalten H. unmittelbar nach den Umgängen zeige, dass die Umgänge mit dem Vater ihn sehr belasteten. Das ärztliche Attest des Klinikums Nürnberg – Süd – vom 18.03.2022 sowie eine eidesstattliche Versicherung der Antragstellerin waren beigefügt.
4
Mit Beschluss vom 23.03.2022 beauftragte das Amtsgericht den Sachverständigen Dr. S., im einstweiligen Anordnungsverfahren Umgang ein mündliches Gutachten darüber zu erstatten, welche Umgangsregelung zur bestmöglichen Wahrung des Wohles des Kindes angezeigt sei. Dabei solle auch geprüft werden, ob ein Ausschluss des Umgangs zum Wohle des Kindes erforderlich sei. Ebenfalls mit Beschluss vom 23.03.2022 schloss das Amtsgericht Nürnberg das Umgangsrecht des Antragsgegners bis zum 29.04.2022 aus. Das Amtsgericht bestimmte zeitgleich einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 29.04.2022. Ein Telefonvermerk der Richterin vom selben Tag ergibt, dass sie mit dem Sachverständigen an diesem Tag telefoniert hat und dieser ihr mitgeteilt hat, dass er im Hinblick auf das beauftragte Gutachten im Verfahren zur elterlichen Sorge noch zu keinem vorläufigen Ergebnis im Rahmen der Begutachtung gekommen sei, er jedoch bis zum Anhörungstermin am 29.04.2022 ein mündliches Gutachten zur Frage des Umgangsausschlusses erstellen könne.
5
Aufgrund mehrerer Terminsverlegungen fand der Termin zur mündlichen Anhörung und Gutachtenserstattung im einstweiligen Anordnungsverfahren Umgang am 24.06.2022 statt. Im Hinblick auf die Einzelheiten des Ablaufs der Sitzung sowie des Inhalts des mündlichen Sachverständigengutachtens wird auf das Protokoll in der beigezogenen Akte des Amtsgerichts Nürnberg, 117 F 1033/22 verwiesen. Der Sachverständige kommt in seinen mündlichen Ausführungen zu dem Ergebnis, dass es keinerlei Hinweise auf einen Übergriff, sexuell übergriffiges Verhalten oder durch den Kindsvater indiziertes traumatisches Erleben bei H. gebe. H. selbst fühle sich vom Vater praktisch nicht bedroht. Dagegen habe eine bei der Kindsmutter durchgeführte Testung einen sehr hohen Wert für Depressivität und paranoides Erleben ergeben. Man müsse daher davon ausgehen, dass dieses Belastungserleben zu einer möglichen Kindeswohlgefährdung für H. bei der Mutter führen könne. Aufgrund dieses Erlebens sei H. komplett durcheinander. Auch verschiedene Testungen bei H. hätten im Verhältnis zur Mutter eine deutliche Belastung ergeben. Nach Meinung des Sachverständigen liege ein besonderes Schutzbedürfnis und eine Dringlichkeit vor, dass sofort eingegriffen werden müsse. Die Erwägung eines erweiterten Suizids halte er für nachvollziehbar. Der Sachverständige ging auch auf die vorgelegten Atteste der Klinik ein. Eine Beobachtung H. durch ihn in der Tagesklinik sei seitens der Klinik nicht ermöglicht worden. Die Klinik schließe die naheliegendste Situation aus, nämlich das Bedingtsein der Situation durch die schwere psychische Belastung der Mutter. Deren Wahnvorstellungen seien nicht korrigierbar. Die Klinik sei der Meinung, dass es einen Missbrauch durch den Vater gegeben habe, andere Alternativen ziehe sie nicht in Erwägung.
6
Mit Teilbeschluss vom 24.06.2023 übertrug das Amtsgericht im Verfahren 117 F 1033/22 vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht und das Recht zur Gesundheitsfürsorge auf den Antragsgegner und ordnete die Herausgabe des Kindes an den Antragsgegner an. Einen Befangenheitsantrag der Antragstellerin gegen den Sachverständigen Dr. S. wies das Amtsgericht mit Beschluss vom selben Tag zurück. Die gegen beide Beschlüsse vor dem Oberlandesgericht eingelegten Rechtsmittel (7 UF 621/22 und 7 WF 622/22) blieben erfolglos.
7
Im verfahrensgegenständlichen Sorgeverfahren legte die Antragstellerin unter dem 08. September 2022 über ihre Verfahrensbeauftragten ein privates psychiatrisches Gutachten des Arztes C. M., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie vor. In diesem Gutachten wird festgestellt, dass die Antragstellerin weder an wahnhaften Störungen noch an suizidalen Gedanken leide. Mit Beschluss vom 11.10.2022 wurde im vorliegenden Verfahren Frau Rechtsanwältin B. zum Verfahrensbeistand des Kindes H. M. bestellt.
8
Mit Schriftsatz vom 07.02.2023 änderte die Antragstellerin im vorliegenden Verfahren ihren Antrag dahingehend ab, dass nunmehr nur noch die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts zur alleinigen Ausübung begehrt werde. Die anderen Bestandteile der elterlichen Sorge könnten nach aktuellem Stand der Dinge gemeinsam ausgeübt werden.
9
Weiter beantragte die Antragstellerin, den Sachverständigen Dr. S. von der Verpflichtung zur Erstellung eines schriftlichen Gutachtens in der Hauptsache zu entbinden und einen neuen Sachverständigen zu bestimmen. Am 20.02.2023 erhob die Antragstellerin im hiesigen Verfahren Beschleunigungsrüge, welche mit Beschluss vom 05.04.2023 seitens des Amtsgerichts zurückgewiesen wurde.
10
Da ein schriftliches Gutachten in der vorliegenden Angelegenheit seitens des Sachverständigen Dr. S. am 20.02.2023 noch nicht vorlag, setzte das Amtsgericht dem Sachverständigen mit Beschluss von diesem Tag unter Androhung eines Ordnungsgeldes eine Nachfrist zur Vorlage des angeforderten Gutachtens bis 03.04.2023.
11
Unter dem 16.03.2023 beantragte die Antragstellerin, den Sachverständigen dazu zu verpflichten, alle Akten und für die Begutachtung beigezogenen Unterlagen und Untersuchungsergebnisse unverzüglich an das Gericht herauszugeben. Diesen Antrag wies das Amtsgericht mit Beschluss vom 06.04.2023 zurück. Eine dagegen eingelegte sofortige Beschwerde beim Oberlandesgericht blieb erfolglos (7 WF 383/23).
12
Mit Beschluss vom 06.04.2023 setzte das Amtsgericht dem Sachverständigen Dr. S… unter Androhung eines Ordnungsgeldes eine weitere Nachfrist zur Erstattung des schriftlichen Gutachtens bis zum 10.05.2023.
13
Mit Schriftsatz vom 05.04.2023, der am selben Tag beim Amtsgericht eingegangen ist, beantragte die Antragstellerin über ihre Verfahrensbevollmächtigte, den mit Beschluss vom 02.02.2022 beauftragten Sachverständigen Dr. S. wegen der Besorgnis der Befangenheit nach § 406 ZPO i.V. m. § 42 ZPO abzulehnen. Der Sachverständige habe in seinem mündlichen Gutachten am 24.06.2022 das Gericht im anderweitigen Verfahren 117 F 1033/22 wissentlich falsch über den Gesundheitszustand der Antragstellerin unterrichtet. Dieses dort mündlich erstattete Gutachten stehe im Zusammenhang mit dem in hiesigem Verfahren zu erstattenden schriftlichen Gutachten. Der Antrag auf Besorgnis der Befangenheit sei vorliegend im Sinne von § 406 Abs. 2 S. 2 ZPO auch nicht verspätet. Erst am 27.03.2023 seien der Antragstellerseite die dem Gericht am 24.06.2022 übergebenen Auswertungsbögen zu den Test SCL-90-S und EBSK zugegangen. Die Antragstellerseite sei bis dahin nicht darüber informiert gewesen, dass sich diese Auswertungsbögen bei der Akte befunden haben. Die Auswertungsbögen habe die Antragstellerin über ihre Verfahrensbevollmächtigte durch eine Fachperson prüfen lassen. Das Ergebnis dieser Auswertung sei der Bevollmächtigten erst am 30.03.2023 gegen 17.15 Uhr zugegangen. Die nunmehr übersandten Auswertungsbögen würden belegen, dass der Sachverständige in dem Verfahren 117 F 1033/22 mutmaßlich vorsätzlich die Unwahrheit über die richtige Interpretation der Testergebnisse dem Gericht mitgeteilt habe. In seiner mündlichen Gutachtenerstattung vom 24.06.2022 behaupte der Sachverständige, er habe bei der Mutter eine Testung durchgeführt und es habe sich ein „sehr hoher Wert für Depressivität und paranoides Erleben“ gezeigt. Im Kontext seiner Ausführungen habe der damit seine Feststellungen, die er bereits im Absatz vorher getroffen habe, bei der Antragstellerin läge ein „wahnhaftes Erleben“ und ein „Wahngebäude“ vor, untermauert. Die seitens der Antragstellerin in den erwähnten Test erreichten Werte in den Subskalen „Depressivität“ und „paranoides Denken“ lägen bei 61. Nach dem von der Testautorin verfassten Handbuch zur Auswertung des Testes gälten aber Werte zwischen 60 und 64 lediglich als „leicht erhöht“, solche zwischen 65 und 69 als deutlich erhöht und Werte zwischen 70 und 74 als sehr stark erhöht. Einen solchen Wert habe die Antragstellerin aber eben nicht erzielt. Der Sachverständige habe gewusst, dass die von ihm dem Gericht mitgeteilten Ergebnisse keine besorgniserregenden Werte darstellten und habe dennoch wider besseres Wissen das Gericht in dem Glauben gelassen, es bestünde Gefahr im Verzug. Auch habe der Sachverständige das Gericht nicht darüber aufgeklärt, dass der SCL-90-S Test niemals aufgrund der isolierten Heranziehung von Ergebnissen aus den Subskalen interpretiert werden dürfe, sondern die Testautoren eine fünfstufige Gesamtinterpretation vorgesehen hätten, die der Sachverständige so jedenfalls nicht dargestellt habe. Außerdem habe der Sachverständige nicht über die äußerst begrenzte Aussagefähigkeit der SCL-90-S-Testung aufgeklärt, die lediglich ein Screening der körperlichen und psychischen Merkmale der letzten sieben Tage darstelle. Der Sachverständige habe inzwischen am 25.11.2022 im Verfahren 117 F 1033/22 ein zweites mündliches Gutachten erstattet und dort lediglich einen begleiteten Umgang mit der Antragstellerin empfohlen. Damit zeige er, dass er die Mutter nach wie vor als wahnhaft und damit gefährlich etikettiere. Es sei seitens des Sachverständigen nicht mehr zu erwarten, dass dieser im vorliegenden Hauptsacheverfahren ein ergebnisoffenes Gutachten erstellen werde. Auf die ausführlichen Ausführungen im Schriftsatz vom 05.04.2023 wird verwiesen.
14
Die Verfahrensbeiständin erklärte in ihrer Stellungnahme vom 03.05.2023, sie sehe keine Anhaltspunkte für eine Befangenheit des Sachverständigen. Die Antragsgegnervertreterin beantragte in ihrem Schriftsatz vom 04.05.2023, das Befangenheitsgesuch der Mutter gegen den Sachverständigen abzuweisen. Das Befangenheitsgesuch sei nicht unverzüglich gestellt worden und die Kritikpunkte bezögen sich ausnahmslos auf die inhaltliche Gutachtertätigkeit.
15
Das Amtsgericht wies den Antrag der Antragstellerin, den Sachverständigen Dr. S… wegen Befangenheit abzulehnen, mit Beschluss vom 07.07.2023 zurück. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung begründe der Vorwurf fehlerhafter Gutachtenerstellung infolge mangelnder Sorgfalt, unzureichender Sachkunde oder sonstiger Unzulänglichkeiten im Allgemeinen nicht die Besorgnis der Befangenheit, weil diese Rüge lediglich die Qualität des Gutachtens und nicht die Unparteilichkeit des Sachverständigen betreffe. Eine vorsätzliche Täuschung des Gerichts durch den Sachverständigen zum Nachteil der Antragstellerin sei nicht ersichtlich. Hierbei sei insbesondere zu berücksichtigen, dass bislang lediglich ein mündliches Sachverständigengutachten im Verfahren 117 F 1033/22 vorliege. Ungenauigkeiten in der Formulierung des Sachverständigen sowie die Ausführlichkeit der Interpretation der Ergebnisse der Exploration seien aus Sicht eines objektiven Betrachters auf eine mangelnde Sorgfalt bezüglich der Ausdrucksweise des Sachverständigen bei der mündlichen Gutachtenerstattung zurückzuführen.
16
Gegen diesen ihrer Verfahrensbevollmächtigten am 11.07.2023 zugestellten Beschluss legte die Antragstellerin über ihre Verfahrensbevollmächtigte am 21.07.2023 Beschwerde ein. Darin wird angeregt, die Entscheidung, für die zunächst der originäre Einzelrichter zuständig wäre, dem Senat vorzulegen, da die Rechtssache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher und rechtlicher Art aufweise und grundsätzliche Bedeutung habe. Der Sachverständige habe sich nicht nur während des bisherigen Verfahrens so verhalten, dass hierin ein unsachliches Missfallen der Beschwerdeführerin zum Ausdruck komme, sondern er habe nachweislich mehrfach vorsätzlich die Unwahrheit über den grundsätzlichen Einsatzbereich und die Aussagekraft der verwendeten Tests gesagt. Es handele sich nicht um eine formulierungstechnische Unschärfe in einem mündlich erstatteten Gutachten. Vielmehr liege eine gezielte Täuschung des Gerichts durch den Gutachter vor.
17
Das Gericht legte die Akten zur Entscheidung dem Oberlandesgericht Nürnberg vor. Ein schriftliches Gutachten des Sachverständigen liegt in der Akte noch nicht vor.
18
Der Sachverständige nahm in dem Beschwerdeverfahren in seinem Schreiben vom 20.08.2023 Stellung und wies darin den Vorwurf der Befangenheit zurück.
II.
19
1. Die sofortige Beschwerde ist gem. §§ 30 Abs. 1 FamFG, 406 Abs. 2 ZPO statthaft und zulässig.
20
a) Soweit das Amtsgericht – Familiengericht – nach Einlegung der Beschwerde keine ausdrückliche Nichtabhilfeentscheidung getroffen, sondern nur verfügt hat, die Akten dem OLG zur Entscheidung vorzulegen, steht dies einer Entscheidung des Beschwerdegerichts nicht entgegen. Da eine ordnungsgemäße Abhilfeentscheidung keine Verfahrensvoraussetzung für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens ist, kann das Beschwerdegericht davon absehen, die Sache an das Amtsgericht zurückzugeben, sondern selbst entscheiden (vgl. Zöller/ Heßler, ZPO, 34. Aufl., § 572, Rn. 4; OLG München Beschluss vom 10.2.2016 – 34 Wx 425/15, BeckRS 2016, 3389 Rn. 5, beck-online).
21
b) Der Antrag auf Ablehnung der Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit ist auch nicht als unzulässig – weil verspätet – zurückzuweisen. Die Antragstellerin hat dargelegt, dass sie die Anlagen zum Protokoll vom 24.06.2022 – die seitens des Sachverständigen übergebenen Auswertungsbögen – erstmals am 27.03.2023 erhalten hat. Da sich die Besorgnis der Befangenheit der Antragstellerin auf die im mündlichen Gutachten dargestellten Testergebnisse stützt, war der Antragstellerin ein fundierter Sachvortrag hierzu vorher nicht möglich. Da die Möglichkeit der selbständigen Auswertung der Testergebnisse durch die Antragstellerin für das Erkennen und die Bewertung der Ergebnisse durch den Sachverständigen erforderlich war, und die Antragstellerin binnen 14 Tagen nach Erhalt der Auswertungsbögen ihr Ablehnungsgesuch gestellt hat, ist die Frist des § 406 Abs. 2 S. 2 ZPO gewahrt.
22
c) Zuständig für die Entscheidung ist gem. § 30 Abs. 1 FamFG, § 406 Abs. 5 ZPO, § 568 S.1 ZPO der Einzelrichter. Die Voraussetzungen des § 568 S. 2 ZPO liegen nicht vor, da die Sache weder besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist noch grundsätzliche Bedeutung hat.
23
2. Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin ist in der Sache begründet.
24
Nach § 30 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 406 Abs. 1 ZPO, § 42 ZPO kann der Sachverständige wegen Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein objektiver Grund gegeben ist, auf Grund dessen eine vernünftige Partei befürchten kann, der Sachverständige sei nicht unparteiisch (vgl. MüKoZPO/Zimmermann, 6. Aufl. 2020, ZPO § 406 Rn. 4). Diese Voraussetzung ist hier gegeben.
25
Vorliegend begründet die Antragstellerin ihren Befangenheitsantrag nicht mit Mängeln in dem Gutachten zur Sache selbst. Ein solches Gutachten, welches als schriftliches Gutachten beauftragt wurde, liegt bis zum heutigen Zeitpunkt nicht vor. Vielmehr bezieht sich die Antragstellerin auf das Aussageverhalten des Sachverständigen in seinem mündlichen Gutachten vom 24.06.2022, das er im Verfahren der einstweiligen Anordnung AZ: 117 F 1033/22 abgegeben hat, und in der mündlichen Gutachtensergänzung vom 25.11.2022 im dortigen Verfahren.
26
Beginnend auf Seite 8, 5. Absatz des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 24.06.2022 schildert der Sachverständige seine Gespräche mit der Antragstellerin über deren Gedanken, vorwiegend zu dem Komplex ihres Vergiftungsverdachts. Er beschreibt ihre Schilderung als „von der Semantik her hoch pathologisch“. [Die Überzeugung, Opfer einer Vergiftung geworden zu sein], „ist bei ihr wirklich unkorrigierbar. Also es ist tatsächlich unkorrigierbar, weil immer wieder aus ihrer Sicht Befunde ganz deutlich darauf hinweisen würden, dass es ja wahrscheinlich eine Vergiftung gegeben hätte […]. Es war unkorrigierbar. Also deutlich eine Vorstellung, paranoider Natur, die nicht korrigierbar ist.“ […] „Also dies ist aus psychiatrischer Sicht ein Wahngebäude. Und nur alles, was das wahnhafte Erleben untermauern könnte, wird von ihr vorgetragen.“ […] Soweit der Sachverständige das Erleben der Antragstellerin des Vergiftungsverdachts darstellt, wird deutlich, dass er diese Schilderung der Antragstellerin als paranoide Vorstellung und wahnhaft einstuft. Diese Einschätzung, die auf der psychiatrischen Exploration des als Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters sowie als Facharzt für psychotherapeutische Medizin ausgebildeten Sachverständigen beruht, ist als eine fachliche Beurteilung der Antragstellerin zu sehen, wie sie von einem erfahrenen Sachverständigen getroffen werden kann und die auch als solche bereits einen Aussagewert für das Gericht hat. Ein Hinweis auf die Befangenheit des Sachverständigen, der die Antragstellerin aufgrund ihres Narrativs einem bestimmten psychischen Krankheitsspektrum zuordnet, ergibt sich daraus noch nicht.
27
Allerdings objektiviert der Sachverständige diese Einschätzung im nachfolgenden:
„Die Auswirkungen, die das hat, auf das Erleben und auf die Belastung der Kindsmutter habe ich versucht, mit mehreren Test zu verfizieren. Ich habe deswegen eine Eingangsdiagnostik gemacht mit der Symptomchecklist nach Derogatis SCL 90, die aufgrund von 90 Items über das gesamte Spektrum von Belastungssituationen messen können. Ich habe dann bei der Kindsmutter eine Testung durchgeführt und es zeigte sich ein sehr hoher Wert für Depressivität und paranoides Erleben.“ Aus dem Protokoll ergibt sich, dass an dieser Stelle der Sachverständige die SCL 90 S Skalenauswertung zur Akte übergibt. „Die beiden Skalen waren bei der Erstuntersuchung nach eigener Einschätzung überhöht. Wenn man eine Depression hat mit einem paranoiden Erleben, gibt es eine Unterform von Depressionen mit psychotischen Anteilen. Ich habe dann die Depressivitätsskala gemacht. Das ist eine etablierte Skala und da zeigte sich bei ihr aus dieser Skala mit paranoider Depressivität eine deutliche Erhöhung im Bereich der Depression.“
28
Für das Amtsgericht und auch für denjenigen, der das mündliche Sachverständigengutachten aufgrund des Protokolls nachvollzieht, ergibt sich damit der Eindruck, die seitens des Sachverständigen durchgeführte Testung, namentlich die in diesem Abschnitt einzig genannte Testung nach Derogatis SCL- 90-S, untermauere eindeutig die Diagnose, die der Sachverständige zuvor aufgrund seiner Erfahrung gestellt hat. Der Sachverständige berichtet von „einem sehr hohen Wert für Depressivität und paranoides Erleben“, bzw. über „eine deutliche Erhöhung im Bereich der Depression“. Wie die Antragstellerin allerdings in ihrem Befangenheitsantrag nach Auswertung der durch den Sachverständigen vorgelegten Skalenauswertung nachvollziehbar und unzweideutig darlegt, hat die Antragstellerin diese Werte jedenfalls in der SCL-90-S Testung nicht erzielt. Die seitens der Antragstellerin in diesen Kategorien erzielten Werte waren im unteren Bereich der Kategorie „leicht erhöht“. Gerade in einem mündlichen Gutachten ist das Gericht jedoch darauf angewiesen, die durchgeführten Testungen in ihrer Aussagekraft allgemein erörtert und die individuell erzielten Ergebnisse präzise und unverfälscht referiert zu bekommen. Zwar hat der Sachverständige die Skalenauswertung zu Protokoll gegeben. Ohne die sachverständige Sachkunde oder ein umfangreiches Manual bleibt diese jedoch ohne Aussage. Folglich durfte sich das Gericht darauf verlassen, dass die Antragstellerin nicht nur nach der Einschätzung des Sachverständigen sondern auch nach korrekter psychologischer Testung deutliche Auffälligkeiten in den Bereichen „Depression“ und „paranoides Denken“ hat.
29
Jede objektive und vernünftige Beteiligte an dem Verfahren würde sich von der verzerrten und unwahren Testwiedergabe des Sachverständigen in seinem mündlichen Gutachten vom 24.06.2022 unfachmännisch und voreingenommen behandelt fühlen. Gerade das Objekt sachverständiger psychologischer oder psychiatrischer Begutachtung ist auf eine streng fachmännische, einwandfreie Vorgehensweise bei der Testung angewiesen. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der erfolgten mündlichen Begutachtung, da eine Objektivierbarkeit der referierten Ergebnisse für das Gericht und die Beteiligten schwerer ist. Daher kann das Aussageverhalten des Sachverständigen nicht als formulierungstechnische Unschärfe, wie sie in einem mündlichen Gutachten vorkommen kann, abgetan werden. Im vorliegenden Fall ist – möglicherweise auch weil der Sachverständige sich fehlerhaft auf ein nicht vorliegendes Testergebnis gestützt hat – unmittelbar im Anschluss an die Sitzung vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht und das Recht zur Gesundheitsfürsorge auf den Antragsgegner übertragen worden. Seither wohnt das Kind beim Antragsgegner. Das Beschwerdegericht kann nachvollziehen, dass sich für die Antragstellerin der Schluss ergibt, dass ein Sachverständiger, der im Hinblick auf ihre Diagnose bereits in einem mündlichen Gutachten nachgewiesenermaßen zu ihrem Nachteil unsauber gearbeitet hat, ihr nicht mehr ergebnisoffen gegenübertritt. Dies gilt umso mehr, als der Sachverständige auch in seiner mündlichen Gutachtensergänzung vom 25.11.2022 deutlich gemacht hat, dass er an seiner Einschätzung der Antragstellerin nichts geändert hat. Das Verhalten des Sachverständigen im Parallelverfahren steht in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahren, in dem das schriftliche Gutachten des Sachverständigen lange überfällig ist, und ist daher geeignet, das Misstrauen der Antragstellerin im hiesigen Verfahren zu begründen.
30
In seiner Stellungnahme vom 20.08.2023 konnte der Sachverständige diese Befürchtungen auch nicht entkräften. Weder gab er konkret an, wie und ggf. in welcher Testung er auf die referierten „sehr hohen Werte“ gestoßen ist, noch stellte er die seitens der Beschwerdeführerin vorgenommene Testauswertung in Abrede. Ob und inwieweit der Sachverständige tatsächlich die Antragsgegnerin im vorliegenden Verfahren nicht neutral und unbefangen begutachten würde, ist für die Beurteilung der Ablehnung ebenso irrelevant wie die Frage, ob der Sachverständige das Gericht vorsätzlich getäuscht hat. Entscheidend ist die aus Sicht der Antragsgegnerin bei vernünftiger Betrachtung begründete Befürchtung, es könnte dem Sachverständigen an der gebotenen Neutralität mangeln.
31
Vorliegend greift auch nicht das Argument der Gegenseite, inhaltliche Fehler in Gutachten begründeten keinen Ablehnungsgrund, sondern seien durch das Gericht in der Sache zu würdigen. Da in der verfahrensgegenständlichen Sache der elterlichen Sorge bislang das in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten noch nicht existiert, handelt es sich bei den Beanstandungen der Antragstellerin nicht um inhaltliche Kritik an einem Gutachten, sondern um die Kenntlichmachung von mindestens fahrlässigem Aussageverhalten des Sachverständigen in einem Parallelverfahren, das sich einseitig zu Lasten der Antragstellerin ausgewirkt hat und aus dem diese die begründete Befürchtung herleitet, der Sachverständige würde ihr auch im vorliegenden Verfahren nicht unvoreingenommen gegenüber treten.
III.
32
Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, weil die entstandenen Kosten solche des Verfahrens sind (vgl. Zöller/ Herget, ZPO, 34. Aufl., § 91, Rn. 13.82).
33
Ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ist nicht statthaft.