Inhalt

LG München I, Endurteil v. 04.08.2023 – 21 O 6235/23
Titel:

Unterlassungsanspruch wegen der Beeinträchtigung eines orphan drugs-Marktexklusivitätsrechts 

Normenketten:
VO (EG) Nr. 141/2000 Art. 8
BGB § 823 Abs. 1, § 1004 Abs. 1, Abs. 2
Rom II-VO Art. 4 Abs. 1, Art. 8 Abs. 2
Leitsätze:
1. Das orphan drugs-Marktexklusivitätsrecht der Verordnung 141/2000/EG ist ein absolutes, subjektives Recht und damit ein „sonstiges Recht“ im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB. Eine Beeinträchtigung dieses Marktexklusivitätsrechts kann einen zivilrechtlich einklagbaren Unterlassungsanspruch nach § 1004 BGB begründen.
2. Inhalt dieses vom Verordnungsgeber gewährten Marktexklusivitätsrechts ist es jedenfalls auch, gegenüber Wettbewerbern Schutz vor Beeinträchtigungen oder Verletzungen der gewährten orphan drugs-Marktexklusivität zu gewähren.
3. Erwägungsgrund 8 der Verordnung 141/2000 zeigt, dass der Verordnungsgeber mit dem Marktexklusivitätsrecht eine über die bloße Zulassungssituation hinausgehende Rechtsposition schaffen wollte. Hiernach ist das Marktexklusivitätsrecht maßgeblicher Anreiz für Investitionen im Bereich der orphan drugs. Dies kann nur gelingen, wenn (über die regulatorische Zulassungssituation hinaus) dem Inhaber des Rechts die Möglichkeit gegeben wird, individuell gegen Umgehungen seines Rechts vorzugehen. Eine solche Umgehung kann in der die Marktexklusivität beeinträchtigenden Formulierung von Informationsmaterialien liegen.
4. Das Marktexklusivitätsrecht besitzt den für ein absolutes Recht erforderlichen Zuweisungs- und Ausschlussgehalt. Das Marktexklusivitätsrecht weist insoweit keine Besonderheiten gegenüber den Rechten des geistigen Eigentums oder urheberrechtlichen Leistungsschutzrechten auf, bei denen ebenfalls anerkannt ist, dass sie neben einem negativen Verbietungsrecht auch ein positives Benutzungsrecht gewähren.
5. Werden durch den Inhalt versendeter Schreiben bei den angesprochenen Verkehrskreisen Fehlvorstellungen und unzutreffende Erwartungen hervorgerufen, die für die Beeinträchtigung des Marktexklusivitätsrechts eine Erstbegehungsgefahr begründen, reicht grundsätzlich nicht die bloße Ankündigung, Schreiben mit gegenläufigem Inhalt zu versenden, um diese Erstbegehungsgefahr wieder auszuräumen. Für einen hinreichenden actus contrarius müssen diese Schreiben bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung auch tatsächlich versandt werden. Der Inhalt muss so gefasst sein, dass sie die durch die ersten Schreiben hervorgerufenen Fehlvorstellungen und unzutreffenden Erwartungen bei den angesprochenen Verkehrskreisen wieder korrigieren.
Schlagwort:
sonstiges Recht
Fundstellen:
PharmR 2023, 652
LSK 2023, 23966
GRUR-RS 2023, 23966
GRUR 2023, 1439

Tenor

I. Die einstweilige Verfügung vom 22.05.2023 wird wie folgt neu gefasst:
Den Verfügungsbeklagten wird im Weg der einstweiligen Verfügung unter Androhung eines Ordnungsgeldes bis zu zweihundertfünfzigtausend Euro oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten – Ordnungshaft auch für den Fall, dass das Ordnungsgeld nicht beigetrieben werden kann –, im Fall wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, zu vollziehen an den gesetzlichen Vertretern der Verfügungsbeklagten wegen jeder Zuwiderhandlung, untersagt,
in der Bundesrepublik Deutschland Arzneimittel enthaltend Eculizumab anzubieten, in den Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen, oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen;
1. ohne, dass die folgenden Maßnahmen umgesetzt wurden:
1.1 Lieferungen von Arzneimitteln enthaltend Eculizumab (insbesondere …) dürfen nur erfolgen, sofern
a) vertraglich vereinbart ist, dass sich das die Lieferung erhaltende Krankenhaus dazu verpflichtet, diese Arzneimittel nicht in den Indikationen
- atypisches Hämolytisch-Urämisches Syndrom (aHUS),
- refraktäre generalisierte Myasthenia Gravis (gMG) und
- neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD)
- anzuwenden und/oder abzugeben, sofern dies nicht aufgrund medizinischer Gründe notwendig ist, wobei wirksame Maßnahmen wie die Einstellung der Belieferung mit den betroffenen Arzneimitteln zu ergreifen sind, sollte der/die Vertragspartner dieser Verpflichtung nicht nachkommen,
b) durch geeignete Maßnahmen überprüft und nachgehalten wird, dass der/die Vertragspartner die Verpflichtung gem. lit. a) beachten,
wie insbesondere dem Nachweis, dass die gelieferten Arzneimittel tatsächlich nicht in den in lit. a) aufgeführten Indikationen verwendet wurden,
wobei diese Verpflichtungen im Hinblick auf die jeweiligen genannten Indikationen nur so lange gelten, wie das jeweilige sie schützende regulatorische Exklusivitätsrecht in Kraft ist;
1.2 Bereitstellung von Hinweisen auf der Website und bei dem Abruf und/oder der Abgabe von Informationsmaterialien für den deutschen Markt der Verfügungsbeklagten betreffend …, einschließlich ihres „Leitfadens Verordner“, ihrer „Patientenkarte“ und ihres „Impfzertifikats“ für …, dass für die Verwendung von Eculizumab in den unter Ziffer 1.1 genannten Indikationen regulatorische Marktexklusivitätsrechte für Arzneimittel zur Behandlung von seltenen Leiden bestehen, und zwar betreffend die Verwendung für die Behandlung
- des atypisch Hämolytisch-Urämischen Syndroms (aHUS) bis 29. November 2023,
- der refraktären generalisierten Myasthenia Gravis (gMG) bis 17. August 2027 und
- der neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) bis 28. August 2029,
und dass deshalb … nur für die Indikation paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) zugelassen ist und für die genannten Indikationen nicht verwendet werden darf, es sei denn, dies ist aufgrund medizinischer Gründe notwendig,
wobei diese Verpflichtungen im Hinblick auf die jeweiligen genannten Indikationen nur so lange gelten, wie das jeweilige sie schützende regulatorische Exklusivitätsrecht in Kraft ist;
1.3. Informationsschreiben werden an Krankenhäuser zur Weiterleitung an ihre Ärzte in den Bereichen Hämatologie (inkl. Hämatoonkologie), Nephrologie, Neurologie, Notfallmedizin und Pädiatrie versendet, in denen
a) darauf hingewiesen wird, dass für die Verwendung von Eculizumab in den unter Ziffer 1.1 genannten Indikationen regulatorische Marktexklusivitätsrechte für Arzneimittel zur Behandlung von seltenen Leiden bestehen, und zwar betreffend die Verwendung für die Behandlung
- des atypisch Hämolytisch-Urämischen Syndroms (aHUS) bis 29. November 2023,
- der refraktären generalisierten Myasthenia Gravis (gMG) bis 17. August 2027 und
- der neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) bis 28. August 2029,
und dass deshalb … nur für die Indikation paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) zugelassen ist;
und
b) die genannten Ärzte in dem Schreiben dazu aufgefordert werden, dass im Licht dieser Exklusivitätsrechte und der begrenzten Zulassung … bei der Behandlung dieser Erkrankungen nicht verwendet bzw. verschrieben werden darf, es sei denn, dies ist aufgrund medizinischer Gründe notwendig, und mitteilen müssen, dass ein Austausch seitens des Apothekers nicht erfolgen darf,
wobei diese Verpflichtungen im Hinblick auf die jeweiligen genannten Indikationen nur so lange gelten, wie das jeweilige sie schützende regulatorische Exklusivitätsrecht in Kraft ist,
1.4. Informationsschreiben werden an Krankenhäuser zur Weiterleitung an ihre Krankenhaus-Apotheker versendet, in denen
darauf hingewiesen wird, dass für die Verwendung von Eculizumab in den unter Ziffer 1.1 genannten Indikationen regulatorische Marktexklusivitätsrechte für Arzneimittel zur Behandlung von seltenen Leiden bestehen, und zwar betreffend die Verwendung für die Behandlung
- der refraktären generalisierten Myasthenia Gravis (gMG) bis 17. August 2027 und
- der neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) bis 28. August 2029,
und dass deshalb … nur für die Indikation paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) zugelassen ist und für die genannten Indikationen nicht verwendet oder abgegeben werden darf, es sei denn, dies ist aufgrund medizinischer Gründe notwendig,
wobei diese Verpflichtungen im Hinblick auf die jeweiligen genannten Indikationen nur so lange gelten, wie das jeweilige sie schützende regulatorische Exklusivitätsrecht in Kraft ist,
1.5 Schreiben werden an alle gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) in Deutschland gesendet, in denen
a) darauf hingewiesen wird, dass für die Verwendung von Eculizumab in den unter Ziffer 1.1 genannten Indikationen regulatorische Marktexklusivitätsrechte für Arzneimittel zur Behandlung von seltenen Leiden bestehen, und zwar betreffend die Verwendung für die Behandlung
- des atypisch Hämolytisch-Urämischen Syndroms (aHUS) bis 29. November 2023,
- der refraktären generalisierten Myasthenia Gravis (gMG) bis 17. August 2027 und
- der neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) bis 28. August 2029,
und dass deshalb … nur für die Indikation paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) zugelassen ist,
b) dass Ärzte im Lichte dieser Exklusivitätsrechte und der begrenzten Zulassung von … bei der Behandlung dieser Erkrankungen … nicht verwenden oder verschreiben dürfen, es sei denn, dies ist aufgrund medizinischer Gründe notwendig,
c) dass die Krankenkassen deswegen gebeten werden zu prüfen, dass die Nichtverwendung von … nicht zwingend unwirtschaftlich ist,
d) dass keine Vereinbarungen (beispielsweise nach § 129a SGB V) ohne Rücksicht auf den Indikationsschutz getroffen werden sollten, die zu einer indikationsübergreifenden Verwendung von … in den Indikationen aHUS, gMG und NMOSD anregen,
wobei diese Verpflichtungen im Hinblick auf die jeweiligen genannten Indikationen nur so lange gelten, wie das jeweilige, sie schützende regulatorische Exklusivitätsrecht in Kraft ist;
2. und ohne, dass genaue, hinsichtlich des Namens des Patienten anonymisierte, schriftliche Aufzeichnungen über alle Verkäufe der Arzneimittel enthaltend Eculizumab auf dem deutschen Markt mit den entsprechenden Nachweisen für deren indikationsspezifische Verabreichung und Abgabe geführt werden.
II. Im Übrigen wird die einstweilige Verfügung vom 22.05.2023 aufgehoben und der auf ihren Erlass gerichtete Antrag der Verfügungsklägerin zurückgewiesen.
III. Der Antrag der Verfügungsbeklagten vom 31.05.2023 auf Vorlage sämtlicher Verlautbarungen der Verfügungsklägerin entsprechend Anlage AG28 wird abgelehnt.
IV. Der Antrag der Verfügungsbeklagten, der Verfügungsklägerin die Leistung einer Prozesskostensicherheit aufzugeben, wird zurückgewiesen.
V. Die Verfügungsbeklagten haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
VI. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Verfügungsklägerin macht gegen die Verfügungsbeklagten Ansprüche wegen der Verletzung ihres Marktexklusivitätsrechts aus der Verordnung 141/2000/EG über Arzneimittel für seltene Leiden (im Folgenden auch: Orphan-Drug-VO) geltend.
2
Die Parteien sind Wettbewerber. Die Verfügungsklägerin vertreibt in der Bundesrepublik Deutschland das Produkt …, das für vier seltene Leiden (Krankheiten)
zugelassen ist:
-
die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (nachfolgende „PNH“),
-
das atypische Hämolytisch-Urämische Syndrom (nachfolgend „aHUS“),
-
die refraktäre generalisierte Myasthenia Gravis (nachfolgend „gMG“) und
-
Neuromyelitis-Optica-Spektrum-Erkrankungen (nachfolgend „NMOSD“).
3
Die französische Schwestergesellschaft der Verfügungsklägerin, … hält neben der Zulassung von … folgende indikationsbezogene Marktexklusivitätsrechte für seltene Leiden im Sinne der Verordnung 141/2000:
-
für aHUS unter der Nummer EU/3/09/653 durch Entscheidung der Kommission K(2009)6029 vom 24. Juli 2009 mit Ablaufdatum am 29. November 2023;
-
für gMG unter der Nummer EU/3/14/1304 durch Entscheidung der Kommission K(2014)5529 vom 29. Juli 2014) mit Ablaufdatum am 17. August 2027;
-
für NMOSD unter der Nummer EU/3/13/1185 durch Entscheidung der Kommission K(2013)5284 vom 5. August 2013 mit Ablaufdatum am 28. August 2029.
4
Für die Erkrankung PNH bestand zugunsten der Unternehmensgruppe der Verfügungsklägerin ein Marktexklusivitätsrecht, das bereits abgelaufen ist.
5
Für die Unternehmensgruppe der Verfügungsbeklagten wurde am 15.05.2023 das Produkt … (im Folgenden: angegriffene Ausführungsform) in der Lauer-Taxe gelistet. Die angegriffene Ausführungsform ist ein sog. Biosimilar. Anders als ein Generikum ist dies keine exakte Kopie des Referenzprodukts. Das Referenzprodukt … und die angegriffene Ausführungsform verwenden beide als Wirkstoff den Antikörper Eculizumab.
6
Die Verfügungsbeklagte zu 1 ist seit 19. April 2023 Inhaberin der europäischen Marktzulassung der angegriffenen Ausführungsform (Anlage FBD11). Die Zulassung beschränkt sich auf die Verwendung zur Behandlung von PNH (Anlagen FBD8, FBD5). Die Verfügungsbeklagte zu 1 ist als pharmazeutische Unternehmerin und Herstellerin für die angegriffene Ausführungsform tätig, soweit diese für den deutschen Markt bestimmt ist (Anlage FBD5). Die Verfügungsbeklagte zu 2 ist die deutsche Vertriebsgesellschaft. Sie vertreibt die angegriffene Ausführungsform gemäß Lauer-Taxe im Inland (Anlage FBD6) und bewirbt sie auf ihrer Website (Anlage FBD7).
7
Die angegriffene Ausführungsform wies in der Lauer-Taxe anfänglich denselben Preis aus wie das Produkt … der Verfügungsklägerin, wurde zum 01.06.2023 indes mit rund 5 % unter dem Listenpreis des Produkts … gelistet.
8
Die Unternehmensgruppe der Verfügungsklägerin machte die Verfügungsbeklagten vorgerichtlich mehrfach auf eine mögliche Rechtsverletzung durch einen indikationsübergreifenden Einsatz des Medikaments aufmerksam.
9
Mit Schreiben vom 28.04.2023 teilte die Unternehmensgruppe der Verfügungsbeklagten gegenüber der Gruppe der Verfügungsklägerin mit, sie werde die angegriffene Ausführungsform in der Bundesrepublik Deutschland auf den Markt bringen (Anlage FBD13, Anlagenkonvolut AG8d). Dem Schreiben waren Unterlagen für den deutschen Markt beigefügt (Anlagenkonvolut FBD14). In dem Schreiben unterstrich die Unternehmensgruppe der Verfügungsbeklagten (dort S. 3), sie habe in einem Schreiben an verschreibende Ärzte den nachfolgenden Hinweis übersandt und werde ihn auch an Apotheker versenden:
10
Das gesamte Schreiben war dem Schriftsatz vom 28.04.2023 beigefügt (Anlage AG8d, letzte Seite):
11
Folgenden Hinweis versandte die Verfügungsbeklagte zu 2 an Apotheker (Anlage AG8e, Hervorhebung der Verfügungsbeklagten, Schutzschrift S. 24, 57):
12
Die „Verwendungsempfehlungen“ oder „Empfehlungsschreiben“ wurden nicht von der Verfügungsbeklagten zu 1) versandt.
13
Im weiteren Verlauf tauschten die Parteien vorgerichtlich mehrere Schreiben aus.
14
Am 11.05.2023 erfuhr die Verfügungsklägerin, dass eine Listung in der Lauer-Taxe zum 15.05.2023 erfolgen solle (Anlagen FBD 19, 20).
15
In Spanien und in der Bundesrepublik Deutschland richtete die Verfügungsklägerseite sich mit Schreiben an nicht näher bekannte Personenkreise, um auf die bestehenden Marktexklusivitätsrechte hinzuweisen (Anlagen AG17, 17a, AG28).
16
Die Verfügungsbeklagten gaben am 07.07.2023 schriftsätzlich folgende Erklärung ab, und versicherten in der mündlichen Verhandlung am 07.07.2023 anwaltlich die Einreichung besagten Schriftsatzes bei Gericht per beA:
17
… Die Verfügungsklägerin bringt vor, die … habe sie ermächtigt, die sich aus den Marktexklusivitätsrechten ergebenden Ansprüche gegen die Antragsgegnerinnen/Verfügungsbeklagten für die … im Wege der gewillkürten Prozessstandschaft geltend zu machen (Anlage FBD2, Anlage FBD2a).
18
Es bestehe mit dem Markteintritt, jedenfalls mit der Listung in der Lauer-Taxe, der angegriffenen Ausführungsform die Gefahr eines cross label-Einsatzes in den Indikationen aHUS, gMG und NMOSD (Anlage FBD20). Gesetzliche Krankenkassen würden Kostenzusagen im Falle von cross label-Einsätzen tätigen und Vereinbarungen nach § 129 a SGB V und über Zusatzentgelte treffen, wie die eidesstattliche Versicherung von Herrn … (Anlage FBD26) belege. Gesetzliche Krankenkassen hätten bereits mitgeteilt, mit einer indikationsübergreifenden Verwendung der angegriffenen Ausführungsform einverstanden zu sein. Es könnte um Abschläge von 20 % und mehr gehen.
19
Rechtlich ist sie der Auffassung, dass das ihr gewährte Marktexklusivitätsrecht gemäß Art. 8 der Verordnung 141/2000 ein sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB und ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB darstelle. Es werde durch einen cross label-Einsatz beeinträchtigt. Die Verfügungsbeklagten müssten aktiv geeignete Maßnahmen gegen die cross label-Verwendung ergreifen.
20
Die Kammer hat die beantragte einstweilige Verfügung mit Beschluss vom 22.05.2023 ohne vorherige Anhörung der Verfügungsbeklagten überwiegend erlassen. Diese ist den Verfügungsbeklagten am 23.05.2023 zugestellt worden (Schriftsatz der Verfügungsklägerin vom 26.05.2023). Die Verfügungsbeklagten haben am 24.05.2023 Widerspruch eingelegt und ihn am 31.05.2023 begründet.
21
Die Verfügungsklägerin beantragt, die einstweilige Verfügung des Landgerichts München I vom 22.05.2023, Az. 21 O 6235/23, mit den Klarstellungen im Schriftsatz vom 07.07.2023 (zu Bl. 392 d.A.) aufrechtzuerhalten.
22
Die Verfügungsbeklagten beantragen, die einstweilige Verfügung des Landgerichts München I vom 22.05.2023 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 17.05.2023 zurückzuweisen.
23
Die Verfügungsbeklagten sind der Auffassung, die Marktexklusivitätsrechte würden keine eigenständigen absoluten Rechte gegenüber Wettbewerbern vermitteln, sondern nur Rechte im Verhältnis zu Arzneimittelbehörden bei der Erteilung von Zulassungen. Eine Erstbegehungsgefahr für eine Beeinträchtigung bestünde nicht; die angegriffene Ausführungsform werde ausschließlich zur Behandlung von PNH verwendet werden. Dies werde bereits durch die Empfehlung an die relevanten Fachkreise ausgeschlossen, … nicht indikationsübergreifend einzusetzen. Im Übrigen bestünden Schutzmechanismen, die eine indikationsübergreifende Verwendung ausschließen würden. Auch aus Rechtsgründen sei eine indikationsübergreifende Verwendung ausgeschlossen, weil kein cross label-Gebrauch, sondern allenfalls ein off label-use vorliegen könne, der anderen Regeln folge. Im Übrigen habe der europäische Gesetzgeber das Risiko eines off label-Gebrauchs nicht den Wettbewerbern von Rechteinhabern zugewiesen, sondern den Rechteinhabern selbst.
24
Die Verfügungsbeklagten sind zudem der Auffassung, der Verbotstenor der Beschlussverfügung lasse sich nicht umsetzen. Das sei der Grund, weswegen sie die angegriffene Ausführungsform komplett vom deutschen Markt genommen hätten.
25
Zugleich mit dem Widerspruch haben die Verfügungsbeklagten die vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem Beschluss vom 22.05.2023 sowie die Anordnung der Klageerhebung in der Hauptsache beantragt. Nach Anhörung der Verfügungsklägerin hat die Kammer den Antrag auf vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung mit Beschluss vom 16.06.2023 zurückgewiesen und der Verfügungsklägerin aufgegeben, binnen sieben Wochen nach Zustellung des Beschlusses Hauptsacheklage zu erheben. Diese Frist hat die Kammer nach Anhörung der Verfügungsbeklagten am 02.08.2023 antragsgemäß auf den 18.08.2023 verlängert.
26
Das Gericht nimmt zur Vervollständigung des Sachverhalts Bezug auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 07.07.2023 sowie auf die gerichtlichen Verfügungen und Beschlüsse.

Entscheidungsgründe

27
Die einstweilige Verfügung ist im Wesentlichen aufrechtzuerhalten und der Widerspruch zurückzuweisen. Der auf ihren Erlass gerichtete Antrag ist zulässig (unter A.) und überwiegend begründet (unter B). Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund sind gegeben.
A.
28
Der Antrag ist zulässig.
29
I. Das Landgericht München I ist zuständig.
30
Das Landgericht München I ist international und örtlich (Art. 7 Nr. 2 EuGVVO, §§ 937, 12, 17 ZPO) und sachlich (§§ 23, 71 GVG, § 143 PatG) zuständig. Die 21. Zivilkammer ist funktional zuständig, weil es sich bei dem geltend gemachten Anspruch um eine Patentstreitsache nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts München I handelt. Der Begriff ist ebenso wie bei § 143 Abs. 1 PatG weit auszulegen. Eine Patentstreitsache kann beispielsweise auch dann vorliegen, wenn ein Rechtsstreit lediglich eine nicht geschützte Erfindung betrifft oder mit einer solchen eng verknüpft ist (BeckOK PatR/ Kircher PatG § 143 Rn. 6 m.w.N.). Nach diesem weiten Verständnis ist eine Patentstreitsache gegeben.
31
Unabhängig davon hat sich die Verfügungsklägerin mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung hilfsweise auf Ansprüche aus dem nationalen deutschen Teil des europäischen Patents 2 894 165 berufen. Aufgrund dieses Hilfsantrags ist hier jedenfalls die Zuständigkeit der Patentstreitkammer eröffnet. Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes sind Abtrennungen nach § 145 ZPO wegen der Eilbedürftigkeit grundsätzlich nicht sachdienlich. Diesen Umstand hat das Gericht bei der Ausübung seines Ermessens nach § 145 ZPO zu berücksichtigen. Er führt grundsätzlich dazu, dass in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Abtrennungen in der Regel ausscheiden, es sei denn, sie sind zwingend geboten. Das ist hier aber nicht der Fall. Denn die befasste Kammer ist funktional auch Zivilkammer, weil ihr nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts München I ebenfalls die Geschäftsaufgabe allgemeine Zivilsachen zugewiesen ist.
32
II. Die Verfügungsklägerin ist prozessführungsbefugt.
33
1. Eine gewillkürte Prozessstandschaft ist zulässig, wenn der Prozessführende vom Rechtsinhaber zu dieser Art der Prozessführung ermächtigt worden ist und er ein eigenes schutzwürdiges Interesse an ihr hat. Ein schutzwürdiges Eigeninteresse besteht, wenn die Entscheidung Einfluss auf die eigene Rechtslage des Prozessführungsbefugten hat. Es kann durch ein wirtschaftliches Interesse begründet werden. (Einfache) Wettbewerbsverstöße sind nicht ausreichend (vgl. BGH NJW 2017, 486, Rn. 5 m.w.N.; BeckOK ZPO/Hübsch ZPO § 51 Rn. 50 m.w.N.).
34
2. Nach diesen Voraussetzungen liegt eine zulässige gewillkürte Prozessstandschaft vor.
35
Die Verfügungsklägerin ist nicht Inhaberin des geltend gemachten Marktexklusivitätsrechts, sondern die …. Die Verfügungsklägerin hat glaubhaft gemacht, dass die … sie zur gerichtlichen Geltendmachung des Marktexklusivitätsrechts ermächtigt hat (Anlage FBD2). Soweit die Verfügungsbeklagten mit Nichtwissen bestreiten, dass Frau … zur Unterzeichnung der Ermächtigung nach Anlage FBD2 im Namen der … berechtigt war und diese selbst unterzeichnet hat, ist das Gegenteil durch Anlage FBD34 glaubhaft gemacht. Durch die Bezugnahme auf Exhibit 1, ein „Authorization Agreement“, ist im Gesamtkontext deutlich, dass sich die eidesstattliche Versicherung in Anlage FBD34 auf das „Authorization Agreement“ in Anlage FBD2 bezieht. Soweit die Verfügungsbeklagten die Vertretungsmacht von Herrn … für die Verfügungsklägerin und dessen tatsächliche Unterzeichnung mit Nichtwissen bestreiten, ist der Vortrag der Verfügungsklägerin durch Anlage FBD35 glaubhaft gemacht.
36
Die Verfügungsklägerin hat ein schutzwürdiges Interesse an der Prozessstandschaft. Als Vertriebsgesellschaft des Produkts … hat sie ein wirtschaftliches und rechtliches Interesse an der Verhinderung etwaiger Beeinträchtigungen des Marktexklusivitätsrechts der …, da diese Auswirkungen auf den Vertrieb durch die Verfügungsklägerin haben können (zu Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 39).
37
III. Die Klage ist nicht wegen selektiven, kartellrechtswidrigen Vorgehens unzulässig. Die Verfügungsklägerin geht mittlerweile nicht mehr nur gegen die Verfügungsbeklagten vor (zu Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 47).
38
IV. Der Verfügungsklägerin ist entgegen dem Antrag der Verfügungsbeklagten aus der Schutzschrift (dort S. 4) keine Prozesskostensicherheit nach § 110 ZPO aufzuerlegen.
39
Die Regelungen über die Prozesskostensicherheit finden in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich keine Anwendung (BeckOK ZPO/Jaspersen ZPO § 110 Rn. 3 m.w.N.; LG München I, GRUR-RS 2020, 31319, Rn. 37 ff. m.w.N. – Herzklappenprotheseneinführsystem). Unabhängig davon liegen die Voraussetzungen des § 110 ZPO nicht vor. Die Verfügungsklägerin ist eine deutsche GmbH mit Sitz in München.
40
Zu Recht haben die Verfügungsbeklagten den Antrag daher in der mündlichen Verhandlung nicht gestellt. Vorsorglich hat die Kammer aber trotzdem über ihn entschieden.
B.
41
Der Antrag ist begründet. Die Verfügungsklägerin ist aktivlegitimiert (unter I.). Verfügungsanspruch (unter II.) und Verfügungsgrund (unter III.) bestehen.
42
I. Die Verfügungsklägerin hat ihre Aktivlegitimation, die die Verfügungsbeklagten bestreiten (Widerspruchsbegründung, S. 34 ff., S. 41), durch Vorlage der Anlagen FBD34 bis FBD37 glaubhaft gemacht.
43
Soweit die Verfügungsbeklagten mit Nichtwissen bestreiten, dass Frau zur Unterzeichnung der Ermächtigung nach Anlage FBD2 im Namen der berechtigt war und diese selbst unterzeichnet hat, ist das Vorbingen der Verfügungsklägerin durch Anlage FBD34 glaubhaft gemacht (s.o.). Mit Vorlage der Anlage FBD35 hat die Verfügungsklägerin die Vertretungsmacht von Herrn … und, dass er tatsächlich das Dokument unterzeichnet hat, glaubhaft gemacht.
44
II. Der Verfügungsklägerin steht der geltend gemachte Verfügungsanspruch aus § 1004 BGB (analog) i.V. mit § 823 Abs. 1 BGB i.V. mit einem Marktexklusivitätsrecht aus der Verordnung 141/2000, soweit tenoriert, zu. Sie hat die Voraussetzungen eines entsprechenden Unterlassungsanspruchs und insbesondere glaubhaft gemacht, dass im Falle des Vertriebs der angegriffenen Ausführungsform ohne die im Tenor ausgesprochenen Maßnahmen eine Beeinträchtigung des Marktexklusivitätsrechts der Verfügungsklägerin als sonstigem (absoluten) Recht im Sinne des § 1004 Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 1 BGB zu befürchten ist (unter 1). Die Verfügungsbeklagten sind mittelbare Handlungsstörer, so dass ihnen die Beeinträchtigung zuzurechnen ist (unter 2). Die Beeinträchtigung ist rechtswidrig (unter 3). Die Erstbegehungsgefahr haben die Verfügungsbeklagten nicht ausgeräumt (unter 4).
45
1. Die Verfügungsklägerin hat die Voraussetzungen einer Beeinträchtigung eines absoluten Rechts im Sinne des § 1004 BGB, § 823 Abs. 1 BGB glaubhaft gemacht. Das orphan drugs-Marktexklusivitätsrecht der Verordnung 141/2000/EG ist ein absolutes, subjektives Recht und damit ein „sonstiges Recht“ im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB. Eine Beeinträchtigung dieses Marktexklusivitätsrechts kann einen zivilrechtlich einklagbaren Unterlassungsanspruch nach § 1004 BGB begründen (unter b)). Anwendbar ist deutsches Sachrecht, Art. 8 Abs. 2 Rom II-VO, Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO. Das stellen die Parteien, die jeweils nur zum deutschen Sachrecht vortragen, zu Recht nicht in Frage.
46
a) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung beeinträchtigt, kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen, § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB. Stehen weitere Beeinträchtigungen zu befürchten, kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen, § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB. Es ist anerkannt, dass für andere absolute Rechte der Schutz des § 1004 BGB entsprechend gilt (vgl. Grüneberg/Herrler, 82. Auflage 2023, § 1004 BGB Rn. 4 m.w.N.). Als „sonstiges Recht“ im Sinne des § 1004 Abs. 1, § 823 Abs. 1 BGB ist eine Rechtsposition anzuerkennen, die als absolutes subjektives Recht qualifiziert werden kann.
47
Ein subjektives Recht ist eine Rechtsstellung, die einem Rechtssubjekt zur Durchsetzung seiner Interessen nach seinem Belieben eingeräumt ist. Wird dem einzelnen keine durchsetzbare Rechtsstellung verliehen, sondern ist er nur Begünstigter einer im Interesse anderer erlassenen Normen (etwa einer im öffentlich-rechtlichen Interesse erlassenen Norm), liegt kein subjektives Recht vor. Im Privatrecht werden subjektive Rechte unterteilt in absolut wirkende Rechte und relative, gegenüber bestimmten Personen bestehende Rechte (zum Ganzen Werner, in: Weber, Rechtswörterbuch, 30. Edition 2023, „subjektives Recht“).
48
Ziel der Schutzbereichsbestimmung mit Hilfe absoluter Rechte ist es, reine Vermögensschäden aus der allgemeinen Fahrlässigkeitshaftung auszuklammern. Daraus folgt, dass nicht jedes berechtigte Vermögensinteresse als sonstiges Recht Deliktsschutz genießen kann (MüKoBGB/Wagner BGB § 823 Rn. 301 m.w.N.). Die Qualifikation eines Rechts als absolutes Recht hängt einerseits von dem Kriterium der Zuordnungs- bzw. Nutzungsfunktion, andererseits von dem Kriterium der Ausschlussfunktion ab (MüKoBGB/Wagner BGB § 823 Rn. 303 m.w.N.). Das entscheidende Definitionsmerkmal absoluter Rechte ist, dass jedermann dazu verpflichtet ist, die Rechtsposition des Inhabers zu respektieren und sie nicht zu verletzen, während relative Rechte nur gegen einzelne Personen gerichtet sind (MüKoBGB/Wagner BGB § 823 Rn. 304 m.w.N.). Sofern und soweit keine gesetzlichen Vorgaben zu der Einordnung einer Norm als sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB bestehen, muss durch Auslegung der fraglichen Norm ermittelt werden, ob ihr eine Ausschlusswirkung gegenüber jedermann zukommt (MüKoBGB/Wagner BGB § 823 Rn. 304 m.w.N.).
49
b) Das Marktexklusivitätsrecht mit dem hier verstandenen Inhalt (unter aa) ist erstens ein subjektives, dem Inhaber zustehendes, zivilrechtlich einklagbares (unter bb) und zweitens ein ausschließliches, also grundsätzlich gegenüber jedermann bestehendes, absolutes Recht (unter cc).
50
aa) Der Verordnungsgeber gewährt Unternehmen, die ein Arzneimittel als orphan drug zur Behandlung seltener Leiden bereitstellen, unter bestimmten Voraussetzungen ein Marktexklusivitätsrecht.
51
In Art. 8 der Orphan-Drug-VO ist – unter der Überschrift „Marktexklusivitätsrecht“ – ein besonderer Ausfluss dieses Rechts normiert, der zulassungsrechtliche Bestimmungen betrifft. Hierauf ist die als Gegenleistung für das Bereitstellen des Medikaments offerierte Marktexklusivität und damit das Marktexklusivitätsrecht aber nicht beschränkt.
52
Inhalt dieses vom Verordnungsgeber gewährten Marktexklusivitätsrechts ist es jedenfalls auch, gegenüber Wettbewerbern Schutz vor Beeinträchtigungen oder Verletzungen der gewährten orphan drugs-Marktexklusivität zu gewähren.
53
Das Marktexklusivitätsrecht verbietet nicht eine Zulassung an Dritte in Bezug auf Indikationen, die nicht mehr durch das Marktexklusivitätsrecht geschützt sind. Es verbietet auch nicht eine off-label-Verschreibung als solche (zu Widerspruchsbegründung, S. 14). Es verbietet wegen des unionsrechtlichen effet utile aber eine Umgehung der Marktexklusivität durch Handlungen seitens Wettbewerber, die eine indikationsübergreifende Verwendung auslösen und dabei einen Eingriff in das Marktexklusivitätsrecht bewirken können. Ein so verstandenes Marktexklusivitätsrecht steht mit den Zielen der Verordnung 141/2000 im Einklang und ihnen nicht entgegen. Es hält insbesondere Wettbewerber nicht von einem Antrag einer Zulassung für nicht geschützte Indikationen ab, weil der Antrag wie auch der spätere Vertrieb von Medikamenten für nicht geschützte Indikationen das Marktexklusivitätsrecht nicht berühren. Lediglich Handlungen, die eine indikationsübergreifende Verschreibung im Hinblick auf geschützte Indikationen nahelegen, sind nicht zulässig (zu Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 8).
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bb) Dieses Marktexklusivitätsrecht ist ein subjektives Recht, das (auch) privatrechtlich durchgesetzt werden kann.
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(1) Das Marktexklusivitätsrecht vermittelt – für sich gesehen von den Verfügungsbeklagten nicht in Zweifel gezogen – eine klagbare Position, d. h. ein subjektives Recht. Der Inhaber des Marktexklusivitätsrechts kann jedenfalls gegen die Zulassungsbehörden gerichtlich vorgehen (vgl. EuG, T-452/14 – Laboratoires CTRS).
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(2) Das Marktexklusivitätsrecht besteht nicht nur im Verhältnis zu den Zulassungsbehörden, sondern auch im Verhältnis zu Dritten, insbesondere Wettbewerbern, und vermittelt daher ein subjektives Recht, das (auch) im Zivilrechtswege eingeklagt werden kann. Die VO 141/2000 bestimmt unter der Überschrift „Marktexklusivitätsrecht“ in Art. 8 Abs. 1 Folgendes:
Wurde nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 eine Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für seltene Leiden erteilt oder haben alle Mitgliedstaaten eine Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Arzneimittels nach den in den Artikeln 7 und 7 a der Richtlinie 65/65/EWG oder in Artikel 9 Absatz 4 der Richtlinie 75/319/EWG des Rates vom 20. Mai 1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten vorgesehenen Verfahren für die gegenseitige Anerkennung – unbeschadet der Vorschriften über geistiges Eigentum oder anderer Vorschriften des Gemeinschaftsrechts – erteilt, so werden die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten während der nächsten zehn Jahre weder einen anderen Antrag auf Genehmigung für das Inverkehrbringen eines ähnlichen Arzneimittels für dasselbe therapeutische Anwendungsgebiet annehmen noch eine entsprechende Genehmigung erteilen noch einem Antrag auf Erweiterung einer bestehenden Genehmigung stattgeben.
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Der Zeitraum kann bei entsprechender Rentabilität verkürzt werden, Art. 8 Abs. 2 der VO. Unter bestimmten Umständen kann von der Exklusivität abgewichen werden, Art. 8 Abs. 3 der VO.
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Erwägungsgrund 8 der Verordnung lautet wie folgt:
„Die Erfahrungen in den Vereinigten Staaten und Japan haben gezeigt, daß für die Industrie der stärkste Anreiz zu Investitionen in die Entwicklung und das Inverkehrbringen von Arzneimitteln für seltene Leiden die Aussicht auf ein mehrjähriges Marktexklusivitätsrecht ist, wodurch sich die Investitionen möglicherweise teilweise decken lassen. Der Datenschutz gemäß Artikel 4 Nummer 8 Buchstabe a) Ziffer iii) der Richtlinie 65/65/EWG des Rates vom 26. Januar 1965 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneimittel (1) reicht diesbezüglich als Anreiz nicht aus. Die Mitgliedstaaten können von sich aus eine entsprechende Maßnahme nicht ohne gemeinschaftliche Dimension einführen, da dies im Widerspruch zu der Richtlinie 65/65/EWG stünde. Würden die Mitgliedstaaten derartige Maßnahmen ohne Koordinierung ergreifen, so hätte dies Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel zur Folge, die ihrerseits Wettbewerbsverzerrungen nach sich zögen und dem Binnenmarkt entgegenstünden. Das Marktexklusivitätsrecht sollte jedoch lediglich das therapeutische Anwendungsgebiet betreffen, für das ein Arzneimittel als Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesen wurde, und sollte bereits bestehende Rechte an geistigem Eigentum nicht berühren. Im Interesse der Patienten sollte das für Arzneimittel für seltene Leiden gewährte Marktexklusivitätsrecht nicht ausschließen, daß ein ähnliches Arzneimittel in Verkehr gebracht werden kann, das den von dem Leiden Betroffenen erheblichen Nutzen bringen könnte.“
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Art. 8 Abs. 1 der Orphan-Drug-VO verbietet zur Sicherstellung seiner Effektivität jedenfalls Formulierungen in den Zulassungsunterlagen anderer Medikamente, die eine indikationsübergreifende Verwendung und damit eine Umgehung des Marktexklusivitätsrechts nahelegen (vgl. EuG, T-452/14, Rn. 78 ff. – Laboratoires CTRS). Gegen die Zulassung derartiger Unterlagen durch die Zulassungsbehörden kann der Inhaber auf dem öffentlich-rechtlichen Gerichtsweg vorgehen.
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Erwägungsgrund 8 der Verordnung 141/2000 zeigt, dass der Verordnungsgeber mit dem Marktexklusivitätsrecht eine über die bloße Zulassungssituation hinausgehende Rechtsposition schaffen wollte. Hiernach ist das Marktexklusivitätsrecht maßgeblicher Anreiz für Investitionen im Bereich der orphan drugs. Es soll die Möglichkeit schaffen, Investitionen zu realisieren. Dies kann nur gelingen, wenn (über die regulatorische Zulassungssituation hinaus) dem Inhaber des Rechts die Möglichkeit gegeben wird, individuell gegen Umgehungen seines Rechts vorzugehen. Eine solche Umgehung kann in der die Marktexklusivität beeinträchtigenden Formulierung von Informationsmaterialien liegen. Die vom Gericht der Europäischen Union adressierten Umgehungen des Marktexklusivitätsrechts (vgl. EuG, T-452/14 – Laboratoires CTRS) werden seltener durch Formulierungen in den Zulassungsunterlagen geschehen, häufiger durch andere Mechanismen. Das Marktexklusivitätsrecht kann nur effektiv sein, wenn es auch gegen derartige Umgehungen einen Rechtsschutz bietet. Wettbewerber dürfen nicht durch geschickte Formulierung ihrer Dokumente die Möglichkeit haben, Zulassungsbeschränkungen durch Aussagen außerhalb der eigentlichen Zulassungsunterlagen zu umgehen (zu Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 15 ff.).
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Eine derartige Klagemöglichkeit ist nicht durch ein abschließendes System der Zulassung von Arzneimitteln auf EU-Ebene ausgeschlossen. Das Urteil des EuGH C-84/06, auf das sich die Verfügungsbeklagten berufen, bezieht sich auf die Richtlinie 2001/83/EG, die hier nicht Gegenstand ist. Da die Verordnung 141/2000 das System der Rechtsschutzmöglichkeiten nicht adressiert, verbietet sie eine zivilrechtliche Klage nicht (zu Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 16 ff.). Ebenso wenig ist der Umstand, dass die Literatur zu der Orphan-Drug-VO nur den Verwaltungsrechtsweg adressiert, von Belang (zu Anlage AG31, S. 12). Ein Vorrang des Rechtswegs zu dem Gericht der Europäischen Union oder zu den nationalen Verwaltungsgerichten kann nur bestehen, soweit eine Änderung der Zulassungsunterlagen begehrt wird. Das wird aber nicht immer die Folge einer Beeinträchtigung des Marktexklusivitätsrechts durch Wettbewerber sein (zu Anlage AG31, S. 18). Auch eine Disharmonisierung des EU-Rechts ist insoweit nicht zu befürchten. Die Verordnung 141/2000 adressiert den Rechtsschutz nicht explizit, so dass der Rechtsschutz nicht (abschließend) harmonisiert ist (zu Gutachten Anlage AG31, S. 23/24, Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 8/9).
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Der Erwägungsgrund 8 zeigt weiterhin, dass dem Gesetzgeber aufgrund der Erfahrungen in den USA und in Japan an der Einrichtung eines Marktexklusivitätsrechts gelegen war, das über die bereits bestehenden Schutzmechanismen hinausging. Explizit adressiert ist, dass der [damals] bestehende Unterlagenschutz, der in der Folge zugunsten eines auch privatrechtlich durchsetzbaren Rechts reformiert wurde, insoweit nicht ausreiche. Nur ein effektiver Schutzmechanismus kann dem Ziel entsprechen, einen Anreiz zu setzen, auch für seltene Krankheiten Abhilfe zu schaffen. Dem entspricht es, insbesondere vor dem Hintergrund der Bezugnahme auf den Unterlagenschutz, dass die Verordnung (auch zivilrechtliche) Möglichkeiten zulässt, gegen Umgehungen des Marktexklusivitätsrechts vorzugehen, und sie dem Rechteinhaber insoweit eine Rechtsposition zuerkennen soll, die dieser gerichtlich durchsetzen kann. Dafür spricht auch ein „erst recht“-Schluss von der Rechtslage des Unterlagen- und Vermarktungsschutzes hin zur Marktexklusivität. Ein solcher „erst recht“-Schluss ist wegen der vergleichbaren Interessenlage zulässig: Die vorgenannte Bezugnahme zeigt, dass die Marktexklusivität eine Rechtsstellung bewirken sollte, die über den datenrechtlichen Unterlagenschutz nach Richtlinie 65/65/EG hinausgehen würde. Angesichts des Umstands, dass der Unterlagenschutz nach Erlass der Verordnung 141/2000 erweitert wurde, insbesondere ein Vermarktungsschutz aufgenommen wurde (hierzu Widerspruchsbegründung, S. 25), liegt es nahe, das Marktexklusivitätsrecht der Verordnung 141/2000 insoweit ebenso als Vermarktungsschutz zu verstehen. Auch die Europäische Kommission versteht die Marktexklusivität nach Verordnung 141/2000 in diesem Kontext (Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Durchsetzung des Wettbewerbsrechts im Arzneimittelsektor (2009-2017), COM (2019) 17 final, S. 25): „Marktexklusivität bedeutet, dass Generika frühestens zehn Jahre ab dem Tag der Zulassung des Originalpräparats in Verkehr gebracht werden und mit diesem konkurrieren dürfen. Bei Orphan-Arzneimitteln (d.h. Arzneimitteln für seltene Leiden) erstreckt sich das zehnjährige Marktexklusivitätsrecht auch auf das Inverkehrbringen ähnlicher Arzneimittel zur Behandlung derselben Erkrankung (d. h. sowohl auf Generika als auch auf Originalpräparate)“. Die Argumentation der Verfügungsbeklagten, der Vergleich mit dem Unterlagenschutz (Art. 10 der Richtlinie 2001/83/EG, § 24b Abs. 1 AMG) zeige, dass der europäische Gesetzgeber im Rahmen der Verordnung 141/2000 keinen Individualrechtsschutz habe aufstellen wollen, verfängt aus vorgenannten Gründen mithin nicht (zu S. 12/13 der Widerspruchsbegründung).
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Die Kammer verkennt hierbei nicht, dass die Formulierung von werbenden Materialien in Bezug auf Heilmittel ebenfalls Gegenstand des HWG ist. Das HWG setzt die Richtlinie 2001/83/EG um, deren Regelungen zumindest zum Teil als vollharmonisierende Maßnahmen anzusehen sind (vgl. EuGH GRUR 2008, 267, Rn. 20 ff. – Gintec). Insoweit ist insbesondere das Werbeverbot für ungenehmigte Arzneien nach § 3 a HWG/ Art. 87 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG zu beachten. Es ist indes anerkannt, dass das Werbeverbot des § 3 a HWG der Abwendung ernsthafter und schwerwiegender Gefahren für die öffentliche Gesundheit dient (Spickhoff/Fritzsche HWG § 3 a Rn. 1 m.w.N.). Diese Fragen adressiert das Marktexklusivitätsrecht nicht, so dass der Anwendungsbereich von HWG und Richtlinie das oben genannte Verständnis des Marktexklusivitätsrechts und eine entsprechende Anwendung der Orphan-Drug-VO nicht ausschließt (zu S. 14 Widerspruchsbegründung und der Diskussion in der Sitzung). In einer Situation, in der ein Werbeverbot nach HWG tatbestandlich nicht erfüllt ist, kann es den Inhalt oder den Anwendungsbereich des Marktexklusivitätsrechts nicht begrenzen. Vielmehr muss das Marktexklusivitätsrecht auch in dieser Situation eine Rechtsschutzmöglichkeit bieten können und darf nicht ausgeschlossen sein. Alles andere wäre mit den Zielen des Marktexklusivitätsrechts nicht vereinbar. Entsprechend hat das Gericht der Europäischen Union eine Umgehung des Marktexklusivitätsrecht in einem Fall angenommen, in dem Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG tatbestandlich nicht erfüllt war (EuG, T-452/14, Rn. 83 ff. – Laboratoires CTRS).
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cc) Das orphan drugs-Marktexklusivitätsrecht ist ein absolutes und damit ein „sonstiges Recht“ im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB.
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(1) Der Rückgriff auf die Vorschriften des BGB ist zulässig. Die Verordnung enthält zwar keine expliziten Angaben dazu, ob das Marktexklusivitätsrecht ein absolutes Recht oder ein sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB ist. Das bedeutet aber nicht, dass der Verordnungsgeber einen zivilprozessual durchsetzbaren Individualrechtsschutz (bewusst) ausschließen wollte, sondern vielmehr, dass der Gehalt des Marktexklusivitätsrechts insoweit durch Auslegung zu ermitteln ist (zu S. 12 Widerspruchsbegründung).
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(2) Hiernach ist das Marktexklusivitätsrecht als absolutes Recht ausgestaltet. Es hat wie jedes andere absolute Recht einen Zuweisungs- und einen Ausschlussgehalt.
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(a) Das Marktexklusivitätsrecht besitzt den für ein absolutes Recht erforderlichen Zuweisungs- und Ausschlussgehalt. Denn die Einordnung eines Arzneimittels als orphan drug bewirkt für die bestimmte Zeitdauer, dass die Zulassungsbehörden einen anderen Antrag auf Genehmigung für das Inverkehrbringen eines ähnlichen Arzneimittels für dasselbe therapeutische Anwendungsgebiet nicht annehmen, keine entsprechende Genehmigung erteilen und eine bestehende Genehmigung nicht entsprechend erweitern. Der Inhaber darf das Arzneimittel für die entsprechende Indikation für die bestimmte Zeitdauer mithin exklusiv nutzen. Ihm kommt damit zeitlich befristet eine Rechtsposition zu, die bestimmte Handlungen anderer Personen ausschließen kann. Das Marktexklusivitätsrecht weist insoweit keine Besonderheiten gegenüber den Rechten des geistigen Eigentums oder urheberrechtlichen Leistungsschutzrechten auf, bei denen ebenfalls anerkannt ist, dass sie neben einem negativen Verbietungsrecht auch ein positives Benutzungsrecht gewähren. Dabei ist im Übrigen irrelevant, dass die Marktexklusivität über eine arzneimittelrechtliche Zulassung vermittelt wird, und nicht handlungsbezogen ausgestaltet ist. Eine behördliche Genehmigung oder Zuerkennung steht der Einordnung als absolutes Recht nicht entgegen (vgl. BGH NJW 1965, 1712, zu Anlage AG31, S. 11, 12, 15, 17).
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Soweit Erwägungsgrund 8 und Art. 8 Abs. 1, 3 der Verordnung 141/2000 klarstellen, dass Rechte am geistigen Eigentum nicht berührt werden sollen, bedeutet dies nicht, dass kein absolutes Recht geschaffen werden sollte, sondern vielmehr, dass das Marktexklusivitätsrecht keine Auswirkungen auf bereits bestehende Rechte des geistigen Eigentums haben soll (zu S. 12/13 der Widerspruchsbegründung).
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Die inhärenten Beschränkungen des Marktexklusivitätsrechts stehen der hiesigen Einschätzung nicht entgegen. Es versteht sich von selbst, dass das Marktexklusivitätsrecht nur in den Grenzen der Regelungen der Verordnung 141/2000 besteht. Insoweit aber gilt es auch gegenüber Dritten. Auch beispielsweise das – über § 1004 Abs.1 BGB und § 823 Abs. 1 BGB geschützte – Eigentum ist nicht schrankenlos gewährleistet (zu Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 13 ff.).
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Soweit die Verfügungsbeklagten insbesondere unter Bezugnahme auf Art. 8 Abs. 2 der Verordnung 141/2000 argumentieren, das Marktexklusivitätsrecht würde lediglich einen zulassungsrechtlichen Schutz einer bloßen Erwerbsaussicht begründen, kann dem nicht gefolgt werden. Vielmehr begründet das Marktexklusivitätsrecht für die Dauer seines Bestehens die konkrete Anforderung an die Zulassungsbehörden sowie an die Wettbewerber, das Exklusivitätsrecht zu beachten. Wenngleich Art. 8 Abs. 2 der Verordnung 141/2000 die Möglichkeit vorsieht, das Marktexklusivitätsrecht zeitlich bei gegebener Rentabilität zu beschränken, geht das Exklusivitätsrecht damit über eine bloße Erwerbsaussicht hinaus.
71
(b) Eine Gesamtbetrachtung der vorgenannten Überlegungen, insbesondere bei Berücksichtigung des Anliegens des Gesetzgebers, Anreize für Unternehmen zu setzen, um Investitionen in orphan drugs zu ermöglichen, führt zu einer Einordnung des Marktexklusivitätsrechts als absolutes Recht. Die europarechtlichen Vorgaben insbesondere des effet utile und des Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union setzen voraus, dass europarechtlichen Sekundärrechtsakten im Gefüge der nationalen Normen eine praktische Wirksamkeit zukommt und dass eine Möglichkeit besteht, etwaige Beeinträchtigungen und Verletzungen mittels eines effektiven Rechtsbehelfs anzugreifen. Daher muss das nationale Recht einem Inhaber eines Marktexklusivitätsrechts die Möglichkeit eröffnen, etwaige Beeinträchtigungen und Verletzungen des Marktexklusivitätsrechts gerichtlich überprüfen zu lassen. Eine Charakterisierung des Marktexklusivitätsrechts als rein zulassungsrechtlich mit Wirkung lediglich im Verhältnis zwischen Inhaber und Zulassungsbehörden würde Umgehungen ermöglichen, was dem Prinzip des effet utile gerade widerspräche. Ein Verweis auf den Verwaltungsrechtsweg ist, wie oben aufgezeigt, nicht förderlich, wenn Anreize für eine Umgehung des Marktexklusivitätsrechts nicht in Zulassungsunterlagen, sondern in anderen Kommunikationen gegeben werden.
72
(c) Weitere Anknüpfungspunkte sprechen für die Einordnung als absolutes sonstiges Recht. So trägt Art. 8 der Verordnung 141/2000 in der deutschen Fassung die Überschrift „Marktexklusivitätsrecht“ (ebenso u.a. in der schwedischen Fassung, „ensamrätt på marknaden“). Das „Recht“ ist in anderen Sprachfassungen, etwa der englischen („market exclusivity“) und der französischen („exclusivite commerciale“), zwar nicht explizit benannt, aber indirekt angesprochen: Die „Marktexklusivität“ beschreibt einen Zustand, der denklogisch auch ein Recht umfasst. Gleiches gilt für die entsprechenden Formulierungen in Erwägungsgrund 8.
73
Ebenso spricht die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach öffentlich-rechtliche Konzessionen ein Nutzungsrecht bürgerlich-rechtlicher Natur umfassen sollen, gegen dessen Verletzung der Inhaber einen Anspruch aus § 1004 BGB geltend machen kann (BGH NJW 1965, 1712), für eine Einordnung als absolutes Recht.
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dd) Die weiteren Argumente der Verfügungsbeklagten gegen eine Einordnung als sonstiges Recht verhelfen ihr nicht zum Erfolg:
75
(1) Dass die EU-Kommission in der „Mitteilung der Kommission über Arzneimittel für seltene Leiden“ einen zivilrechtlichen Individualrechtsschutz nicht adressiert hat, spricht nicht gegen eine Einordnung des Marktexklusivitätsrechts als sonstiges Schutzrecht i.S. des § 823 Abs. 1 BGB (zu Widerspruchsbegründung S. 13). Gleiches gilt für die Erläuterungen der EU-Kommission in ihrem Explanatory Memorandum vom 27.07.1998 zu ihrem Vorschlag für eine Verordnung über Arzneimittel für seltene Krankheiten. Art. 8 der Verordnung 141/2000 mag einen besonderen Zulassungsversagungsgrund aufstellen – das bedeutet nicht, dass er keinen zivilrechtlichen Individualrechtsschutz begründen kann (zu Widerspruchsbegründung, S. 13/14).
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(2) Es ist des gleichen nicht relevant, dass es keine Gerichtsentscheidung oder Literaturmeinung gibt, die sich mit einem zivilrechtlichen Individualrechtsschutz des Marktexklusivitätsrechts befasst. Allenfalls eine Entscheidung, die einen zivilrechtlichen Individualrechtsschutz ablehnt, könnte insoweit von Interesse sein. Dass die Verfügungsklägerin oder deren Muttergesellschaft bisher nicht gegen Wettbewerber vorgegangen ist, ist für hiesige Entscheidung ebenso irrelevant (zu Widerspruchsbegründung, S. 16/17). Die von den Verfügungsbeklagten gerügten Zitate der Verfügungsklägerin haben auf die Entscheidung der Kammer keinen Einfluss (zu Widerspruchsbegründung, S. 23 ff.).
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(3) Die höchstrichterliche Rechtsprechung, die Internet-Domainnamen nicht als absolutes Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB ansieht, steht der Einordnung des Marktexklusivitätsrechts als sonstiges Recht i.S. des § 1004 Abs. 1, § 823 Abs. 1 BGB nicht entgegen. Die Inhaberschaft einer Marktexklusivität und die Inhaberschaft an einem Internet-Domainnamen sind insoweit nicht vergleichbar. Anders als bei Domainnamen, bei denen eine aus einer bestimmten Bezeichnung gebildete Internetadresse aus technischen Gründen nur einmal vergeben werden kann (vgl. BGH GRUR 2002, 622, 624 – shell.de) und deswegen eine faktische Ausschließlichkeit besteht (vgl. OLG Düsseldorf, MMR 2016, 399, 402, Rn. 62 m.w.N.), ergibt sich die Ausschließlichkeit des Marktexklusivitätsrechts direkt aus der Verordnung 141/2000 und den ihr zugrundeliegenden gesetzgeberischen Wertungen (zu Gutachten Anlage AG31, S. 6/7). Des Weiteren liegt bei der Registrierung von Internet-Domainnamen ein rein schuldrechtliches Verhältnis vor, während das Marktexklusivitätsrecht eine öffentlich-rechtliche Position umfasst. Insoweit liegt eine Situation vergleichbar der Konstellation vor, die der Entscheidung BGH NJW 1965, 1712 zugrunde lag.
78
(4) Die Rechtsprechung der Münchner und Düsseldorfer Gerichte zu anti-anti-suit-injunctions, in der auf Rechte aus Patenten als „eigentumsähnliche“ oder „eigentumsgleiche“ Rechte Bezug genommen wird, steht der hiesigen Einschätzung ebenso wenig entgegen. In den genannten Entscheidungen konnte eine eigentumsähnliche/eigentumsgleiche Stellung festgestellt werden, so dass jedenfalls die Verletzung eines sonstigen Rechts im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB bestand. Damit haben sich die Gerichte aber nicht dazu verhalten, wann im Übrigen ein sonstiges Recht bestehen kann (zu Gutachten Anlage AG31, S. 7/8).
79
(5) Die umstrittene Rechtsfrage, ob der Know-how-Schutz als sonstiges Recht eingeordnet werden kann, hat für hiesigen Fall keine Konsequenzen (zu Gutachten Anlage AG31, S. 8).
80
(6) Der Einordnung als sonstiges Recht steht – anders als die Verfügungsbeklagten meinen – nicht entgegen, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht im Sinne des Art. 9 der Verordnung 141/2000 festgehalten hat, Art. 8 Abs. 1 als absolutes Recht zivilrechtlicher Natur zu behandeln. Art. 9 der Verordnung 141/2000 adressiert sonstige Anreize, etwa Forschungshilfen. Die zivilrechtliche Behandlung des Marktexklusivitätsrechts steht außerhalb derartiger Anreize (zu Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 9 ff.).
81
2. Die Verfügungsklägerin hat eine drohende Beeinträchtigung im Sinne des § 1004 Abs. 1 BGB und damit als Begehungsgefahr jedenfalls eine Erstbegehungsgefahr glaubhaft gemacht. Daher braucht die Kammer nicht zu entscheiden, ob, wie die Verfügungsklägerin meint, (sogar) Wiederholungsgefahr gegeben wäre, indem das Marktexklusivitätsrecht aufgrund des Markteintritts mit der angegriffenen Ausführungsform (Antragsschrift, S. 32) sowie mit Versendung der Unterlagen gemäß A. AG 8d/e beeinträchtigt worden sei.
82
a) Es liegt (jedenfalls) Erstbegehungsgefahr vor.
83
aa) Ein Unterlassungsanspruch besteht nach § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB, soweit es bereits zu einer Beeinträchtigung gekommen ist, und eine weitere Beeinträchtigung droht (Wiederholungsgefahr). Darüber hinaus besteht ein Unterlassungsanspruch wegen des Gebots effektiven Rechtsschutzes über den Gesetzeswortlaut hinaus auch, wenn es zuvor noch nicht zu einer Beeinträchtigung gekommen ist, und diese lediglich droht, sog. vorbeugender Unterlassungsanspruch wegen Erstbegehungsgefahr (Grüneberg/Herrler, BGB, 82. Aufl. 2023, § 1004 Rn. 32 m.w.N.; BeckOK BGB/Fritzsche BGB § 1004 Rn. 86 m.w.N.; MüKoBGB/Raff BGB § 1004 Rn. 40 m.w.N.). Dies setzt die konkrete Gefahr einer erstmaligen Beeinträchtigung voraus (BeckOK BGB/Fritzsche BGB § 1004 Rn. 95 m.w.N.).
84
Erstbegehungsgefahr besteht, wenn eine erste Verletzungshandlung ernsthaft und greifbar zu befürchten ist, bzw. als unmittelbar bevorstehend droht (BeckOK BGB/Fritzsche BGB § 1004 Rn. 96 m.w.N.). Darzutun sind Umstände, die darauf schließen lassen, dass der Störer den Entschluss zur Verletzung bereits gefasst hat und es nur noch von ihm abhängt, ob es zu einer Beeinträchtigung kommt oder nicht (BeckOK BGB/Fritzsche BGB § 1004 Rn. 96 m.w.N.). Die Vornahme konkreter Vorbereitungshandlungen kann die Erstbegehungsgefahr begründen (BeckOK BGB/Fritzsche BGB § 1004 Rn. 97 m.w.N.).
85
bb) Nach diesen Maßstäben besteht die Erstbegehungsgefahr. Die Verfügungsklägerin hat dargetan und glaubhaft gemacht, dass die Verfügungsbeklagten die Voraussetzung für eine ernsthafte und greifbare Beeinträchtigung des Marktexklusivitätsrechts geschaffen haben.
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Die Erstbegehungsgefahr ist dargetan und glaubhaft gemacht, weil jedenfalls ein Krankenhausapotheker beabsichtigt hat, die angegriffene Ausführungsform indikationsübergreifend einzusetzen (Anlage FBD20). Das genügt für die Annahme der hinreichenden Gefahr einer indikationsübergreifenden und damit das Marktexklusivitätsrecht beeinträchtigenden Verwendung. Da seltene Leiden betroffen sind, genügt es, einen einzigen tatsächlichen Fall darzutun. Eine Beeinträchtigung des Marktexklusivitätsrechts kann vorliegen, wenn es aufgrund einer Umgehung des Marktexklusivitätsrechts zu einer indikationsübergreifenden Verwendung kommt. Denn das Marktexklusivitätsrecht soll Investitionsschutz bieten, der dann konkret beeinträchtigt ist, wenn eine dem Marktexklusivitätsrecht zuwiderlaufende Verwendung erfolgt (s.o.). Dass es zu indikationsübergreifenden Verschreibungen kommen kann, folgt bereits aus dem Vortrag der Verfügungsbeklagten (Anlage AG26, Rn. 5). Soweit die Verfügungsbeklagten den anonymisierten Vortrag gemäß Anlage FBD20 mit Nichtwissen bestritten haben (Widerspruchsbegründung, S. 25), ist dieses Bestreiten nicht geeignet, die Glaubhaftmachung durch Anlage FBD20 zu widerlegen. Die Angaben sind beweisrechtlich relevant, weil die maßgeblichen Angaben gegenüber dem Versichernden gemacht worden sind, so dass keine Ähnlichkeit mit den von den Verfügungsbeklagten in Bezug genommenen Fällen besteht (zu S. 22 des Schriftsatzes der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023).
87
Angesichts dieses glaubhaft gemachten Vortrags ist der Einwand der Verfügungsbeklagten hinsichtlich ihres Arzneimittelvertriebssystems, das vorsehe, dass bei jeder Verschreibung zwei Personen, die an der tatsächlichen Verwendung des Arzneimittels beteiligt sind (der Verordner und der Patient), und zwei Personen, die an der Verteilung des Arzneimittels für diese Verwendung beteiligt sind (der Verordner und der Apotheker), die alle darüber aufgeklärt wurden, dass die angegriffene Ausführungsform ausschließlich für die Behandlung von PNH zugelassen ist, die Entscheidung treffen, ob sie das Arzneimittel verwenden (Schutzschrift, S. 55/56) nicht geeignet, eine Erstbegehungsgefahr zu verhindern.
88
Die „Verwendungsempfehlung“, auf die sich die Verfügungsbeklagten berufen, um darzutun, dass sie überobligatorisch von einer indikationsübergreifenden Verwendung abraten (Anlage AG8d, letzte Seite, Anlage 8e), spricht nicht gegen eine Erstbegehungsgefahr. Als Empfänger der Schreiben sind die angeschriebenen Ärzte und Apotheker die angesprochenen Verkehrskreise und auf ihr Verständnis ist maßgeblich abzustellen. Der Gesamtinhalt dieser Schreiben ruft bei ihnen die Vorstellung hervor, … könne ebenfalls wie das Referenzprodukt zur Behandlung der übrigen drei seltenen Leiden eingesetzt werden. Insofern legt den angesprochenen Fachkreisen das Schreiben durch seine Formulierung (Bezugnahme auf die weiteren Zulassungen des Referenzprodukts, „zur Zeit nicht zugelassen“) medizinisch betrachtet gerade eine indikationsübergreifende Verwendung nahe (zu Widerspruchsbegründung, S. 30). Auf die in Bezug genommene Entscheidung des OLG Düsseldorf, PharmR 2018, 306, 314 – Dexmedteomidin kommt es im vorliegenden Fall nicht an, zumal im dortigen Fall eine Verwendung bestimmten Umfangs nicht empfohlen und auf bestimmte Nebenwirkungen aufmerksam gemacht wurde (zu Schutzschrift, S. 50).
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Ebenso wenig wird die Erstbegehungsgefahr durch den von den Verfügungsbeklagten glaubhaft gemachten Fall widerlegt, wonach ein Apotheker eine indikationsübergreifende Verschreibung gestoppt hat. Das belegt – in Anbetracht insbesondere des Gegenstands der Anlage FBD20 – nicht, dass jeder Apotheker die „Verwendungsempfehlung“ so verstehen muss, wie die Verfügungsbeklagten es behaupten (Widerspruchsbegründung, S. 30; Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 23, Anlage AG26). Es mag naheliegend und nicht unplausibel sein, dass die Angaben aus Anlage FBD20 auf ein übliches Verhandlungsgebaren zurückzuführen sind. Das widerlegt indes nicht die Gefahr, dass der fragliche Apotheker seine Ankündigung nicht wahrmachen und die Medikamente nicht indikationsübergreifend verwenden würde (zum Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 3.7.2023, S. 22.). Der Umstand, dass die „Verwendungsempfehlung“ nur an Hämatologen versandt wurde, nicht an Ärzte anderer Fachbereiche, entkräftet die Annahme einer Erstbegehungsgefahr ebenso wenig. Denn dies steht einer indikationsübergreifenden Verwendung nicht entgegen (siehe unten unter III.3.c)bb)(5)).
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Unwesentlich ist, ob eine indikationsübergreifende Verschreibung und Verwendung nach den Grundsätzen des „off-label“-Einsatzes sozialrechtlich zulässig sind. Die von den Verfügungsbeklagten insoweit zitierten Gerichtsentscheidungen (Widerspruchsbegründung, S. 26 ff.; Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 27 ff.) betreffen die Verpflichtung von Krankenkassen, entstandene Kosten zu ersetzen. Eine solche Pflicht mag in manchen Fällen des „off-label“-Gebrauchs bestehen. Die Verfügungsklägerin hat indes glaubhaft gemacht, dass die Krankenkassen mit einer indikationsübergreifenden Verwendung der angegriffenen Ausführungsform einverstanden sind, so dass sich Erstattungsprobleme nicht stellen werden (Anlage FBD20, S. 1, Anlage FBD39). Auf die Angaben in Anlage FBD26, gegen deren Beweiswert sich die Verfügungsbeklagten wenden (Schriftsatz vom 03.07.2023, S. 25/26), kommt es damit nicht an.
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cc) Entgegen der Auffassung der Verfügungsbeklagten brauchen die von der Rechtsprechung geschaffenen besonderen Voraussetzungen, wonach bei „second-medical-use“-Sachverhalten eine Verschreibungspraxis in hinreichendem Umfang erforderlich wäre (vgl. OLG Düsseldorf, GRUR 2017, 1107 – Östrogenblocker, mit Anmerkung Neuhaus, GRUR 2017, 1111 f.; siehe dazu Schacht, GRUR 2022, 1017), im vorliegenden Fall nicht erfüllt zu sein (zu Widerspruchsbegründung, S. 27).
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Diese Rechtsprechung findet hier jedenfalls deswegen keine Anwendung, weil es trotz bestehender Ähnlichkeiten des Grundsachverhalts nicht um patentrechtliche Ansprüche nach § 139 PatG i. V. mit § 9 PatG wegen Verletzung eines zweckgebundenen Stoffschutzes geht, sondern um quasi-negatorische Ansprüche wegen Verletzung des Marktexklusivitätsrechts.
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3. Die Beeinträchtigung ist den Verfügungsbeklagten als mittelbare Störer zuzurechnen.
94
a) Anspruchsgegner eines Anspruchs aus § 1004 BGB kann ein sog. Störer sein. Als Störer kommt in Betracht, wer die Beeinträchtigung entweder unmittelbar oder mittelbar hervorgerufen hat (Handlungsstörer) oder durch eine Willensbetätigung Einfluss auf den beeinträchtigenden Zustand nehmen kann (Zustandsstörer). Als Handlungsstörer kann ein unmittelbarer oder ein mittelbarer Störer in Betracht kommen (BeckOK BGB/Fritzsche BGB § 1004 Rn. 14 m.w.N. MüKoBGB/Raff BGB § 1004 Rn. 159 ff. m.w.N.). Störer ist jedenfalls, wer eine Beeinträchtigung durch eine eigene Handlung oder pflichtwidrige Unterlassung verursacht (BeckOK BGB/Fritzsche BGB § 1004 Rn. 17 m.w.N.). Mittelbarer Handlungsstörer ist, wer die Beeinträchtigung durch einen Dritten adäquat kausal veranlasst, und in der Lage ist, sie zu verhindern oder abzustellen (BeckOK BGB/Fritzsche BGB § 1004 Rn. 18 m.w.N.). Die Haftung des mittelbaren Störers ist grundsätzlich durch Zumutbarkeitsgesichtspunkte begrenzt. Der Störer kann der Haftung entgehen, wenn er beweisen kann, dass er alle ihm zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um die Beeinträchtigung durch den Dritten abzustellen. Dazu ist in der Regel erforderlich, dass der Störer den Dritten im Rahmen des rechtlich Möglichen zur Unterlassung der Störung veranlasst, etwa durch vertragsstrafengesicherte Vereinbarungen (BeckOK BGB/Fritzsche BGB § 1004 Rn. 18 m.w.N.).
95
b) Die Verfügungsbeklagten sind hiernach mittelbare Störer und damit passivlegitimiert.
96
aa) Sie haben durch ihr Verhalten eine etwaige indikationsübergreifende Verschreibung oder Verwendung jedenfalls adäquat kausal veranlasst. Dabei ist aus den im Rahmen der Erstbegehungsgefahr erläuterten Gründen nicht allein auf den (kurzzeitig erfolgten und wieder beabsichtigten) Markteintritt abzustellen. Zu berücksichtigen ist aber die den Markteintritt begleitende Kommunikation durch die Verfügungsbeklagten, die eine adäquat kausale Ursache für eine mögliche indikationsübergreifende Verwendung setzt.
97
Soweit die Verfügungsbeklagten unterstreichen, sie rieten von einer Verwendung für nicht zugelassene Indikationen explizit ab (Widerspruchsbegründung, S. 29 ff.), weist gerade dieses Abraten auf die Möglichkeit einer indikationsübergreifenden Verwendung hin, wie oben erläutert.
98
bb) Die Zurechnung entfällt nicht wegen eines den Kausalverlauf unterbrechenden Hinzutretens Dritter. Es ist nicht relevant, dass die konkrete Beeinträchtigung erst durch verschreibende Ärzte oder Apotheker erfolgen wird. Entgegen der Auffassung der Verfügungsbeklagten liegt insoweit keine Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs vor. Denn durch die vorgenannte Empfehlung haben sie eine ihnen zurechenbare Ursache für eine etwaige indikationsübergreifende Verschreibung gesetzt. Aufgrund der missverständlichen Empfehlung trifft die Verfügungsbeklagten gerade eine Verpflichtung, eine indikationsübergreifende Verschreibung und Verwendung zu unterbinden. Auch eine etwaige Kostenerstattung durch die Krankenkassen führt nicht zu einem den Zurechnungszusammenhang unterbrechenden Handlungsverlauf (zu Schriftsatz vom 03.07.2023, S. 34 ff.).
99
cc) Die Gefahr einer uferlosen, unkontrollierbaren Haftungsausweitung besteht gleichwohl nicht. Die Haftung der Verfügungsbeklagten wird durch eine konkrete Handlung ausgelöst, die neben den (grundsätzlich nicht zu beanstandenden) Markteintritt tritt, nämlich die vorgenannte Empfehlung, die die angesprochenen Kreise gerade zu einer indikationsübergreifenden Maßnahme verleiten kann. Die Störerhaftung setzt voraus, dass ein adäquater Kausalitätsbeitrag besteht und der Störer in der Lage ist, die Beeinträchtigung zu verhindern oder abzustellen. Demnach kann als Störer auf Unterlassung in Anspruch genommen werden, wer, ohne Täter zu sein, in irgendeiner Weise zu der Herbeiführung der rechtswidrigen Beeinträchtigung willentlich und kausal beiträgt und zumutbare Prüfungspflichten verletzt. Dabei wird auch ein Zurechnungsgrund zu prüfen sein (zu Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 37 f.).
100
dd) Irrelevant ist, dass die Verfügungsbeklagte zu 1) die „Verwendungsempfehlung“ (unstreitig) nicht versendet hat. Sie hat sich schon im Rahmen der Schutzschrift auf den Inhalt der Anlagen 8 d und 8 e berufen und damit deutlich gemacht, dass auch sie sich die Schreiben zu eigen machen. Da die Verfügungsbeklagte zu 1) Inhaberin der europäischen Marktzulassung der angegriffenen Ausführungsform und als pharmazeutische Unternehmerin und Herstellerin für die angegriffene Ausführungsform tätig ist, soweit sie für den deutschen Markt bestimmt ist, und die Verfügungsbeklagte zu 2) (nur) die deutsche Vertriebsgesellschaft ist, ist zudem davon auszugehen, dass die Verfügungsbeklagte zu 2) die Schreiben in Anlagen 8d und 8e mit der Verfügungsbeklagten zu 1) abgestimmt hat. Das steht in Einklang mit der Berufung beider Verfügungsbeklagter auf den Schriftsatz im Rahmen der Schutzschrift.
101
ee) Nicht anders ist der Fall zu entscheiden, wenn man – wegen der Nähe des Marktexklusivitätsrechts zu Rechten des geistigen Eigentums oder des Wettbewerbsrechts – für die Frage der Passivlegitimation, die vom X. und I. Zivilsenat aufgestellten Grundsätze zur Haftung von Intermediären berücksichtigt.
102
(1) Durch die Verwendungsempfehlung haben die Verfügungsbeklagten im vorliegenden Fall eine vorwerfbare Mit-Verursachung der potenziellen Rechtsverletzung besorgt und sind daher ebenfalls passivlegitimiert. Nach der Rechtsprechung des X. Zivilsenats (Patentsenats) kann Verletzer (neben dem Allein- oder Mittäter, und neben Gehilfen und Anstifter) ein sog. Nebentäter sein, für dessen Haftung eine vorwerfbare (Mit-)Verursachung der Rechtsverletzung einschließlich der ungenügenden Vorsorge gegen solche Verstöße ausreicht (BGH GRUR 2009, 1142, Rn. 34 m.w.N. – MP3-Player-Import). Nebentäter ist, wer den Tatbestand unabhängig vom täterschaftlichen Handeln eines Dritten verwirklicht.
103
(2) Nach den wettbewerbsrechtlichen Maßstäben des I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs begründet die Versendung der Verwendungsempfehlung ebenfalls eine Haftung unter dem Gesichtspunkt der Verletzung einer Verkehrssicherungsplicht, weil die Verfügungsbeklagte zu 2 durch ihr Handeln im geschäftlichen Verkehr die Gefahr schafft, dass Dritte (Ärzte oder Apotheker) geschützte Interessen der Verfügungsklägerin verletzen und indikationsübergreifend verschreiben (vgl. BGH GRUR 2007, 890, Rn. 36 ff. – Jugendgefährdende Medien bei eBay; Köhler/Feddersen in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, 41. Auflage 2023, UWG, § 8 Rn. 2.4; Ohly in: Ohly/Sosnitza, 8. Auflage 2023, UWG, § 8 Rn. 121 f.). Auch hiernach ist eine Passivlegitimation der Verfügungsbeklagten gegeben.
104
c) Die Verfügungsklägerin muss die Störungshandlung nicht dulden, § 1004 Abs. 2 BGB; diese ist rechtswidrig.
105
Es besteht weder eine Duldungspflicht noch ein Rechtfertigungsgrund deswegen, weil die Verfügungsbeklagten den Rahmen des Zulassungsrechts eingehalten haben. Das Begleitschreiben bei Anlage AG8d, letzte Seite, ist keine Zulassungsunterlage. Gleiches gilt für das Informationsblatt Anlage AG8e. In den Schulungsunterlagen, die vom Paul-Ehrlich-Institut zugelassen sind, findet sich die in Bezug genommene „Empfehlung“ nicht. Insoweit handelt es sich bei der Empfehlung um eine über die Zulassungsunterlagen hinausgehende Information. Ob diese den Anforderungen des Zulassungsrechts entsprechen, hat keine Zulassungsbehörde geprüft.
106
Die Überlegung der Verfügungsbeklagten, Art. 8 Abs. 1 der Verordnung 41/2000 könne nicht als sonstiges Recht eingeordnet werden, weil anderenfalls die Möglichkeit bestünde, wegen solcher Vertriebshandlungen gegen Mitbewerber vorzugehen, die im Einklang mit einer erteilten Marktzulassung stehen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Maßgeblich ist nicht der (zulässige und zu duldende) Markteintritt der Verfügungsbeklagten, sondern das begleitende, aus oben genannten Gründen nicht zu duldende Empfehlungsschreiben (zu Gutachten Anlage AG31, S. 18/20).
107
Weitere Gründe für eine Rechtfertigung sind nicht ersichtlich.
108
4. Die entstandene Erstbegehungsgefahr (oben unter 2) ist nicht beseitigt worden.
109
Entgegen der Annahme der Verfügungsbeklagten ist die Erstbegehungsgefahr durch die in der mündlichen Verhandlung vom 07.07.2023 angekündigten Verlautbarungen der Verfügungsbeklagten bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nicht ausgeräumt worden. Diese angekündigte Erklärung ist kein hinreichender actus contrarius (unter bb). Dass die Verfügungsbeklagten im Nachgang zur mündlichen Verhandlung an die Empfänger der „Empfehlungsschreiben“ geschrieben und darin zur angekündigten Erklärung ähnliche Aussagen getroffen haben, lässt die begründete Erstbegehungsgefahr ebenfalls nicht entfallen (unter cc). Der Beschluss des G-BA vom 15.06.2023 zur Konkretisierung von § 129 Abs. 1 Satz 12 SGB V, der eine mögliche Substitution durch Apotheker betrifft, lässt die Erstbegehungsgefahr nicht vollumfänglich entfallen (unter dd).
110
a) Da für die Ausräumung der Erstbegehungsgefahr allgemein nicht dieselben strengen Regeln gelten wie bei der Wiederholungsgefahr, ist für die Ausräumung der Erstbegehungsgefahr grundsätzlich keine strafbewehrte Unterlassungserklärung erforderlich, sondern sie kann in der Regel durch entgegengesetztes Verhalten (actus contrarius) beseitigt werden (BGH GRUR 2008, 912 Rn. 30 – Metrosex; BGH GRUR 2009, 841 Rn. 23 – Cybersky; Bornkamm in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, 41. Auflage 2023, UWG, § 8 Rn. 1.31; Eckhartt in: BeckOK MarkenR, 34. Ed. 1.7.2023, § 14 Rn. 640; Grabinski/Zülch/Tochtermann in: Benkard, PatG, 12. Auflage 2023, § 139 Rn. 30 d; Werner in: Busse/Keukenschrijver, a.a.O., § 139 Rn. 89). Generell muss sich nur derjenige strafbewehrt unterwerfen, der eine Verletzungshandlung begangen hat (Bornkamm in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, a.a.O., § 8 Rn. 1.31 b; a.A. Köhler GRUR 2011, 879, 883 für Fälle, in denen der actus contrarius nicht aus freien Stücken, sondern infolge einer Abmahnung ausgeführt wurde). Sofern bereits Vorbereitungshandlungen für die künftige Beeinträchtigung gemacht worden sind, ist eine umfassende Rückgängigmachung erforderlich, um die Erstbegehungsgefahr zu beseitigen (BeckOK BGB/Fritzsche BGB § 1004 Rn. 99 m.w.N.).
111
Beruht die Erstbegehungsgefahr auf einer Äußerung, kann der Widerruf oder die Erklärung des Unterlassungswillens ausreichend sein (vgl. Bornkamm in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, a.a.O., § 8 Rn. 1.32). Beruht sie auf einer Werbung, so endet sie in der Regel, wenn die Werbung aufgegeben wird (BGH GRUR 1992, 116, 117 – Topfgucker-Scheck; Bornkamm in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, a.a.O., § 8 Rn. 1.33). Das gilt nicht, wenn bei dem angesprochenen Verkehr noch eine entsprechende (unzutreffende) Erwartungshaltung vorhanden ist (BGH GRUR 2009, 841 Rn. 26 – Cybersky; Specht-Riemenschneider in: Dreier/Schulze, UrhG, 7. Auflage 2022, § 97 Rn. 60).
112
Bei rechtsverletzender Markenanmeldung oder Titelschutzanzeige legt die Rücknahme der Anmeldung oder Anzeige in der Regel Zeugnis davon ab, dass der Schuldner seinen Plan aufgegeben hat, die älteren Rechte des Kennzeichen- oder Titelinhabers zu verletzen. Ist auf diese Weise der status quo ante und damit der Rechtsfrieden wiederhergestellt, besteht für die Forderung nach einer strafbewehrten Unterwerfung kein Anlass (vgl. Bornkamm in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, a.a.O., § 8 Rn. 1.31b, 1.34 und 1.35; Eckhartt in: BeckOK MarkenR, a.a.O., § 14 Rn. 644). Dies ist nicht unumstritten. Nach anderer Auffassung (vgl. Jaworski in: Ingerl/Rohnke/Nordemann, MarkenG, 4. Auflage 2023, Vor §§ 14-19 d Rn. 187 f.; Büscher in: Büscher/Dittmer/Schiwy, MarkenG, § 14 Rn. 613 f.) bedarf es einer strafbewehrten Unterlassungserklärung, weil fraglich sei, warum der Verletzte ausgerechnet dann auf die Sicherung durch Unterlassungserklärung oder Unterlassungstitel verzichten muss, wenn er aufgrund sorgfältiger Wahrung seiner Rechte die bevorstehende Verletzungshandlung im Vorbereitungsstadium frühzeitig entdeckt und unverzüglich dagegen vorgeht. Nicht zu rechtfertigen sei die Differenzierung zwischen Wiederholungs- und Erstbegehungsgefahr, wenn das Verletzerverhalten so weit geht, dass versucht werde, an dem verletzenden Zeichen ein eigenes Kennzeichenrecht zu erlangen (bzw. bei der Titelschutzanzeige vorzuverlegen). Hier sollten die strengeren Regeln der Wiederholungsgefahr angewendet und die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung verlangt werden (Jaworski in: Ingerl/Rohnke/Nordemann, a.a.O., Vor §§ 14-19 d Rn. 187 m.w.N.).
113
b) Nach diesen Maßstäben haben die Verfügungsbeklagten die Erstbegehungsgefahr durch die Erklärung zu Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 07.07.2023 nicht beseitigt.
114
aa) Die Kammer braucht nicht zu entscheiden, ob die Verfügungsbeklagten aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls durch Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung die Erstbegehungsgefahr hier hätten beseitigen können. Denn eine solche Erklärung haben sie nicht abgegeben. Die Kammer hat an dieser Stelle (zunächst) lediglich die vorgebrachte Rechtsverteidigung der Verfügungsbeklagten zu prüfen, ob mit der zu Protokoll gegebenen Erklärung ein hinreichender actus contrarius gesetzt worden ist, der die Erstbegehungsgefahr wieder ausräumt.
115
bb) Entgegen der Auffassung der Verfügungsbeklagten ist diese zu Protokoll gegebene Erklärung kein hinreichender actus contrarius.
116
Zum einen haben die Verfügungsbeklagten zum relevanten Zeitpunkt – Schluss der mündlichen Verhandlung – das Versenden der Schreiben lediglich angekündigt, aber noch nicht vollzogen. Werden durch den Inhalt versendeter Schreiben bei den angesprochenen Verkehrskreisen Fehlvorstellungen und unzutreffende Erwartungen hervorgerufen, die für die Beeinträchtigung des Marktexklusivitätsrechts eine Erstbegehungsgefahr begründen, reicht grundsätzlich nicht die bloße Ankündigung, Schreiben mit gegenläufigem Inhalt zu versenden, um diese Erstbegehungsgefahr wieder auszuräumen. Für einen hinreichenden actus contrarius müssen diese Schreiben bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung auch tatsächlich versandt werden. Vorliegend fehlt der Akt. Allein durch seine Ankündigung wird der Rechtsfrieden nicht wiederhergestellt. Denn die Intensität der gegenläufigen Handlung ist in aller Regel abhängig von der Intensität der Handlung, die die Erstbegehungsgefahr auslöst. Die Tat, also das Versenden der Schreiben, als Maßstab anzulegen, stellt für die Verfügungsbeklagten keine Unmöglichkeit dar. Angesichts der Positionierung der Kammer in der mündlichen Verhandlung hätten sie damit rechnen können, dass es auf diesen Aspekt ankommen könnte. Sie hätten, wenn sie die Erstbegehungsgefahr tatsächlich effektiv aus dem Weg räumen wollen, entsprechende Schreiben vorbereiten und in einer kurzen Unterbrechung der mündlichen Verhandlung versenden können.
117
Zum anderen ist nicht dargetan und für die Kammer auch nicht ersichtlich, dass durch den Inhalt der angekündigten gegenläufigen Schreiben, die zuvor durch die „Empfehlungsschreiben“ Annahme ausgeräumt werden könnte. Der Inhalt muss so gefasst sein, dass sie die durch die ersten Schreiben hervorgerufenen Fehlvorstellungen und unzutreffenden Erwartungen bei den angesprochenen Verkehrskreisen wieder korrigieren. Abzustellen ist hier auf die mit den „Empfehlungsschreiben“ benachrichtigten Ärzte und Apotheker. Als Empfänger der Schreiben sind sie die angesprochenen Verkehrskreise. Es ist maßgeblich auf ihr Verständnis abzustellen. Die zuvor bei ihnen hervorgerufene („getriggerte“) Vorstellung, … könne ebenfalls wie das Referenzprodukt zur Behandlung der übrigen drei seltenen Leiden eingesetzt werden, würde durch diese (angekündigte) Information lediglich insofern korrigiert werden, als die „Empfehlung“ (also eigentlich die Nichtempfehlung) zurückgenommen und durch die Angabe ersetzt wird, dass für die Indikationen
-
atypisches Hämolytisch-Urämisches Syndrom (aHUS) bis zum 29. November 2023,
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refraktäre generalisierte Myasthenia Gravis (gMG) bis zum 17. August 2027 und
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neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) bis zum 28. August 2029
in der Bundesrepublik Deutschland regulatorische Marktexklusivitätsrechte für Arzneimittel zur Behandlung seltener Leiden zu Gunsten der … bestehen. Die zuvor verursachte Vorstellung und Erwartungshaltung, … könne aus rein medizinischer … Sicht wie … eingesetzt werden, bleibt hiervon aber unberührt. Damit wird die durch die „Empfehlungsschreiben“ einmal vermittelte Gefahr nicht hinreichend „rückabgewickelt“, sondern der mit diesen Schreiben erreichbare Zustand bleibt hinter dem status quo ante zurück.
118
cc) Die nachterminliche Übersendung von Schreiben an die Empfänger der ursprünglichen „Empfehlungsschreiben“, in denen die Verfügungsbeklagten zur angekündigten Erklärung ähnliche Aussagen getroffen haben, lässt die begründete Erstbegehungsgefahr ebenso wenig entfallen.
119
Wegen § 296a ZPO kommt es auf das Vorbringen der Verfügungsklägerin nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung (Schriftsatz vom 12.07.2023) und das Vorbringen der Verfügungsbeklagten im Schriftsatz vom 24.07.2023 nicht an. Die Verfügungsklägerin bringt insoweit vor, die von den Verfügungsbeklagten abgegebene Erklärung seien rein prozesstaktisch gewesen. Entgegen der Ankündigung, die Schreiben unverzüglich zu versenden, hätten die Verfügungsbeklagten bis zum 12.07.2023 entsprechende Schreiben nicht verschickt, sondern sich lediglich mit einem „Formulierungsvorschlag“ (Anlage FBD43) erst spät am 10.07.2023 an die Vertreter der Verfügungsklägerin gewandt. Die Verfügungsbeklagten bringen in ihrem Schriftsatz vom 24.07.2027 vor, die inhaltlich gegenüber der Anlage FBD43 unveränderten Informationsschreiben seien durch die Verfügungsbeklagten zwischen 14.07.2023 und 17.07.2023 per E-Mail an jeden Empfänger der ursprünglichen, inkriminierten Information über … versandt worden (hinsichtlich des konkreten Adressaten teilgeschwärzte Kopie eines Schreibens = Anlage AG46).
120
Ein Grund, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen (§ 156 ZPO), besteht ebenfalls nicht. Zum einen war das Versenden der Schreiben ab dem 14.07.2023 nach Überzeugung der Kammer jedenfalls nicht mehr unverzüglich. Das Übermitteln entsprechender Schreiben hätte am Tag der mündlichen Verhandlung oder spätestens am darauffolgenden Werktag stattfinden müssen, um das angekündigte „unverzüglich“ zu erfüllen. Keinesfalls durften die Verfügungsbeklagten nach Erhalt der Antwort der Verfügungsklägerin zu dem Entwurf in Anlage FBD43 am 12.07.2023 weitere zwei Tage zuwarten, ehe sie die ihrem Entwurf entsprechenden Schreiben versandten. Zum anderen reicht der Erklärungsgehalt dieser Schreiben nicht aus, um die hervorgerufene Erstbegehungsgefahr hier auszuräumen (s.o.).
121
dd) Auch der Beschluss des G-BA zur Konkretisierung von § 129 Abs. 1 Satz 12 SGB V vom 15.06.2023 lässt die Erstbegehungsgefahr nicht (vollumfänglich) entfallen. Wenngleich schon nach dem Vorbringen der Verfügungsklägerin durch den Beschluss eine Substitution im Bereich der niedergelassenen Apotheker ausgeschlossen erscheint (dazu Schriftsatz der Verfügungsklägerin vom 06.07.2023, S. 3, 15 und entsprechende Antragsteilrücknahme am 07.07.2023), steht der Beschluss jedenfalls nicht einer indikationsübergreifenden Verwendung entgegen, wenn auf dem Rezept der Wirkstoff Eculizumab vermerkt ist (zu der Diskussion in der Sitzung).
122
5. Rechtsfolge ist eine Verpflichtung zu Unterlassung von Handlungen, die geeignet sind, eine adäquat kausale Ursache für eine Beeinträchtigung des Marktexklusivitätsrechts zu setzen, sowie zur Vornahme von Handlungen, die den Nichteintritt der drohenden Beeinträchtigung bewirken (Grüneberg-Herrler, § 1004 BGB Rn. 33 m.w.N.).
123
Wie oben im Rahmen der Erstbegehungsgefahr dargetan, hat das „Empfehlungsschreiben“ bei den benachrichtigten Ärzten und Apothekern eine bestimmte Annahme über die medizinische Einsatzmöglichkeiten von … hervorgerufen. Diese Annahme kann durch die bloße Unterlassung der Übersendung der Verwendungsempfehlung nicht beseitigt werden. Erforderlich sind daher Maßnahmen, die sicherstellen, dass die beteiligten Personenkreise … tatsächlich nicht auf eine Art und Weise einsetzen, die das Marktexklusivitätsrecht der Verfügungsklägerin beeinträchtigt. Daher schulden die Verfügungsbeklagten die tenorierten Handlungen. Begründungen für die einzelnen Maßnahmen und Einwendungen der Verfügungsbeklagten gegen einzelne Maßnahmen adressiert das Gericht im Rahmen der Interessenabwägung (unter III).
124
6. Da mithin ein Anspruch auf Unterlassung aus § 1004 Abs. 1, § 823 Abs. 1 BGB i.V. mit dem Marktexklusivitätsrecht der Verfügungsklägerin aus der Verordnung 141/2000 besteht, kommt es auf die weiteren geltend gemachten Anspruchsgrundlagen nicht an. Sollte dieser Anspruch jedoch nicht gegeben sein, bestünde jedenfalls der subsidiäre Anspruch der Verfügungsklägerin aus § 823 Abs. 1 BGB i.V. mit dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb.
125
III. Auch der Verfügungsgrund i.S. von §§ 935, 940 ZPO ist gegeben.
126
1. Der Erlass einer einstweiligen Verfügung setzt gemäß §§ 935, 940 ZPO eine objektiv begründete Gefahr voraus, dass die Rechtsverwirklichung des Verfügungsklägers mittels eines erst im Hauptsacheprozess erlangten Urteils vereitelt oder erschwert werden könnte. Dies verlangt zum einen eine für die Eilmaßnahme sprechende rein zeitliche Dringlichkeit und daneben eine Abwägung der widerstreitenden Interessen zwischen den dem Schutzrechtsinhaber ohne den Erlass der beantragten Verfügung drohenden Nachteilen, welche gegen die Interessen des als Verletzer in Anspruch genommenen Verfügungsbeklagten abgewogen werden müssen. Das Vorliegen eines Verfügungsgrundes ist gemäß §§ 936, 920 Abs. 2 ZPO seitens des Verfügungsklägers darzulegen und glaubhaft zu machen (OLG München GRUR-RS 2021, 12272 Rn. 47 – Cinacalcet; LG München I GRUR 2022, 1808 Rn. 62 – Fingolimod; vgl. Voß, in: Cepl/Voß, Prozesskommentar zum Gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht, 3. Aufl. 2022, § 940 Rn. 64 f.).
127
2. Zeitliche Dringlichkeit ist gegeben.
128
a) Die erforderliche zeitliche Dringlichkeit ist grundsätzlich zu verneinen, wenn der Antragsteller/Verfügungskläger mit der Rechtsverfolgung ohne sachlichen Grund zu lange zögert, weil er in diesen Fällen selbst zu erkennen gibt, dass er nicht derart eilig auf das begehrte Verbot angewiesen ist, dass es ihm nicht zugemutet werden könnte, sein Rechtsschutzziel in einem Hauptsacheverfahren durchzusetzen. Die dabei nach ständiger Rechtsprechung im Bezirk des Oberlandesgerichts München im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes zu wahrende einmonatige Dringlichkeitsfrist wird in Lauf gesetzt, wenn der Antragsteller/Verfügungskläger Kenntnis von der fraglichen Verletzungshandlung und dem hierfür Verantwortlichen hat und er alle Informationen und Glaubhaftmachungsmittel besitzt, um mit Aussicht auf Erfolg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung stellen zu können (vgl. OLG München GRUR 2020, 385 Rn. 60 – Elektrische Anschlussklemme; GRUR-RS 2021, 12272 Rn. 49 – Cinacalcet).
129
b) Die zeitliche Dringlichkeit ist danach eingehalten. Die Verfügungsklägerin erlangte unstreitig am 28.04.2023 Kenntnis davon, dass die Verfügungsbeklagtenseite den Markteintritt in der Bundesrepublik Deutschland plant. Am 11.05.2023 erfuhr sie von der Listung der angegriffenen Ausführungsform in der Lauer-Taxe zum 15.05.2023. Die Antragstellung am 17.05.2023 lässt insoweit keine Selbstwiderlegung erkennen.
130
3. Die bei der Prüfung des Verfügungsgrundes vorzunehmende umfassende Interessenabwägung fällt zu Gunsten der Verfügungsklägerin aus.
131
a) Abzuwägen sind die dem Schutzrechtsinhaber ohne den Erlass der beantragten Verfügung drohenden Nachteilen und die Interessen des als Verletzer in Anspruch genommenen Verfügungsbeklagten.
132
b) Auf Seiten der Verfügungsklägerin ist zu berücksichtigen, dass sie das ihr zustehende Marktexklusivitätsrecht ausüben können darf und dem entsprechend gegen Maßnahmen, die geeignet sind, adäquat kausale Bedingungen für eine Umgehung des Marktexklusivitätsrechts setzen, vorgehen können muss.
133
Auf Seiten der Verfügungsbeklagten ist in die Interessenabwägung einzustellen, dass indikationsübergreifende Verschreibungen und Verwendungen nicht grundsätzlich verboten sind. Gleichwohl müssen Unternehmen die bestehenden Rechte ihrer Wettbewerber respektieren und dürfen keine Bedingungen für eine Umgehung der bestehenden Rechte setzen. Auch insoweit der Gesetzgeber Wettbewerb im Bereich der seltenen Leiden wünscht, darf dieser Wettbewerb nicht zu einer Umgehung bestehender Rechte führen (zu Widerspruchsbegründung, S. 36). Die von der Verfügungsklägerin an Kunden versendete Schreiben (Anlage AG28) haben keinen Einfluss auf die Interessenabwägung. Insbesondere lassen sie das Interesse der Verfügungsklägerin an einer Information seitens der Verfügungsbeklagten nicht entfallen. Denn eine Information der Wettbewerber wiegt schwerer als eine Information des Rechtsinhabers (zu Widerspruchsbegründung, S. 37 f., Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 43).
134
Dass eine off label-Verwendung aus sozialrechtlichen Gründen praktisch ausgeschlossen ist, ist hier nicht anzunehmen, wie oben dargetan (zu Widerspruchsbegründung, S. 38).
135
Ebenso wenig stehen mögliche Schäden und Nachteile der Verfügungsbeklagten der grundsätzlichen Bestätigung der einstweiligen Verfügung entgegen. Der Markteintritt als „first mover“ kann der grundsätzlich zu berücksichtigenden Rechtsposition der Verfügungsklägerin nicht erfolgreich entgegengehalten werden. Des Weiteren geht die Verfügungsklägerin auch gegen einen weiteren Wettbewerber nunmehr vor. Im Verhältnis zu der Verfügungsklägerin vermag ein möglicher Schaden ebenso wenig eine Beeinträchtigung der Rechtsposition der Verfügungsklägerin rechtfertigen. Das gilt ebenso, soweit die Verfügungsklägerin versucht, Eculizumab-Patienten auf ein anderes Präparat der Verfügungsklägerin umzustellen (zu dem Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 41, 46). Ebenso wenig ist eine mögliche indikationsbezogene Verlängerung des Marktexklusivitätsrechts von Belang (zu dem Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 42). Die Geltendmachung der Verletzung von Rechtspositionen stellt hier auch keinen Missbrauch einer (einmal unterstellten) marktbeherrschenden Position der Verfügungsklägerin dar. Denn die Verfügungsbeklagten haben die Ursache des beeinträchtigenden Umstands durch ihre Verwendungsempfehlung selbst gesetzt (zu dem Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 50 ff.).
136
Ebenso wenig liegt eine Vorwegnahme der Hauptsache vor. Gegenstand des einstweiligen Verfügungsverfahrens und des späteren Hauptsacheverfahrens sind nicht identisch. Durch die einstweilige Verfügung wird die begehrte Unterlassung nur zeitweise ausgesprochen. Soweit hier im Übrigen eine Vorwegnahme der Hauptsache eintreten könnte, wäre dies wegen der besonderen Dringlichkeit zulässig. Wenn der Gläubiger derart dringend auf Erfüllung angewiesen ist, dass ihm ein Zuwarten oder eine Verweisung auf das ordentliche Verfahren nicht zuzumuten ist, ist eine sog. Leistungsverfügung zulässig (Anders/Gehle/Becker ZPO § 940 Rn. 13 m.w.N.; BeckOK ZPO/Mayer ZPO § 935 Rn. 5 m.w.N.). Das wäre hier der Fall.
137
Die Möglichkeit, gegen die Zulassungsbehörden oder Dritte vorzugehen, lässt nicht das Interesse entfallen, gegen die Verfügungsbeklagten vorzugehen. In den Grenzen des Kartellrechts (s.o.) hat die Verfügungsklägerin die Wahl, gegen welchen von mehreren möglichen Anspruchsgegnern sie vorgeht (zu dem Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 43/44).
138
Der Umstand, dass die Verfügungsbeklagten nur einen adäquat-kausalen Beitrag zu einer Beeinträchtigung leisten, und erst bei Hinzutreten einer weiteren Handlung eines Dritten eine Beeinträchtigung erfolgen kann, ist bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen, führt aber nicht zu einem anderen Ergebnis (zu Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 44). Die Verfügungsbeklagten werden nur verpflichtet, Maßnahmen einzuhalten, die geeignet sind, dem eigenen Beitrag der Verfügungsbeklagten zu einer möglichen Beeinträchtigung entgegenzuwirken.
139
c) Soweit tenoriert, entspricht die Verfügung der Abwägung der Interessen beider Seiten. Der Tenor ist weder unbestimmt noch unmöglich zu vollziehen.
140
aa) Die Formel eines Urteils muss aus sich heraus verständlich sein, wobei zur Bestimmung des Inhalts ausnahmsweise auf Tatbestand und Entscheidungsgründe zurückgegriffen werden darf (MüKoZPO/Musielak ZPO § 313 Rn. 11 m.w.N.; Zigann/Werner in: Cepl/Voß, Prozesskommentar Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, 3. Auflage 2022, § 313 Rn. 4 f.). Gleiches gilt grundsätzlich für den Unterlassungstenor und im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.
141
Eine objektive oder subjektive Unmöglichkeit einer titulierten Handlung kann die Verhängung eines Zwangsgeldes ausschließen. Gleiches trifft für Ordnungsgelder zu. So ist die Zwangsvollstreckung wegen einer nicht vertretbaren Handlung i. S. von § 888 Abs. 1 ZPO jedoch zum Beispiel grundsätzlich nicht schon dann ausgeschlossen, wenn ein Dritter an der Handlung mitwirken muss. Die Festsetzung von Zwangsgeld oder Zwangshaft bzw. von Ordnungsgeld und Ordnungshaft ist nur dann nicht möglich, wenn eindeutig feststeht, dass der Vollstreckungsschuldner – erfolglos – alle zumutbaren Maßnahmen einschließlich eines gerichtlichen Vorgehens unternommen hat, um den Dritten zur Duldung der vorzunehmenden Handlung zu veranlassen. Die Voraussetzungen für diesen Ausnahmetatbestand hat der Vollstreckungsschuldner im Einzelnen darzulegen (zum Ganzen BGH BeckRS 2009, 4810, Rn. 13 m.w.N.).
142
bb) Nach diesem Maßstab entspricht der Tenor dem Ergebnis einer umfänglichen Interessenabwägung unter Berücksichtigung der oben genannten Interessen beider Seiten. Er ist weder unbestimmt noch unmöglich zu vollziehen.
143
(1) Ziffer I.1.1.a) des Tenors ist vor dem Hintergrund der durch die Verwendungsempfehlung hervorgerufenen Annahme der Adressaten, … sei aus medizinischer Sicht wie … einsetzbar, bei der Abwägung der beiderseitigen Positionen interessengerecht und wahrt die Vertragsfreiheit sowie die Therapiehoheit. Die Therapiehoheit darf nicht so weit reichen, Rechte anderer Personen zu beeinträchtigen. Durch die Änderung im Antrag seitens der Verfügungsklägerin ist klargestellt, dass medizinischen Notwendigkeiten Sorge getragen werden darf. Welche Maßnahmen wirksam sind, lässt der Tenor bewusst offen, um den Verfügungsbeklagten Spielraum zu lassen, ihren Verpflichtungen nachzukommen (zu S. 65/66 des Schriftsatzes der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023).
144
Die Bezugnahme der Verfügungsbeklagten auf die Entscheidung des BGH GRUR 2007, 679, 685, Rn. 52 – Haubenstretchautomat in der Sitzung am 07.07.2023 führt zu keinem anderen Ergebnis. Durch die Tenorierung kommt es nicht wirtschaftlich zu einem Verbot der angegriffenen Ausführungsform. Die Verfügungsbeklagten behaupten zwar, dass kein Vertragspartner etwaige Einschränkungen tolerieren würde, haben hierzu aber keine konkreten Tatsachen benannt oder glaubhaft gemacht. Des Weiteren liegen wegen der Verwendungsempfehlung hier die vom BGH adressierten besonderen Umstände vor (zu Widerspruchsbegründung, S. 32, S. 56/57 des Schriftsatzes der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023 und zu der Diskussion in der Sitzung).
145
Der in § 52 b AMG normierte Lieferanspruch besteht per se nur in den Grenzen anderer anwendbarer Gesetze. Über § 52 b AMG kann keine patentverletzende Lieferverpflichtung begründet werden. Ebenso wenig kann eine Pflicht bestehen, eine gegen das Marktexklusivitätsrecht verstoßende Lieferung durchzuführen (zu Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 58, und Diskussion in der Sitzung).
146
(2) Nach Ziffer I.1.1.b) des Tenors dürfen Lieferungen von Arzneimitteln enthaltend Eculizumab nur erfolgen, sofern durch geeignete Maßnahmen überprüft und nachgehalten wird, dass der/die Vertragspartner die Verpflichtung gemäß lit. a) beachten. Auch diese Maßnahme ist vor dem Hintergrund der durch die Verwendungsempfehlung hervorgerufenen Annahme der Adressaten, … sei aus medizinischer Sicht wie … einsetzbar, bei der Abwägung der beiderseitigen Positionen geboten.
147
Wie der Nachweis erfolgt, lässt der Beschluss (bewusst und dem Antrag folgend) offen. Hierdurch wird er nicht unbestimmt, sondern lässt den Verfügungsbeklagten Spielraum, ihren Verpflichtungen auf angemessene Weise nachzukommen. Ihre Maßnahmen müssen geeignet sein, um die Einhaltung der in Ziffer I.1.1.a des Tenors der Beschlussverfügung genannten Verpflichtungen nachzukommen (zu S. 31 Widerspruchsbegründung). Möglich erscheint der Kammer zum Beispiel etwa eine Bestätigung des Arztes, ohne Bezugnahme auf konkrete Patienten (siehe insoweit Stellungnahme der Verfügungsklägerin vom 12.06.2023, S. 27). Daher ist auch eine Umsetzung möglich, ohne gegen Datenschutzvorgaben zu verstoßen (zu Widerspruchsbegründung, S. 32).
148
Soweit die Verfügungsbeklagten die Bezugnahme auf „in anderen (…) Indikationen“ monieren, hat die Kammer den Tenor klarstellend umformuliert. Es handelt sich um ein Beispiel, wie der Nachweis erfolgen könnte. Den Verfügungsbeklagten sollen keine Nachweise über die Verwendung in anderen Indikationen auferlegt werden, der Nachweis dient vielmehr der Entlastung.
149
(3) Ziffer I.1.1.c) des Tenors wurde im Vergleich zu der Beschlussverfügung entsprechend dem am 07.07.2023 geänderten Antrag der Verfügungsklägerin gestrichen (zu Widerspruchsbegründung, S. 32 und dem Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023 S. 67/68).
150
(4) Ziffer I.1.2 des Tenors verpflichtet die Verfügungsbeklagten, Hinweise auf der Website und bei Abruf oder Abgabe von Informationsmaterialien für den deutschen Markt der Verfügungsbeklagten betreffend … bereitzustellen, dass für die Verwendung von Eculizumab in den unter Ziffer I.1.1. genannten Indikationen regulatorische Marktexklusivitätsrechte für Arzneimittel zur Behandlung von seltenen Leiden bestehen. Diese Maßnahme ist mit Blick auf die durch das Empfehlungsschreiben hervorgerufene Erwartungshaltung der beteiligten Kreise geboten.
151
Der Tenor wurde in Ziffer I.1.2. dem Antrag der Verfügungsklägerin folgend eingeschränkt, so dass eine Änderung der durch das Paul-Ehrlich-Institut zugelassenen Unterlagen nicht erforderlich ist. Dem Tenor kann nun entsprochen werden, indem begleitende Informationen zur Verfügung gestellt werden (zu Widerspruchsbegründung, S. 32 ff., Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 68).
152
(5) Ziffer I.1.3. des Tenors verpflichtet die Verfügungsbeklagten, Informationsschreiben an Krankenhäuser zur Weiterleitung an Ärzte zu verwenden. Der Tenor wurde in Ziffer I.1.3. zugunsten der Verfügungsbeklagten insoweit eingeschränkt, als die Schreiben nur zur Weiterleitung an Ärzte in bestimmten Bereichen erforderlich sind.
153
Diese Maßnahme ist ebenfalls bei der erforderlichen Interessenabwägung geboten. Die Kammer unterstellt den Vortrag der Verfügungsbeklagten, sie habe die an Ärzte versandte Verwendungsempfehlung nur an Hämatologen adressiert (Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 06.07.2023, S. 1/2), und bewerbe die angegriffene Ausführungsform nur bei Hämataologen (S. 62 ff. des Schriftsatzes der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, Anlage AG43) an dieser Stelle als richtig. Darüber hinaus hat sie indes auch Apotheker angesprochen. Sofern daher beispielsweise ein im Bereich der Nephrologie tätiger Arzt ein Rezept über den Wirkstoff Eculizumab ausstellt, kann es zu einer indikationsübergreifenden Verwendung kommen, wenn ein Apotheker daraufhin die angegriffene Ausführungsform ausgibt und sie im Folgenden in einer durch die Marktexklusivität der Klägerin geschützten Indikation zum Einsatz kommt.
154
Entgegen der Auffassung der Verfügungsbeklagten in der Widerspruchsbegründung stellt die nach Ziffer I.1.3. angeordnete Information keinen rechtswidrigen Eingriff in die Therapiehoheit und Therapiefreiheit der behandelnden Ärzte dar. Das in Ziffer I.1.3. adressierte Informationsschreiben soll die angesprochenen Ärzte wegen der bestehenden Marktexklusivität zugunsten der Verfügungsklägerin lediglich zu einer bestimmten Verschreibungspraxis auffordern (zu S. 34 Widerspruchsbegründung) und damit den Verfügungsbeklagten das ihnen Mögliche abverlangen, um dieses Recht der Verfügungsklägerin zu wahren. Grundlage für die Information von Ärzten aus anderen Fachbereichen ist die durch die Verwendungsempfehlung „getriggerte“ drohende Beeinträchtigung des Marktexklusivitätsrechts der Verfügungsklägerin. Durch die Einschränkung des Tenors ist im Übrigen die Verpflichtung der Verfügungsbeklagten bereits deutlich reduziert.
155
Eine Umsetzung des Tenors kann derart erfolgen, dass gegen datenschutzrechtliche Anforderungen nicht verstoßen wird (zu S. 34 der Widerspruchsbegründung). Insbesondere kann eine Anonymisierung erfolgen.
156
Der Kammer ist bewusst, dass die Verfügungsbeklagten das Marktexklusivitätsrecht der Verfügungsklägerin einerseits, andererseits die Voraussetzungen des § 3 a HWG zu wahren haben. Die Kammer verkennt ebenso wenig, dass die Nennung einer Indikation, für die ein Medikament zugelassen ist, den Verschreiber gerade dazu bringen kann, eine indikationsübergreifende Verschreibung vorzunehmen. Aufgrund der bereits erfolgten Verwendungsempfehlung die genau eine solche Wirkung auf den Verschreiber haben kann, setzt ein gegenläufiger Akt zu der Verwendungsempfehlung indes eine konkrete, die Situation näher aufklärende Information voraus (zu dem Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023, S. 61 ff.).
157
Der Tenor wurde in Ziffer I.1.3. des Weiteren dahingehend geändert, dass die Formulierung statt „nur …“ nunmehr „nicht …“ lautet. Daher liegt insoweit kein Eingriff in die Wettbewerbsfreiheit der Verfügungsbeklagten vor. Auch die „aut idem“-Formulierung wurde ersetzt.
158
(6) In Ziffer I.1.4. wurde der Tenor ebenfalls zugunsten der Verfügungsbeklagten eingeschränkt (zu S. 70 des Schriftsatzes der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023). Soweit nunmehr tenoriert, ist er auch bei umfassender Interessenabwägung geboten.
159
(7) Gleiches gilt für Ziffer I.1.5. (zu S. 70/71 des Schriftsatzes der Verfügungsbeklagten vom 03.07.2023). Den Bedenken der Verfügungsbeklagten folgend hat die Kammer den Tenor im Vergleich zu der Beschlussverfügung umformuliert.
160
(8) In Ziffer I.2. ist die Möglichkeit der Anonymisierung klarstellend aufgenommen (zu S. 34 der Widerspruchsbegründung). Soweit tenoriert, ist die Maßnahme geboten. Im Übrigen (d.h., soweit die Anonymisierung im Tenor der Beschlussverfügung nicht explizit adressiert war) war die Verfügung vom 22.05.2023 daher aufzuheben. Was „genau“ bedeutet, wird im Gesamtkontext des Urteils deutlich: Die Angaben müssen so genau sein, dass den Zwecken der Angabe Genüge getan werden kann.
161
IV. Auf die Frage, ob sich ein Verfügungsanspruch ebenso aus einer Verletzung des europäischen Patents 2 894 165 ergeben könnte, kommt es nicht mehr an. Im Falle einer Patentverletzung würden sich jedenfalls keine Ansprüche ergeben, die über die hier tenorierten hinausgehen.
D.
162
I. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1, § 92, § 100 ZPO. Soweit die Verfügungsklägerin den Antrag zum Teil zurückgenommen hat, hat die ursprünglich weitergehende Forderung keine höheren Kosten ausgelöst.
163
II. Die Kammer sieht keine Veranlassung, die Vollziehung der einstweiligen Verfügung von einer Sicherheitsleistung abhängig zu machen. Anlass zur Anordnung einer Sicherheitsleistung besteht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes i.d.R. nur, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein etwaiger Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte nicht realisiert werden kann (OLG München, Urt. vom 28.06.2012 – 6 U 1560/12, BeckRS 2013 – Hydrogentartrat, 14928; LG München I, Urt. vom 24.6.2016 – 21 O 5583/16, GRUR-RS 2016, 11707). Solche Anhaltspunkte sind weder vorgetragen noch für die Kammer erkennbar (zu Schutzschrift, S. 92).
164
III. Der Antrag der Verfügungsbeklagten vom 31.05.2023, der Verfügungsklägerin gemäß § 142 ZPO aufzugeben, sämtliche Verlautbarungen entsprechend Anlage AG28 an Kunden vollständig vorzulegen und sich dazu zu erklären, wem gegenüber und in welcher Gesamtzahl diese erfolgt sind, ist abzulehnen.
165
1. Nach § 142 Abs. 1 S. 1 ZPO kann das Gericht anordnen, dass eine Partei oder ein Dritter die in ihrem oder seinem Besitz befindlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, auf die sich eine Partei bezogen hat, vorlegt. Die richterlichen Maßnahmen nach den §§ 142-144 können erstens den Zweck verfolgen, undeutliches oder lückenhaftes Tatsachenvorbringen der Parteien zu klären. Sie können zweitens der Feststellung bestrittener Behauptungen dienen (MüKoZPO/Fritsche ZPO §§ 142-144 Rn. 1 m.w.N.). Das Gericht darf die Urkundenvorlage nicht zum bloßen Zwecke der Informationsgewinnung, sondern nur bei Vorliegen eines schlüssigen, auf konkrete Tatsachen bezogenen Vortrags der Partei anordnen (BeckOK ZPO/von Selle ZPO § 142 Rn. 1 m.w.N.).
166
2. Hier liegen die Voraussetzungen einer Anordnung der Urkundenvorlage nicht vor.
167
Soweit die Verfügungsbeklagten meinen, das Schreiben sei wettbewerbswidrig, ist dies nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits und daher nicht relevant. Des Weiteren ist der vorgetragene Inhalt insoweit unstreitig. Die Schreiben seitens der Verfügungsklägerin ist nicht geeignet, die mit der Beschlussverfügung angeordneten Maßnahmen teilweise umzusetzen und lassen nicht das Rechtsschutzbedürfnis der Verfügungsklägerin für ihr Vorgehen entfallen. Denn es ist für den Empfänger eines solchen Schreibens relevant, ob es von dem Inhaber eines geschützten Rechts oder von einem Wettbewerber desselben stammt. Einem Schreiben von letzterem kommt mehr Gewicht zu. Schließlich ist der Inhalt des Schreibens unstreitig und die weiteren geforderten Angaben für einen Vergleich mit dem von der Verfügungsklägerin verfolgten Unterlassungstenor sind nicht erforderlich.