Titel:
Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt wegen Straffälligkeit
Normenkette:
FreizügG/EU § 2 Abs. 1, § 4a, § 6
Leitsätze:
1. Der Begriff der „schwerwiegenden Gründe“ iSv § 6 Abs. 4 FreizügG/EU ist weder in der Freizügigkeits-Richtlinie noch im FreizügG/EU erläutert. Nach Nr. 6.4.1 AVV zum FreizügG/EU liegen „schwerwiegende Gründe“ insbesondere bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen vor, wenn der Betroffene wegen eines einzelnen Delikts rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt und die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)
2. Durch das Tatbestandsmerkmal „schwerwiegend“ wird an das geschützte Rechtsgut angeknüpft, so dass gesteigerte Anforderungen an das berührte Grundinteresse der Gesellschaft zu stellen sind. Ausreichend ist insoweit eine konkrete Wiederholungsgefahr. Dies ist insbesondere bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen anzunehmen. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei gewichtigeren Straftaten reicht eine geringere Wahrscheinlichkeit der erneuten Straftatbegehung aus, um eine solche Gefährdung zu begründen. Aus den verwertbaren Straftaten sowie den sonstigen hinzutretenden Umständen ist also prognostisch abzuleiten, wie hoch auf Seiten des Betroffenen das Risiko der Begehung erneuter Straftaten und damit erneuter Verstöße gegen die öffentliche Ordnung ist. (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)
4. Diese Feststellung erfordert eine zum maßgeblichen Zeitpunkt aktuelle Gefahrenprognose. Dabei sind alle relevanten Umstände des Einzelfalls einzubeziehen, insbesondere die einer strafrechtlichen Verurteilung zugrundeliegenden Umstände, die Entwicklung des Betroffenen nach der Tat, seine Persönlichkeit und seine Lebensumstände sowie das Gewicht der in Rede stehenden Rechtsgüte. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
FreizügG/EU, Staatsangehörigkeit: Rumänien, Verlustfeststellung wegen Straffälligkeit, Diebstahlsdelikte, Einzelfreiheitsstrafe unter drei Jahren, Schwerwiegende Gründe (verneint)
Fundstelle:
BeckRS 2023, 23449
Tenor
I. Der Bescheid der Beklagten vom 07.01.2023 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach dem FreizügG/EU.
2
Der Kläger ist am … … 1988 geboren und rumänischer Staatsangehöriger.
3
In Rumänien hat der Kläger elf Jahre lang die Schule besucht. Nach seinem Schulabschluss ging er nach Slowenien, um dort zu arbeiten. Nach seiner Rückkehr nach Rumänien im Jahr 2007 oder 2008 wurde er dort wegen Diebstahlsdelikten verhaftet. Nach seiner Haftentlassung zog er zu seiner Mutter nach Italien. Dort wurde er 2009 wegen Diebstahlstaten zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt und kehrte im selben Jahr nach Rumänien zurück.
4
Der Kläger reiste am … … 2011 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland ein.
5
In Deutschland arbeitete er zunächst als Küchenhilfe und Aushilfskoch.
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Mit Strafbefehl vom 11. Februar 2014, Az. Cs 263 Js 221572/13, rechtskräftig seit 17. Juni 2014, wurde der Kläger wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Geldstrafe von 130 Tagessätzen in Höhe von 30,00 EUR verurteilt.
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Ab Mai 2017 war der Kläger nicht mehr beruflich tätig.
8
Am 18. Dezember 2017 wurde der Kläger erneut straffällig, indem er das Fenster eines Juweliergeschäfts einschlug und drei Schmuckstücke im Gesamtwert von ca. 4.750 EUR entwendete. Die Tat geschah unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln.
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Ab dem 18. Dezember 2017 befand sich der Kläger in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt München.
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Am … … 2018 wurde seine Tochter geboren.
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Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 28. März 2018, Az. 841 Ds 266 Js 226022/17, rechtskräftig seit dem 28. März 2018, wurde der Kläger wegen Diebstahls im besonders schweren Fall in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung verurteilt und aus der Untersuchungshaft entlassen.
12
Am 30. Mai 2018 entwendete der Kläger aus dem Keller eines Anwesens eine Kamera sowie Kamerazubehör im Gesamtwert von ca. 1.500 EUR. Entdeckt durch den Geschädigten verletzte er diesen auf seiner Flucht, die er ohne Beute fortsetzte.
13
Am 27. Juni 2018 wurde der Kläger erneut straffällig, indem er versuchte, Fahrräder aus einer Tiefgarage zu entwenden. Bei seiner anschließenden Festnahme führte er Betäubungsmittel mit sich. Zu einem nicht mehr genau bestimmbaren Zeitpunkt zwischen Ende Juni 2018 und 13. August 2018 verschaffte sich der Kläger ein gestohlenes oder in anderer rechtswidriger Tat erlangtes Fahrrad. Am 13. August 2018 versuchte der Kläger in einem Hinterhof die Schlösser mehrerer Fahrräder aufzubrechen. Bei seiner anschließenden Festnahme führte er Betäubungsmittel mit sich. Die Taten wurden in offener Bewährung begangen.
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Ab dem 13. August 2018 befand sich der Kläger in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt München.
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Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 18. Dezember 2018, Az. 1116 Ds 259 Js 179837/18, rechtskräftig seit dem 22. Februar 2019 wurde der Kläger wegen versuchten Diebstahls in einem besonders schweren Fall in zwei Fällen und Tatmehrheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in zwei Fällen in Tatmehrheit mit gewerbsmäßiger Hehlerei zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt.
16
Ab dem 22. Februar 2019 befand sich der Kläger in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt München.
17
Mit Urteil des Landgerichts München I vom 4. September 2019, Az. 3 KLs 259 Js 219277/18, rechtskräftig seit 4. September 2019 wurde der Kläger wegen räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts München vom 18. Dezember 2018, Az. 1116 Ds 259 Js 179837/18 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.
18
Am 22. Oktober 2019 wurde der Kläger von der Justizvollzugsanstalt München zur Unterbringung nach § 64 StGB in das kbo Isar-Amper-Klinikum München Ost verlegt.
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Mit Schreiben der Beklagten vom 12. November 2019 wurden der Kläger sowie seine damalige Lebensgefährtin zur beabsichtigten Verlustfeststellung angehört.
20
Die Lebensgefährtin des Klägers teilte mit, dass er kein Sorgerecht für die gemeinsame Tochter habe. Bisher habe er aufgrund der Inhaftierungen und seiner Drogenprobleme auch keinen Unterhalt geleistet. Nach seiner Haftentlassung und vor der erneuten Inhaftierung habe er mit ihnen zusammengewohnt und sich gut um die Tochter gekümmert. Während der Haft besuche sie ihn häufig mit der Tochter, dies sei dem Kläger auch wichtig. Sie setze große Hoffnungen in eine Therapie und bitte um eine Chance, um nach der erfolgreichen Therapie in Deutschland ein gemeinsames Leben führen zu können.
21
Der Kläger reichte keine Stellungnahme ein.
22
Mit Bescheid vom 7. Januar 2020 stellte die Beklagte fest, dass der Kläger sein Recht auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland verloren habe (1.). Sie untersagte dem Kläger die Wiedereinreise und den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot für das Bundesgebiet auf sieben Jahre ab Ausreise (2.). Der Kläger wurde aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb eines Monats nach Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht zu verlassen, für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde zudem die Abschiebung nach Rumänien oder einen anderen aufnahmebereiten oder zur Rückübernahme verpflichteten Staat angedroht (3.). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt, dass sich der Kläger seit … … 2011 ununterbrochen rechtmäßig in Deutschland aufhalte und somit ein Daueraufenthaltsrecht erworben habe. Gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU dürfe der Verlust seines Rechtes auf Einreise und Aufenthalt dementsprechend nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung festgestellt werden. Diese Voraussetzung liege aufgrund der Verurteilung vom 4. September 2019 vor. Zugunsten des Klägers habe das Gericht gewertet, dass er den Sachverhalt zumindest teilweise eingeräumt habe und der Geschädigte lediglich leichte Verletzungen erlitten habe. Durch die Tat sei letztlich kein materieller Schaden entstanden und der Kläger sei durch den Drogenkonsum vor der Tat enthemmt gewesen. Zu seinen Lasten seien vorliegend die Vorstrafen zu berücksichtigen gewesen. Sowohl in Deutschland als auch in Rumänien sei der Kläger nicht unerheblich einschlägig vorgeahndet gewesen. Er sei zudem aufgrund der Verurteilung durch das Amtsgericht München vom 28. März 2018 bei Tatbegehung unter offener Bewährung gestanden. Angesichts der massiven kriminellen Energie könne nicht davon ausgegangen werden, dass die jetzige Erfahrung mit dem Strafvollzug den Kläger künftig abschrecke. Die Beklagte sehe eine konkrete Gefahr weiterer Straftaten nach der Haftentlassung, insbesondere von Diebstahlsstraftaten, zu deren Durchführung der Kläger notfalls auch zur Gewalt greife. Der Kläger begehe gewohnheitsmäßig Diebstähle. Aufgrund der langjährigen Alkoholabhängigkeit und der Abhängigkeit von Metamphetamin sei eine konkrete Gefahr weiterer Straftaten gegeben. Der Kläger sei betäubungsmittel- und alkoholabhängig und habe sich den Lebensunterhalt und den Betäubungsmittelkonsum zuletzt durch Straftaten finanziert. Die Wahrscheinlichkeit erneuter Straftaten sei hoch. Dass der Kläger im Rahmen der Unterbringung eine Therapie absolviere, ändere nichts an der konkret bestehenden Wiederholungsgefahr. Ein erfolgreicher Abschluss der Therapie sei derzeit nicht absehbar, zumal es nur wenigen Menschen gelinge, sich dauerhaft von einer tief verfestigten mit Beschaffungskriminalität einhergehenden Suchtmittelabhängigkeit zu lösen. Jedenfalls bis zum erfolgreichen Abschluss einer entsprechenden Therapie sei von einem fortgesetzten Suchtmittelkonsum auszugehen, welcher hauptursächlich für die wiederholte Straffälligkeit gewesen sei. Bei der Ermessensabwägung kämen folgende Gesichtspunkte in Betracht: Der Kläger habe eine Straftat begangen, die das Strafgericht zum Anlass genommen habe, eine Freiheitsstrafe von drei Jahren zu verhängen. Die von ihm begangene Straftat sei im Bereich der Schwerkriminalität anzusiedeln. Der Kläger sei erst mit 22 Jahren in das Bundesgebiet eingereist und habe die meiste Zeit seines Lebens in seinem Heimatland verbracht. Es sei ihm zuzumuten, sich in Rumänien wieder zurechtzufinden. Ihm seien sowohl die Lebensverhältnisse als auch die Sprache geläufig, sodass er sich dort problemlos wieder eingliedern könne. Der Kläger habe im Bundesgebiet eine Tochter. Für das Kindeswohl wäre es optimal, beide Elternteile als Ansprechpartner greifbar zu haben. Derzeit könne jedoch von einer besonderen familiären Bindung nicht ausgegangen werden. Zum Zeitpunkt der Geburt der Tochter habe sich der Kläger in Untersuchungshaft befunden. Zwei Monate später sei er entlassen worden und wieder in Haft gekommen, als die Tochter sechseinhalb Monate alt gewesen sei. Wegen der Inhaftierung sei kein familiäres Zusammenleben und nur ein sehr eingeschränkter Kontakt möglich. Das Kind sei es seit über einem Jahr gewohnt, ohne die Anwesenheit des Vaters bei der Mutter zu leben. Die Trennung stelle für das Kind keine außergewöhnliche Härte, sondern die normale und gewohnte Lebenssituation dar. Den Kontakt könne der Kläger nach seiner Ausreise telefonisch, per Brief oder digital aufrechterhalten. Bei der Bestimmung der Länge der Frist des Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbots sei wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter (Eigentum und körperliche Unversehrtheit) und der festgestellten hohen Wiederholungsgefahr auch im Hinblick auf die familiären und persönlichen Bindungen im Bundesgebiet (Tochter und Lebensgefährtin) ein Zeitraum von sieben Jahren für erforderlich gehalten worden. Vor dem Hintergrund der Rückfallgefahr bei den verübten Straftaten sei nicht zu erwarten, dass die maßgebliche Gefahrenschwelle vor Ablauf der festgesetzten Frist unterschritten werde.
23
Der Bescheid wurde dem Kläger mittels Postzustellungsurkunde am 9. Januar 2020 zugestellt.
24
Mit Schriftsatz vom 10. Februar 2020, am selben Tag bei Gericht eingegangen, erhob der Bevollmächtigte des Klägers Klage und beantragte,
25
den Bescheid der Landeshauptstadt München, Kreisverwaltungsreferat als Ausländerbehörde, vom 07.01.2020, Az. 162141484102 aufzuheben.
26
Zur Begründung ist ausgeführt, dass die Ausländerbehörde vorliegend schon das Vorliegen einer konkreten Wiederholungsgefahr fehlerhaft bejaht habe. Die Behörde stütze die Prognose hinsichtlich einer Wiederholung auf die Tatsache, dass der Kläger bereits zwei weitere Male wegen Diebstahlsdelikten verurteilt worden sei. Bei der Prognoseentscheidung übersehe die Behörde jedoch, dass der Kläger die Diebstahlsdelikte, wie auch das letzte begangene Delikt aufgrund des Suchtdrucks seiner Drogensucht begangen habe. Ganz entscheidend sei daher die Tatsache, dass sich der Kläger derzeit in der gerichtlich angeordneten Drogen- und Alkoholtherapie befinde. Diese Tatsache habe die Behörde in die Prognoseentscheidung zwar einbezogen, aber schlicht festgestellt, dass sich dadurch die Einschätzung nicht ändere. Dieses Ergebnis sei fehlerhaft, denn bei einer Prognose müsse eruiert werden, ob die betroffene Person im konkreten Fall in Zukunft Straftaten begehen werde. Wenn die Behörde festgestellt habe, dass das Motiv zur Begehung der Straftat die Drogensucht gewesen sei und dies auch das Motiv für die vorherigen Diebstähle gewesen sei, könne die Tatsache, dass diese Sucht aktuell therapiert werde, nicht ohne weitere Begründung zum gleichen Ergebnis führen. Durch die Therapie werde gerade das Motiv zur Begehung der Straftaten aus der Vergangenheit beseitigt. Zudem werde durch die gerichtliche Anordnung sichergestellt, dass der Kläger die stationäre Therapie bis zu deren Beendigung absolviert. Ein vorzeitiges Abbrechen sei ausgeschlossen. Beim Kläger sei nicht festgestellt worden, dass dieser bereits mehrfach Therapien abgebrochen habe und rückfällig geworden wäre, sodass eine negative Prognose dahin ausgeschlossen sei. Die Unterbringung in der Entziehungsanstalt führe vielmehr dazu, dass die Zukunftsprognose positiv sei. Hinzu komme, dass der Kläger eine Familie im Inland habe, in die er eingebunden sei. Mit seiner Partnerin habe er eine minderjährige Tochter. Da der Kläger auch derzeit einen regelmäßigen und direkten Kontakt zur Familie habe, sei anzunehmen, dass ihm dies ein Anreiz sei, in Zukunft ein drogenfreies und straffreies Leben zu führen. Eine konkrete Wiederholungsgefahr liege folglich nicht vor.
27
Die Beklagte erwiderte mit Schreiben vom 24. Februar 2020 und beantragte,
29
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Klage – abgesehen von der teilweise fehlerhaften Benennung der Beklagten – zulässig, namentlich fristgemäß erhoben worden sei. Die Klage sei jedoch unbegründet. Die Verlustfeststellung sei rechtmäßig. Der Kläger sei am 4. September 2019 rechtskräftig wegen räuberischen Diebstahl und Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Es bestehe offenkundig schon deshalb die konkrete Gefahr weiterer Straftaten, da die Unterbringung gemäß § 64 StGB angeordnet wurde und die Therapie noch nicht erfolgreich abgeschlossen worden sei. Der Kläger sei sowohl alkohol- als auch drogenabhängig. Der Kläger sei unter anderem wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz und Körperverletzungen im In- und Ausland insgesamt zu 7,4 Jahren und 130 Tagessätzen verurteilt worden. Der Kläger habe ein Kind, das am … … 2018 geboren worden sei und die deutsche Staatsangehörigkeit besitze. Der Kläger sei bis 28. März 2018 und erneut ab dem 13. August 2018 inhaftiert gewesen. Der Kläger habe kein Sorgerecht und leiste keinen Unterhalt. Das Kind sei in Kenntnis der wiederholten Delinquenz gezeugt worden. Dem Kläger hätte klar sein müssen, dass die Aufenthaltsbeendigung drohe. Die zuletzt abgeurteilte Tat sei am 30. Mai 2018 begangen worden. Zu den in der Sachverhaltsschilderung des Bescheids genannten Verurteilungen kämen vier weitere Verfahrenseinstellungen nach § 154 Abs. 1 bzw. 2 StPO. Die Sachverhaltsschilderung des Bescheids sei insofern missverständlich, als das maßgebliche Urteil die Verurteilung vom 18. Dezember 2018 einbeziehe.
30
Am 16. April 2021 wurde der Kläger während seiner Unterbringung nach § 64 StGB erneut straffällig, indem er in einem Supermarkt Lebensmittel im Wert von 86,96 EUR entwendete. Nachdem er durch die Kaufhausdetektivin entdeckt worden war und diese nach dem Beutel mit dem Diebesgut griff, zerrte der Kläger zunächst an der Tasche, gab dann jedoch auf und flüchtete.
31
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 24. Januar 2022, Az. 811 Ls 274 Js 160305/21, rechtskräftig seit 1. Februar 2022 wurde der Kläger wegen räuberischen Diebstahls zu einer Geldstrafe von 160 Tagessätzen in Höhe von 15,00 EUR (nach § 47 Abs. 2 StGB aus einer Freiheitsstrafe von 5 ½ Monaten) verurteilt.
32
Die Unterbringung des Klägers wurde mit Beschluss vom 22. Februar 2022 abgebrochen. Am 31. März 2022 wurde er aus dem … … … … in die Justizvollzugsanstalt München verlegt.
33
Am 26. April 2022 wurde der Kläger in die Justizvollzugsanstalt Bernau verlegt.
34
Mit Schreiben vom 22. Juni 2023 übersandte die Justizvollzugsanstalt Bernau einen aktuellen Führungsbericht.
35
Am 18. Juli 2023 fand die mündliche Verhandlung vor Gericht statt.
36
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands nimmt das Gericht Bezug auf die Gerichtsakte, die vorgelegte Behördenakte und die beigezogenen Strafakten in den Verfahren 274 Js 160305/21 und 259 Js 219277/18 sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung.
Entscheidungsgründe
37
I. Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg.
38
Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Bescheid war daher aufzuheben.
39
1. Die Verlustfeststellung in Nr. 1 des Bescheids vom 7. Januar 2020 ist rechtswidrig. Die erhöhten Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 FreizügG/EU liegen nicht vor.
40
Die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt setzt gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU zunächst voraus, dass das persönliche Verhalten des Unionsbürgers eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit begründet, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU). Nach dem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts gemäß § 4a FreizügG/EU darf eine Verlustfeststellung gegen einen Unionsbürger nur noch aus schwerwiegenden Gründen (§ 6 Abs. 4 FreizügG/EU) getroffen werden.
41
Diese Tatbestandsvoraussetzungen sind unionsrechtlich auszulegen, weil sie der Umsetzung der RL 2004/38/EG dienen (vgl. BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30.02 – juris Rn. 22). Die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit haben spezifische unionsrechtliche Bedeutungen und sind daher nicht mit den im deutschen nationalen Gefahrenabwehrrecht enthaltenen Begriffen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gleichzusetzen (BVerwG, U.v. 3.8.2004, a.a.O., juris Rn. 24).
42
Die Voraussetzungen für die gemäß § 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 FreizügG/EU verfügte Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt liegen beim Kläger nicht vor.
43
1.1. Der Kläger ist aufgrund seiner rumänischen Staatsangehörigkeit freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU.
44
Der Kläger hat zudem ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erworben. Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, haben unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht) (§ 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU). Rechtmäßig i.S.v. § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist dabei allein ein Aufenthalt, der auf einem gemeinschaftsrechtlich begründeten Freizügigkeitsrecht beruht. Insoweit genügt es, dass sich ein Unionsbürger irgendwann über fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Nach Ablauf der fünf Jahre entsteht das Daueraufenthaltsrecht kraft Gesetzes und erlischt lediglich in den gesetzlich geregelten Fällen nach §§ 4a Abs. 7, 6 Abs. 1 FreizügG/EU (vgl. BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22.14 – juris Rn. 17; U.v. 31.5.2012 – 10 C 8.12 – juris Rn. 15 f.).
45
Der Kläger ist im Jahr 2011 nach Deutschland eingereist und war bis Mai 2017 erwerbstätig. Folglich hat er sich über fünf Jahre ständig rechtmäßig in Deutschland aufgehalten.
46
1.2. Die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts darf nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden.
47
Der Begriff der „schwerwiegenden Gründe“ i.S.v. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU ist weder in der Freizügigkeits-Richtlinie noch im FreizügG/EU erläutert. Nach Nr. 6.4.1 AVV zum FreizügG/EU liegen „schwerwiegende Gründe“ insbesondere bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen vor, wenn der Betroffene wegen eines einzelnen Delikts rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt und die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Durch das Tatbestandsmerkmal „schwerwiegend“ wird an das geschützte Rechtsgut angeknüpft, so dass gesteigerte Anforderungen an das berührte Grundinteresse der Gesellschaft zu stellen sind. Ausreichend ist insoweit eine konkrete Wiederholungsgefahr. Dies ist insbesondere bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen anzunehmen (vgl. BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 32; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, FreizügG/EU, 14. Aufl. 2022, § 6 Rn. 67; Kurzidem in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, FreizügG/EU, 37. Edition, Stand 1.4.2023, § 6 Rn. 18). Das Vorliegen schwerwiegender Gründe wird dabei qualitativ an der Schwere der drohenden Beeinträchtigung für ein Grundinteresse der Gesellschaft festgemacht, die über den „Normalfall“ hinausgehen muss (Kurzidem in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, FreizügG/EU, 37. Edition, Stand 1.4.2023, § 6 Rn. 18; Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008 Rn. 1468). Unter Bezugnahme auf die Tsakouridis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 23.11.2010 – C-145/09 Tsakouridis/Land Baden-Württemberg, NVwZ 2011, 221 Rn. 40) geht das Oberverwaltungsgericht Lüneburg (B.v. 5.9.2019 – 13 ME 278/19 – juris Rn. 10) unter Berücksichtigung des abgestuften Schutzsystems der Abs. 1, 4 und 5 des § 6 FreizügG/EU davon aus, dass der Begriff der „zwingenden Gründe“ i.S.v. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU erheblich enger als der der „schwerwiegenden Gründe“ i.S.v. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU ist und sich schwerwiegende Gründe in diesem Sinn – abhängig von den Umständen des konkreten Einzelfalls – auch schon aus der Begehung mittlerer und schwerer Kriminalität ergeben können.
48
Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen. Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende, unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 2.9.2009 – 1 C 2.09 – NVwZ 2010, 389). Bei gewichtigeren Straftaten reicht danach eine geringere Wahrscheinlichkeit der erneuten Straftatbegehung aus, um eine solche Gefährdung zu begründen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – BeckRS 2013, 47815). Aus den verwertbaren Straftaten sowie den sonstigen hinzutretenden Umständen ist also prognostisch abzuleiten, wie hoch auf Seiten des Betroffenen das Risiko der Begehung erneuter Straftaten und damit erneuter Verstöße gegen die öffentliche Ordnung ist (VG München, U.v. 20.2.2020 – M 12 K 19.5458 – n.v. Rn. 38 m.w.N.).
49
Diese Feststellung erfordert eine zum maßgeblichen Zeitpunkt aktuelle Gefahrenprognose (vgl. BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30.02 – juris Rn. 25). Dabei sind alle relevanten Umstände des Einzelfalls einzubeziehen, insbesondere die einer strafrechtlichen Verurteilung zugrundeliegenden Umstände, die Entwicklung des Betroffenen nach der Tat, seine Persönlichkeit und seine Lebensumstände sowie das Gewicht der in Rede stehenden Rechtsgüter (vgl. VGH BW, U.v. 16.12.2020 – 11 S 955/19 – juris Rn. 82 m.w.N.). Maßgeblich für Gefahrenprognose ist allein das persönliche Verhalten des Unionsbürgers (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU). Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig (Art. 27 Abs. 2 UA 2 Satz 2 RL 2004/38/EG). Ausgeschlossen ist damit eine Verlustfeststellung, die als automatische Folge einer strafrechtlichen Verurteilung (§ 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU) oder einer sonstigen Sanktion verfügt wird, ohne das persönliche Verhalten des Betroffenen oder die von ihm ausgehende Gefahr zu berücksichtigen (vgl. VGH BW, U.v. 16.12.2020 – 11 S 955/19 – juris Rn. 85 m.w.N.). § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU erfordert eine hinreichend schwere Gefahr. Die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts muss so erheblich sein, dass ihre Abwehr eine Beschränkung des Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 AEUV zu rechtfertigen vermag. Dies schließt Fälle einer nur entfernten Möglichkeit eines Schadeneintritts aus. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat wiederholt entschieden, dass der Begriff der erheblichen Gefahr im vorliegenden Zusammenhang enger auszulegen ist als in anderen Fällen, in denen das Unionsrecht auf ihn zurückgreift. Nur potentielle Gefahren sind danach nicht ausreichend für den Verlust des Freizügigkeitsrechts (vgl. VGH BW, U.v. 16.12.2020, a.a.O., juris Rn. 86). Es gilt ein differenzierender, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadeneintritts (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 23.7.2020 – 10 ZB 20.1171 – juris Rn. 7). Dies trifft auch für die Verlustfeststellung gemäß § 6 FreizügG/EU zu (VGH BW, U.v. 16.12.2020, a.a.O., juris Rn. 87). Wegen der grundlegenden Bedeutung des Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 AEUV und mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfen an die Wahrscheinlichkeit des Schadeneintritts indes keine zu geringen Anforderungen gestellt werden (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013, a.a.O., juris Rn. 16). Auch bei hochrangigen Rechtsgütern begründet daher nicht schon jede nur entfernte Möglichkeit oder eine nur potentielle Gefahr eine Wiederholungsgefahr (BVerwG, U.v. 15.1.2013, a.a.O.).
50
Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist gerichtlich voll überprüfbar. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben eine eigenständige Gefahrenprognose zu treffen. An der Verlustfeststellung vorangegangene Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte sind sie nicht gebunden. Das gilt auch für Entscheidungen über die Strafaussetzung nach § 56 StGB und § 57 StGB (VGH BW, U.v. 16.12.2020, a.a.O., Rn. 83 unter Verweis auf BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21). Strafrichterliche Prognosen stellen aber eine wesentliche Entscheidungsgrundlage von erheblichem Gewicht dar. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben sie bei ihren Entscheidungen neben allen anderen relevanten Umständen des Einzelfalls zu berücksichtigen.
51
Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen kommt das Gericht auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg zu dem Schluss, dass im Fall des Klägers zwar eine erhebliche Wiederholungsgefahr gegeben ist, demgegenüber aber sowohl die Art der Begehung der Straftaten als auch der Umfang der Beeinträchtigung der geschützten Rechtsgüter nicht dazu führen, dass schwerwiegende Gründe im Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU vorliegen.
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Die in Nr. 6.4.1 AVV zum FreizügG/EU genannten Voraussetzungen liegen bereits nicht vor, da der Kläger nicht wegen eines einzelnen Delikts zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wurde. Der Kläger hat zwar eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren erhalten, dies geschah jedoch unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts München vom 18. Dezember 2018, Az. 1116 Ds 259 Js 179837/18. Diesem lagen mehrere Einzeltaten zugrunde. Die höchste Einzelstrafe, zu der der Kläger verurteilt wurde, betrug „lediglich“ zwei Jahre. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass die Verwaltungsvorschrift keine Bindungswirkung für Gerichte entfaltet und die Voraussetzung der Nr. 6.4.1 AVV zum FreizügG/EU unter dem Vorbehalt „insbesondere“ steht und damit keine abschließende Regelung trifft. Aufgrund dessen ist aber nach Auffassung des Gerichts eine besonders intensive Betrachtung des Einzelfalls notwendig, um zu prüfen, ob eine ausreichende Schwere der Taten vorliegt, die die Entziehung des aus unionsrechtlicher Sicht bereits erheblich verfestigten Daueraufenthaltsrechts rechtfertigt. Insbesondere dürfen hier keine generalpräventiven Gründe herangezogen werden, sondern das persönliche Verhalten des Unionsbürgers muss als Grundlage der Verlustfeststellung dienen (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU).
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Zunächst ist hierbei festzuhalten, dass eine Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren die „Regel“ der Nr. 6.4.1 AVV zum FreizügG/EU von drei Jahren weit unterschreitet. Zwar wurde der Kläger mit Urteil des Landgerichts München I vom 4. September 2019 sowie mit Urteil des Amtsgerichts München vom 24. Januar 2022 jeweils aufgrund eines räuberischen Diebstahls, d.h. wegen eines Verbrechens, verurteilt, die Art der Begehung dieser Delikte weist aber keine besondere Schwere der Tat auf. Insbesondere im zuletzt abgeurteilten Delikt, das der Kläger am 16. April 2021 beging, hat dieser zwar an der Tasche mit dem Diebesgut gezogen und damit den Tatbestand des räuberischen Diebstahls verwirklicht, jedoch umgehend die Tasche wieder losgelassen. Auch die vorherigen Delikte waren nicht von einer besonderen Gewalttätigkeit oder hohen Gewaltanwendung geprägt. Zwar beging der Kläger am 30. Mai 2018 im Rahmen seiner Flucht eine Körperverletzung zulasten des Eigentümers des Diebesgutes. In einer Gesamtschau der Tat liegen aber auch hier keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die „gesteigerten Anforderungen an das berührte Grundinteresse der Gesellschaft“ (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, 14. Aufl. 2022, Ausländerrecht, FreizügG/EU § 6 Rn. 67) erfüllt sind, auch wenn das Strafgericht aufgrund der Vorstrafen des Klägers, des Wertes des Diebesguts und der Tatbegehung in offener Bewährung das Vorliegen eines minder schweren Falls verneint hat.
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Eine Beeinträchtigung des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts Eigentum war zwar durch die Vielzahl der Delikte in erheblicher Weise gegeben. Zudem ist aufgrund der wiederholten Delinquenz des Klägers und der hohen Rückfallgeschwindigkeit von einer hohen Wiederholungsgefahr in Bezug auf Eigentumsdelikte auszugehen. Aber auch diesbezüglich ist keine erhöhte Rechtsgutsverletzung, die über den „Normalfall“ hinausgeht, festzustellen. Die Häufigkeit eines bestimmten Delikttypus begründet nach Auffassung des Gerichts allein noch nicht die Verletzung eines Grundinteresses der Gesellschaft, das im Rahmen des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU erforderlich ist. Insbesondere haben die Strafgerichte jeweils nicht das Regelbeispiel der „Gewerbsmäßigkeit“ bei Prüfung des besonders schweren Falls des Diebstahls angenommen. Auch im Vergleich zu den in der bisherigen Rechtsprechung angenommenen Fällen der schwerwiegenden Gründe (u.a. Handel mit Betäubungsmitteln, Vergewaltigung, Menschenraub, Bandenkriminalität, gefährliche Körperverletzung; sh. BayVGH, B.v. 26.10.2016 – 19 C 15.2217 – juris; BayVGH, U.v. 29.01.2019 – 10 B 18.1094 – juris; OVG Lüneburg, B.v. 5.9.2019 – 13 ME 278/19 – juris) befinden sich die vom Kläger begangenen Delikte zudem am unteren Ende der Skala. Obwohl die Wiederholungsgefahr als sehr hoch einzuschätzen ist, liegt in qualitativer Sicht hingegen keine erhöhte Rechtsgutsverletzung vor. Eine Verrechnung dahingehend, dass bei einer hohen Wiederholungsgefahr die qualitativen Anforderungen an die erforderliche Rechtsgutsverletzung abgesenkt werden können, kommt nach Auffassung der Kammer nicht in Betracht.
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Die Ausführungen der Beklagten im Schriftsetz vom 14. Juli 2023 stützen sich im Wesentlichen auf hypothetische Erwägungen. Dass es im Rahmen eines räuberischen Diebstahls in Folge eines „Gerangels“ zu erheblichen Verletzungen kommen kann, ist dem Straftatbestand immanent und begründet auch das erhöhte Strafmaß im Vergleich zum reinen Diebstahlsdelikt. Im konkreten Fall hat die Mutter des Geschädigten zudem keinen Strafantrag gestellt, da sie nach eigener Aussage keine Schmerzen durch das „Vorbeidrängen“ des Klägers erlitten hat. Nach der ersten Konfrontation des Klägers mit dem Geschädigten, gelang es dem Kläger somit, eine weitere Körperverletzung zu vermeiden.
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2. Aufgrund der Rechtswidrigkeit der Verlustfeststellung in Nr. 1 des Bescheides waren auch die übrigen sich darauf stützenden Ziffern aufzuheben.
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II. Die Beklagte trägt als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens, § 154 Abs. 1 VwGO.
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III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.