Titel:
Keine Änderung eines ablehnenden Eilbeschlusses im sog. Dublin-Verfahren (Zielstaat Italien) wegen einer anhängigen Tatsachenrevision beim BVerwG
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, Abs. 7 S. 2
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, Nr. 2, § 34a Abs. 2 S. 1, § 78 Abs. 8
GG Art. 19 Abs. 4
CRCh Art. 4
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO ist kein Rechtsmittelverfahren, sondern vielmehr ein gegenüber dem ersten Eilverfahren selbstständiges Verfahren. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Zulassung der Revision in einem anderen Gerichtsverfahren stellt keine entscheidungserhebliche Änderung der Sach- und Rechtslage iSv § 80 Abs. 7 VwGO dar. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
3. Nach gefestigter obergerichtlicher und höchstrichterlicher Rechtsprechung sind keine systemischen Mängel im italienischen Asylsystem oder hinsichtlich der dortigen Aufnahmebedingungen anzunehmen, welche mit der ernsthaften Gefahr der Verletzung der Rechte aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK einhergehen würden. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat Italien), Abänderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO, Anhängiges Tatsachenrevisionsverfahren beim Bundesverwaltungsgericht nach § 78 Abs. 8 AsylG hinsichtlich der allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage von international anerkannten Schutzberechtigten in Italien (1 C 10.23), Keine entscheidungserhebliche Änderung der Sach- und Rechtslage zugunsten der Antragstellerin, Abänderungsverfahren, Änderung der Sach- und Rechtslage, Dublin-Verfahren, international anerkannter Schutzberechtigter, Tatsachenrevision, Rückkehr nach Italien, Zumutbarkeit, irreversibler Zustand, systemische Mängel, fehlende Erfolgsaussichten
Fundstelle:
BeckRS 2023, 23439
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
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Die Antragstellerin begehrt gem. § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO die Abänderung des Beschlusses vom 6. Juli 2023 (M 10 S 23.50623), mit dem ihr Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt worden ist.
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Mit Schriftsatz vom 28. Juli 2023 beantragt die Antragstellerin (sinngemäß),
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unter Abänderung des Beschlusses vom 6. Juli 2023 die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid der Antragsgegnerin vom 6. Juni 2023 anzuordnen.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass aufgrund der vom Oberverwaltungsgericht Koblenz gem. § 78 Abs. 8 AsylG zugelassenen Revision (13 A 10948/22 – juris Rn. 81), über deren Einlegung das Bundesverwaltungsgericht mit Pressemitteilung vom 5. Juni 2023 informiert habe, nunmehr die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen sei. Im summarischen Verfahren sei das anhängige Revisionsverfahren zu berücksichtigen, da das Bundesverwaltungsgericht die Entscheidungen der Vorinstanzen aufheben könne und der Antrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO Erfolg hätte.
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Die Antragsgegnerin hat sich zum Antrag (bisher) nicht geäußert.
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Wegen der weiteren Einzelheiten der Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 K 23.50622 und M 10 S 23.50623, sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
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Der Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO bleibt ohne Erfolg. Er ist zulässig, aber unbegründet.
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1. Das Gericht kann nach § 80 Abs. 7 VwGO Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit abändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO ist kein Rechtsmittelverfahren, sondern vielmehr ein gegenüber dem ersten Eilverfahren selbstständiges Verfahren. Voraussetzung für einen Anspruch auf Abänderung des zunächst ergangenen Beschlusses ist nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO, dass sich nach der ersten gerichtlichen Entscheidung die maßgebliche Sach- und Rechtslage geändert hat. § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gestattet hierbei den Beteiligten, neue entscheidungserhebliche Umstände in das Verfahren einzuführen (VG München, B.v. 1.2.2022 – M 1 S7 21.6696 – juris Rn. 12; VG Magdeburg, B.v. 3.3.2014 – 9 B 46/14 – juris Rn. 3).
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2. Gemessen daran ist der von der Antragstellerin gestellte Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO nicht begründet. Das beim Bundesverwaltungsgericht unter dem Aktenzeichen 1 C 10.23 anhängige Tatsachenrevisionsverfahren gem. § 78 Abs. 8 AsylG rechtfertigt nicht die Abänderung des Beschlusses vom 6. Juli 2023 (M 10 S 23.50623) bzw. die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage der Antragstellerin.
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a) Die Zulassung der Revision in einem anderen Gerichtsverfahren stellt keine entscheidungserhebliche Änderung der Sach- und Rechtslage zugunsten der Antragstellerin dar, weil die Zulassung einer Revision regelmäßig keine Rückschlüsse über deren Erfolgsaussichten ermöglicht (vgl. bereits BVerwG, B.v. 24.3.1994 – 1 B 134.93 – juris Rn. 3; Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 43. EL August 2022, § 80 VwGO Rn. 586). Vorliegend kommt hinzu, dass selbst bei einem erfolgreichen Ausgang des genannten Revisionsverfahrens beim Bundesverwaltungsgericht für die dortige Revisionsführerin nach summarischer Prüfung keine entscheidungserheblichen Auswirkungen für das vorliegende Verfahren zu erwarten sind. Die allgemeine abschiebungsrelevante Lage anerkannt Schutzberechtigter in einem anderen EU-Mitgliedstaat darf für Dublin-Rückkehrende, die in diesen Staat überstellt werden sollen, bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer auf § 34a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gestützten Abschiebungsanordnung zwar nicht pauschal ausgeblendet werden (vgl. BVerfG, B.v. 7.10.2019 – 2 BvR 721/19 – juris Rn. 19 und 22; anders noch vor dem Hintergrund der zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorliegenden „Jawo“-Entscheidung des EuGH: BVerfG, B.v. 14.12.2017 – 2 BvR 1872/17 – juris Rn. 23). Gleichwohl könnte sich das beim Bundesverwaltungsgericht anhängige Revisionsverfahren, bei dem es nicht um ein Dublin-Verfahren, sondern um die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines sog. Drittstaatenbescheids geht (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG), überhaupt nur dann entscheidungserheblich auf das vorliegende Verfahren auswirken, wenn die Antragstellerin substantiiert dargelegt hätte, dass ihr nach Zuerkennung internationalen Schutzes in Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerfG, B.v. 14.12.2017 – 2 BvR 1872/17 – juris Rn. 23). Denn ausweislich des Gesetzeswortlauts des § 78 Abs. 8 AsylG wird durch das Bundesverwaltungsgericht lediglich eine grundsätzliche Beurteilung der allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Italien für anerkannte Schutzberechtigte erfolgen, welche die Prognose einer Verletzung des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK im individuellen Fall anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht per se präjudiziert (vgl. Seeger in BeckOK AuslR, Stand 1.4.2023, § 78 AsylG Rn. 53). Individuelle Umstände, dass der Antragstellerin nach Zuerkennung internationalen Schutzes in Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung entgegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK drohen würde, wurden jedoch weder im Verfahren M 10 S 23.50623 noch im vorliegenden Abänderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO substantiiert vorgetragen. Die Antragstellerin hat insofern lediglich abstrakt zu den allgemeinen Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in Italien vorgetragen und nicht zur Situation anerkannt Schutzberechtigter (vgl. auch BVerfG, B.v. 14.12.2017 – 2 BvR 1872/17 – juris Rn. 25). Da das Gericht davon ausgegangen ist, dass es der Antragstellerin als überdurchschnittlich qualifizierter Person trotz des von ihr erlittenen Unrechts in ihrem Heimatstaat gelingen wird, sich in Italien zurechtzufinden (vgl. B.v. 6.7.2023 – M 10 S 23.50623 Rn. 29; vgl. auch aktuell BayVGH, U.v. 25.5.2023 – 24 B 22.30954 – juris Rn. 38), wären eingehende Darlegungen dazu erforderlich gewesen, weshalb die Antragstellerin dennoch von den vom Oberverwaltungsgericht Münster angenommenen prekären Lebensbedingungen für anerkannt Schutzberechtigte in Italien betroffen sein sollte (vgl. OVG NW, U.v. 20.7.2021 – 11 A 1674/20.A – juris Rn. 112 ff.).
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b) Selbst wenn man – wie von der Antragstellerin angedeutet – aufgrund des genannten anhängigen Revisionsverfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht offene Erfolgsaussichten ihrer Klage im Hauptsachverfahren annähme, ist vorliegend weder hinreichend vorgetragen noch ersichtlich, dass die dann vorzunehmende Interessenabwägung zugunsten der Antragstellerin ausfiele. Hierzu hätte die Antragstellerin vortragen müssen, dass es ihr vor dem Hintergrund des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG unzumutbar wäre, das Hauptsacheverfahren in Deutschland von Italien aus zu betreiben (BVerfG, B.v. 14.12.2017 – 2 BvR 1872/17 – juris Rn. 25). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und auch der 10. Kammer des Verwaltungsgerichts München ist das nur dann der Fall, wenn durch den Vollzug der Abschiebungsanordnung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der Eintritt eines (mit Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK unvereinbaren) irreversiblen Zustands eintritt, also praktisch kaum rückgängig zu machende Fakten geschaffen werden (vgl. BVerfG, B.v. 21.4.2016 – 2 BvR 273/16 – juris Rn. 14; vgl. auch jüngst VG München, B.v. 20.6.2023 – M 10 S 23.50598 – juris Rn. 28 a.E.; VG München, B.v. 17.6.2022 – M 10 S 22.50244 – juris Rn. 36 = NVwZ-RR 2022, 967 ff.; vgl. auch allg. Pietzsch in BeckOK AuslR, Stand 1.1.2023, § 34a AsylG Rn. 32a).
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Eine solche Situation ist vorliegend jedoch weder vorgetragen noch erkennbar. Wie bereits im Beschluss vom 6. Juli 2023 ausgeführt, sind nach gefestigter obergerichtlicher und höchstrichterlicher Rechtsprechung keine systemischen Mängel im italienischen Asylsystem oder hinsichtlich der dortigen Aufnahmebedingungen anzunehmen (vgl. EGMR, U.v. 23.3.2021 – M.T./Niederlande, Nr. 46595/19 = BeckRS 2021, 7508; BayVGH, U.v. 15.12.2022 – 24 B 22.50020 – juris), welche mit der ernsthaften Gefahr der Verletzung der Rechte der Antragstellerin aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK einhergehen würden. Dies würde im Übrigen auch unter Berücksichtigung des Urteils des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 20. Juli 2021 gelten, da die Situation der Antragstellerin als Erstantragstellerin nicht vergleichbar ist mit der Situation von denjenigen Asylsuchenden, die (unter Zugrundelegung der Würdigung des OVG Münster) ihren Unterkunftsanspruch verloren haben (U.v. 20.7.2021 – 11 A 1689/20.A – juris Rn. 149). Vielmehr ist davon auszugehen, dass (jedenfalls) für die Dauer des Asylverfahrens das Existenzminimum für die Antragstellerin als Dublin-Rückkehrerin in Italien gesichert wäre (vgl. BayVGH, U.v. 15.12.2022 – 24 B 22.50020 – juris Rn. 38).
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Vor diesem Hintergrund ist für das Gericht nicht erkennbar, weshalb es für die Antragstellerin unzumutbar sein sollte, im Falle einer Überstellung das Hauptsacheverfahren (zunächst) von Italien aus weiter zu betreiben, zumal eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Verfahren 1 C 10.23 innerhalb der nächsten Monate absehbar sein dürfte. Selbst wenn das Bundesverwaltungsgericht mit dem Oberverwaltungsgericht Münster und entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz entscheiden sollte, dass anerkannt Schutzberechtigte in Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine mit Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK unvereinbare Situation geraten würden, wäre es der Antragstellerin (auch vor dem Hintergrund der erwarteten zeitlichen Entwicklung) zuzumuten, dies von Italien aus im Hauptsacheverfahren M 10 K 23.50622 nachträglich geltend zu machen. Sollte sich zu einem späteren Zeitpunkt im Hauptsacheverfahren entgegen der aktuellen Sach- und Rechtslage herausstellen (d.h. nach unterstelltem Erlass einer für die Antragstellerin tendenziell günstigen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts), dass ein weiterer Verbleib der Antragstellerin nach Abschluss eines Asylverfahrens in Italien sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ihre Rechte aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK verletzen würde, könnte dem dann immer noch mit einer Aufhebung des streitbefangenen Bescheids Rechnung getragen werden (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 VwGO), ohne dass schon vorher die Perpetuierung eines menschenunwürdigen Zustands für die Antragstellerin ernsthaft zu befürchten wäre.
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c) Nach alledem ist daher weder unter Berücksichtigung der derzeit fehlenden Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren noch nach einer allgemeinen Interessenabwägung der Rechte der Antragstellerin mit der gesetzlich vorgesehenen sofortigen Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung die Abänderung des Beschlusses vom 6. Juli 2023 angezeigt.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).