Inhalt

VG München, Beschluss v. 08.08.2023 – M 10 S 23.3459
Titel:

Verbot der Einleitung von Niederschlagswasser in den Schmutzwasserkanal

Normenkette:
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4, Abs. 3 S. 1, Abs. 5
Leitsatz:
Die schriftliche Begründung gem. § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO muss in nachvollziehbarer Weise die Erwägungen erkennen lassen, die die Behörde zur Anordnung der sofortigen Vollziehung veranlasst haben. Die Behörde muss bezogen auf die Umstände im konkreten Fall das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung sowie die Ermessenserwägungen, die sie zur Anordnung der sofortigen Vollziehung bewogen haben, darlegen. Formelhafte Wendungen, formblattmäßige oder pauschale Argumentationsmuster sowie die bloße Wiederholung des Gesetzestextes reichen nicht aus. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Eilrechtsschutz, Verbot der Einleitung von Rückspülwasser einer Niederschlagswasserzisterne in den Schmutzwasserkanal, keine ausreichende Begründung für den angeordneten Sofortvollzug, kein überwiegendes Vollzugsinteresse
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 31.10.2023 – 4 C 23.1706
Fundstelle:
BeckRS 2023, 23435

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 13. Juli 2023 (Az. M 10 K 23.3458) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 4. Juli 2023 wird wiederhergestellt.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen ein vom Antragsgegner angeordnetes Verbot der Einleitung von Niederschlagswasser in den Schmutzwasserkanal.
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Der Antragsteller ist Eigentümer des Grundstücks … Straße 53 in … (Fl.Nr. …, Gemarkung …). Im Jahr 2020 baute der Antragsteller eine Regenwasserzisterne in seinem Garten. Der Filter der Zisterne muss regelmäßig durch einen Rückspülgang gereinigt werden, indem Wasser in die gegenläufige Richtung durch den Filter gespült wird. Dieses Rückspülwasser leitet der Antragsteller in den in der … Straße liegenden Schmutzwasserkanal des Antragsgegners ein, an den er im Jahr 2020 nach eigenen Angaben eigenmächtig angeschlossen hat.
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Mit E-Mail vom 20. Juli 2020 teilte der Antragsgegner dem Antragsteller mit, dass das vom Antragsteller zur Herstellung des Anschlusses beschädigte Schachtbauwerk zulasten des Antragstellers saniert bzw. ausgetauscht werde. Des Weiteren sei der Neubau des Einfamilienhauses, der im Jahr 2018 genehmigt worden sei, ohne einen vom Antragsgegner genehmigten Entwässerungsplan durchgeführt worden. Deswegen sei das gesamte Genehmigungsverfahren nachzuholen.
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Mit E-Mail vom 21. Juli 2020 übermittelte der Antragsteller dem Antragsgegner einen Antrag auf Anschluss einer Rückspülleitung der Regenwasserzisterne an den Schmutzwasserkanal sowie die entsprechende handschriftliche Skizze eines Entwässerungsplans für sein Grundstück. Dabei gab er u.a. an, dass der Filter der Zisterne zu Reinigungszwecken ca. 10-mal im Jahr rückgespült werden sollte, wobei je ca. 40 l Wasser in den Schmutzwasserkanal eingeleitet würden.
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Der Antragsgegner wies den Antragsteller mit E-Mail vom 22. Juli 2020 darauf hin, dass die Skizze den Anforderungen an einen Entwässerungsplan nicht genüge.
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Mit Bescheid vom 30. Juli 2020 gestattete der Antragsgegner dem Antragsteller die Inbetriebnahme der Grundstücksentwässerungsanlage auf seinem Grundstück sowie die Einleitung von Abwasser in die öffentliche Abwasseranlage. Ferner wurde dem Antragsteller aufgegeben, u.a. einen Dichtheitsnachweis sowie einen Entwässerungsplan, der die Anforderungen der Entwässerungssatzung erfülle, vorzulegen. Im November 2020 legte der Antragsteller Unterlagen zur Erfüllung dieser Verpflichtung vor, deren Eingang der Antragsgegner mit E-Mail vom 4. November 2020 bestätigte.
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Mit Schreiben vom 15. Februar 2023 wurde der Antragsteller unter Fristsetzung aufgefordert, die Verbindungsleitung der Zisterne zum öffentlichen Schmutzwasserkanal zurück zu bauen. Gleichzeitig wurde der Antragsteller zum Sachverhalt angehört.
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Mit Bescheid des Antragsgegners vom 4. Juli 2023 wurde dem Antragsteller die Einleitung des Rückspülwassers der Niederschlagswasserzisterne auf seinem Grundstück in den Schmutzwasserschacht der öffentlichen Entwässerungsanlage ab dem Zeitpunkt der Zustellung des Bescheids untersagt. Das Gleiche gilt für den Anschluss jeglicher Niederschlagswasserentwässerungseinrichtung an die öffentliche und private Schmutzwasserentwässerungsanlage sowie die Einleitung von jeglichem Schmutz- und Niederschlagswasser in den Schmutzwasserschacht. Für die getroffenen Anordnungen wurde die sofortige Vollziehung angeordnet. Zu deren Begründung wurde ausgeführt, dass es im öffentlichen Interesse liege, die Anordnungen für sofort vollziehbar zu erklären. Würde die sofortige Vollziehbarkeit nicht angeordnet, bestünde die Gefahr, dass in der Zeit zwischen dem Erlass des Bescheids und seiner Bestandskraft weiterhin Niederschlagswasser in den Schmutzwasserkanal eingeleitet und so die Kläranlage belastet würde. Das könne von der Allgemeinheit nicht hingenommen werden.
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Mit E-Mail vom 10. Juli 2023 teilte der Antragsteller dem Antragsgegner mit, dass er im Jahr 2020 aus seiner Sicht alle Unterlagen vorgelegt habe. Da keine Beanstandung der Unterlagen erfolgt sei, sei der Fall für ihn erledigt gewesen. Das Argument der Überlastung der Kläranlage sei für ihn nicht nachvollziehbar. Denn er leite mittlerweile nur noch 4-mal im Jahr ca. 15 l an Tagen ohne Niederschlag ein.
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Der Antragsteller hat mit Schriftsatz seiner Verfahrensbevollmächtigten vom 13. Juli 2023, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am gleichen Tag, Klage gegen den Bescheid vom 4. Juli 2023 erhoben (Az. M 10 K 23.3458). Gleichzeitig wird beantragt,
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Die aufschiebende Wirkung der am 13. Juli 2023 erhobenen Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 4. Juli 2023 wird wiederhergestellt.
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Zur Begründung wird insbesondere vorgetragen, es fehle bereits an einer formell ordnungsgemäßen Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit. Es mangle an einer konkret auf den Einzelfall abstellenden Darstellung des besonderen öffentlichen Interesses. Es würden keine Gründe, weshalb ein Zuwarten bis zur Bestandskraft des Bescheids nicht hinnehmbar sei, angeführt. Ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit oder eine Gefahr würden nicht dargelegt. Dies sei im Übrigen auch unplausibel, da der Antragsteller mehrere Jahre lang ungestört Rücklaufwasser eingeleitet habe. Zu irgendwelchen erkennbaren Nachteilen für den Antragsgegner sei es dabei nicht gekommen. Im Übrigen sei der Bescheid auch rechtswidrig. Denn der Antragsgegner habe dem Antragsteller mit Bescheid vom 30. Juli 2020 den Betrieb der Zisterne ausdrücklich gestattet. Ferner handle es sich bei dem Rücklaufwasser der Zisterne nicht um Niederschlags-, sondern um Schmutzwasser. Im Übrigen sei der Bescheid unverhältnismäßig. Es würden 4-mal im Jahr 15 l in den Abwasserkanal eingeleitet. Es handle sich dabei um eine geringfügige Menge, die das Abwassersystem nicht belasten könne. Überdies sei im Bescheid keine Übergangsregelung getroffen; der Antragsteller müsse die Einleitung sofort einstellen.
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Der Antragsgegner beantragt mit Schriftsatz vom 26. Juli 2023 sinngemäß:
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Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung wird abgelehnt.
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Der angegriffene Bescheid sei rechtmäßig, was ausführlich begründet wird. Auch bestehe ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheids. Dies habe der Antragsgegner schon im Bescheid auf den konkreten Fall bezogen begründet. Die Belastung der Kläranlage sei zu vermeiden. Der Zustand könne nicht für die unabsehbare Dauer eines gerichtlichen Verfahrens hingenommen werden. Die Verdünnung von Schmutzwasser mit Niederschlagswasser führen nämlich einerseits dazu, dass die Schmutzwasserkanäle über Gebühr hydraulisch in Anspruch genommen würden, was sich negativ auf ihre Lebensdauer auswirke. Andererseits werde die Reinigungsleistung der Kläranlage durch die Verdünnung beeinträchtigt. Jede geringfügige Einleitung von Fremdwasser sei zu vermeiden, da jede Einzeleinleitung dazu beitrage, dass die Gesamtverdünnung steige. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) habe die Vermeidung der Beeinträchtigung einer Kläranlage als besonderes öffentliches Interesse anerkannt (B.v. 12.5.1997 – 23 CS 96.2922 – juris). Hinzu komme, dass die Fortdauer des Verstoßes gegen das Einleitungsverbot durch eine illegale bauliche Anlage eine negative Vorbildwirkung habe, die eine sofortige Vollziehung rechtfertige.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
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Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist erfolgreich. Er ist zulässig, insbesondere wegen des angeordneten Sofortvollzugs (Nr. 4 des Bescheids) gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) statthaft.
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1. Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 4 des Bescheids ist formell rechtswidrig, da der Antragsgegner das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verbots der Niederschlagswassereinleitung nicht ausreichend gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO begründet hat. Zudem liegen die materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht vor, da ein überwiegendes Vollziehungsinteresse nicht erkennbar ist.
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a) Die Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 4 des Bescheids genügt den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht.
20
Die schriftliche Begründung gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO muss in nachvollziehbarer Weise die Erwägungen erkennen lassen, die die Behörde zur Anordnung der sofortigen Vollziehung veranlasst haben. Die Behörde muss bezogen auf die Umstände im konkreten Fall das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung sowie die Ermessenserwägungen, die sie zur Anordnung der sofortigen Vollziehung bewogen haben, darlegen. Formelhafte, also für beliebige Fallgestaltungen passende Wendungen, formblattmäßige oder pauschale Argumentationsmuster sowie die bloße Wiederholung des Gesetzestextes reichen nicht aus. Da das Interesse an der sofortigen Vollziehung im Regelfall über das Interesse hinausgehen muss, das den Erlass des Verwaltungsakts rechtfertigt, müssen zur Begründung regelmäßig andere Gründe angeführt werden als zur Rechtfertigung des Verwaltungsakts (vgl. hierzu zusammenfassend: Gersdorf in Posser/Wolff/Decker, BeckOK VwGO, 65. Ed. 1.7.2021, § 80 VwGO Rn. 87 m.w.N.). Nach der (wohl) herrschenden Meinung wird eine Nachholung der Begründung mit heilender Wirkung vor allem unter Hinweis auf den Schutzzweck der Vorschrift abgelehnt. Demgegenüber gestattet eine Gegenauffassung aus Gründen der Prozessökonomie eine Nachholung der fehlenden bzw. mangelhaften Begründung bis zur Stellung eines Eilantrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO (vgl. zum Meinungsstand: Gersdorf, a.a.O., Rn. 91).
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Im vorliegenden Fall erfüllt die Begründung des Sofortvollzugs im Bescheid diese Vorgaben nicht. Bei dieser Beurteilung findet die ergänzende Begründung in der Antragserwiderung keine Berücksichtigung, da diese jedenfalls erst nach Stellung des Eilantrags erfolgt ist. Einziges Argument für die Anordnung des Sofortvollzugs im angefochtenen Bescheid ist, dass ansonsten weiterhin Niederschlagswasser in den Schmutzwasserkanal eingeleitet und so die Kläranlage belastet würde. Dies könne von der Allgemeinheit nicht hingenommen werden. Zwar kann die angeführte Belastung der Kläranlage grundsätzlich die Anordnung eines Sofortvollzugs rechtfertigen (vgl. hierzu: BayVGH, B.v. 12.5.1997 – 23 CS 96.2922 – juris Rn. 35). Aber im konkreten Fall wird dies – anders als in der zitierten Entscheidung des BayVGH – nicht bezogen auf den Einzelfall begründet. Es wird lediglich sehr kurz und formelhaft auf die Belastung der Kläranlage Bezug genommen. Dies ist aber letztlich – wie kurz zuvor im Bescheid auch dargelegt – der Grund für den Erlass des Bescheids. Hieraus ergibt sich kein weitergehendes Interesse an der sofortigen Vollziehung, insbesondere warum es besonders dringlich ist, die zusätzliche Belastung der Kläranlage sofort zu verhindern. Darüber hinaus erfolgt bei der Anordnung des Sofortvollzugs keine Auseinandersetzung mit den dem Sofortvollzug entgegenstehenden privaten Aufschubinteressen des Antragstellers.
22
b) Auch die materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung liegen bei summarischer Prüfung anhand der Aktenlage nicht vor, da nicht davon auszugehen ist, dass das öffentliche Interesse am Sofortvollzug das private Aufschubinteresse des Antragstellers überwiegt.
23
Die Behörde ermittelt das besondere Vollzugsinteresse nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Alt. 1 VwGO durch eine Abwägung aller Umstände des konkreten Einzelfalles. In die Abwägung einzustellen sind alle Gesichtspunkte, die für die sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts sprechen, sowie alle, die für eine Aufrechterhaltung der in § 80 Abs. 1 VwGO grundsätzlich vorgesehenen aufschiebenden Wirkung sprechen. Das Gericht hat daher grundsätzlich zu prüfen, ob ein öffentliches Vollzugsinteresse besteht, sowie im Wege der Abwägung mit dem Aufschubinteresse des Betroffenen festzustellen, ob das Vollzugsinteresse überwiegt (vgl. hierzu: Puttler in Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 2018, § 80 VwGO Rn. 85, 156; Gersdorf in Posser/Wolff/Decker, BeckOK VwGO, 65. Ed. 1.7.2021, § 80 VwGO Rn. 99, 112, 183 m.w.N).
24
Im konkreten Fall ist für das Gericht bereits nicht erkennbar, worin das sofortige Vollzugsinteresse besteht (s. hierzu bereits oben). Jedenfalls ist mit Blick auf die angegebene Verhinderung der Belastung der Kläranlage ein Überwiegen des (sofortigen) Vollziehungsinteresses hier nicht anzunehmen. Angesichts der geringen Einleitungsmenge von 15 l lediglich 4-mal im Jahr, d.h. 60 l jährlich, ist von einer eher geringen zusätzlichen Belastung der Kläranlage auszugehen. Warum angesichts dessen nunmehr eine besondere Dringlichkeit bestehen soll, diese eher geringfügige Einleitung sofort (vor Bestandskraft des Bescheids) zu unterbinden, ist für das Gericht nicht ersichtlich. Hinzu kommt, dass dem Antragsgegner bereits seit dem Jahr 2020 bekannt war, dass der Antragsteller das Rückspülwasser aus seiner Zisterne in den Schmutzwasserkanal einleitet, und seitdem nicht (im Bescheidswege) gegen den Antragsteller vorgegangen ist. Nach Aktenlage war der Antragsgegner im Zeitraum von November 2020 bis Februar 2023 in dieser Angelegenheit untätig. Warum diese nunmehr so besonders dringlich sein soll, dass ein Sofortvollzug gerechtfertigt wäre, ist für das Gericht nicht nachvollziehbar.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit von 2013.