Inhalt

AG Regensburg, Beschluss v. 15.03.2023 – 205 F 345/23
Titel:

Herausnahme aus einer Pflegefamilie wegen Kindeswohlgefährdung

Normenkette:
BGB § 1632 Abs. 4
Leitsatz:
Durch einen Verbleib in der Pflegefamilie ist das Kindeswohl gefährdet, wenn die Pflegeeltern nicht mehr in der Lage sind, den besonderen Bedürfnissen und Anforderungen des Kindes, etwa dem Bedürfnis nach körperlicher Nähe und nahezu ständiger Betreuung, gerecht zu werden, und Ratschläge der Fachkräfte nicht annehmen bzw. nicht nachvollziehen und Anregungen nicht umsetzen können. (Rn. 11) (red. LS Axel Burghart)
Schlagworte:
Pflegeeltern, Pflegefamilie, Verbleibensanordnung, Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung
Rechtsmittelinstanzen:
OLG Nürnberg, Beschluss vom 12.05.2023 – 10 UF 316/23
BVerfG Karlsruhe, Beschluss vom 28.08.2023 – 1 BvR 1088/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 23389

Tenor

1. Der Antrag der Pflegeeltern auf Anordnung des Verbleibs des Kindes …, geb. 26.09.2018 in der Pflegefamilie wird zurückgewiesen.
2. Weitergehende Maßnahmen sind nicht mehr veranlasst.
3. Von der Erhebung der Gerichtskosten des Verfahrens wird abgesehen. Die außergerichtlichen Kosten werden nicht erstattet.
4. Der Verfahrenswert wird auf 2.000,00 € festgesetzt.

Gründe

1
Mit Schriftsatz ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 16.02.2023 beantragten die Pflegeeltern die Anordnung des Verbleibs des Kindes …, geb. 26.09.2018 in der Pflegefamilie. Der Vormund beantragte, den Antrag der Pflegeeltern zurückzuweisen und die Herausgabe des Kindes an den Vormund anzuordnen.
2
Die Mutter des Kindes ist …. Der Vater ist bereits in der Schwangerschaft verstorben. Der Mutter wurde die elterliche Sorge mit Beschluss des Amtsgerichts Regensburg vom 05.06.2019 (Az. 205 F 751/19) entzogen und auf einen Vormund übertragen. Aufgrund einer starken Entzugssymptomatik wurde das Kind nach der Geburt bis 02.11.2018 mit Morphinsulfat substituiert. Aufgrund einer Trinkschwäche musste die Nahrung bis 19.10.2018 teilsondiert werden. Am 05.11.2018 wurde … in Obhut genommen und befand sich zunächst in einer Bereitschaftspflegefamilie. Seit 03.03.2019 lebte … in der beteiligten Pflegefamilie. Bei … wurde eine erhebliche Problematik in der Aufmerksamkeitssteuerung festgestellt, was sich darin zeigt, dass er entwicklungsverzögert ist, nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne hat und unter motorischer Unruhe leidet. Unklar ist noch, ob und welche weiteren Probleme bzw. Schädigungen aufgrund des Drogenkonsums der Mutter in der Schwangerschaft auftreten werden.
3
… besuchte zunächst die Kinderkrippe. Seit September 2021 besuchte er einen Integrativkindergarten. Die Notwendigkeit eines Integrativplatzes für … wurde von den Pflegeeltern zunächst kritisch gesehen. Seit März 2022 erhielt … Frühförderung durch eine Heilpädagogin, welche in den Haushalt der Pflegefamilie kam. Zudem erhielt … seit September 2022 Logopädie, arbeitete im Kindergarten integrativ mit einer Heilerzieherin und erhielt eine 1:1 Betreuung. Im Kindergarten kam es regelmäßig zu Konflikten von …, auch mit anderen Kindern. Auch kam es zu Konflikten zwischen den Pflegeeltern und dem Personal des Kindergartens. Aufgrund der emotionalen Belastung des Kindes musste die Betreuungszeit im Kindergarten verkürzt werden. Zuletzt weigerte sich das Kind wiederholt, nach Kindergartenende mit dem Pflegevater mitzukommen.
4
Die Pflegeeltern gaben an, dass sie sämtliche erforderlichen Therapien für … unterstützt und gefördert hätten. Lediglich der Frage des Integrationsstatus im Kindergarten hätten sie kritisch gegenüber gestanden, diesen aber letztlich auch akzeptiert. Die Pflegeeltern bemängeln fehlende Unterstützung und Beratung durch das Jugendamt und den Vormund. Weder Jugendamt noch Vormund hätten sich ein persönliches Bild von der familiären Situation gemacht. … benötige eine psychologische Anbindung. Zudem solle ein geeigneterer Betreuungsplatz, etwa in einer kleineren Gruppe von Kindern gesucht werden.
5
Das Jugendamt gab an, dass die Pflegeeltern die besonderen Besonderheiten und Bedürfnisse von … nicht verstehen würden, wodurch das Kind in eine Überforderung gerate. Trotz Installation der Frühförderung in der Pflegefamilie habe keine Änderung des Erziehungsverhaltens der Pflegeeltern erreicht werden können. Eine konstruktive Zusammenarbeit mit den Pflegeeltern sei dadurch erschwert worden, dass die Pflegeeltern Rückmeldungen von Kindergarten und anderen Fachkräften als persönliche Kritik verstehen würden. Die Pflegeeltern würden sich mittlerweile gegen das Helfersystem stellen und stünden hierbei selbst unter Druck, den sie an das Kind weitergeben würden. Zudem sei es den Pflegeeltern aufgrund eigener psychischer Problematiken nicht möglich, der Belastung durch die besonderen Anforderungen und Bedürfnisse des Kindes standzuhalten. Auch hätten die Pflegeeltern bereits mehrfach geäußert, sie würden nicht mehr können und das Kind müsse ins Heim, unter anderem im Kindergarten und im Beisein des Kindes. Für … habe nun eine geeignetere Pflegefamilie gefunden werden können, welche aufgrund ihres beruflichen Hintergrunds mit Störungsbildern von Kindern wie denen bei … vertraut seien. Auf die Berichte des Jugendamts vom 17.02.2023 und 10.03.2023 wird Bezug genommen.
6
Mit Beschluss des Amtsgerichts Regensburg vom 17.02.2023 wurde der Antrag der Pflegeeltern auf Anordnung des Verbleibs des Kindes … in der Pflegefamilie zurückgewiesen und die Herausgabe des Kindes an den Vormund angeordnet. Mit Schriftsatz ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 17.02.2023 stellten die Pflegeeltern Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung.
7
Am 09.03.2023 fand eine Kindesanhörung statt. Auf das entsprechende Protokoll wird Bezug genommen. Aufgrund des Alters des Kindes war eine sachbezogene Kommunikation nicht bzw. nur sehr eingeschränkt möglich.
8
Am 13.03.2023 fand eine mündliche Verhandlung statt. Die Pflegeeltern, der Vormund, die Mutter, das Jugendamt und der Verfahrensbeistand wurden angehört. Auf das entsprechende Protokoll wird Bezug genommen.
9
Der Antrag der Pflegeeltern auf Anordnung des Verbleibs des Kindes in der Pflegefamilie war zurückzuweisen. Nach § 1632 Abs. 4 BGB kann das Familiengericht für den Fall, dass das Kind seit längerer Zeit in Familienpflege lebt und die Sorgeberechtigten das Kind von der Pflegeperson wegnehmen wollen, von Amts wegen oder auf Antrag der Pflegeperson anordnen, dass das Kind bei der Pflegeperson verbleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme gefährdet würde. Bei einem Wechsel der Pflegefamilie muss mit hinreichender Sicherheit auszuschließen sein, dass die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern mit psychischen oder physischen Schädigungen verbunden sein kann.
10
Eine Gefährdung des Kindeswohls durch die Wegnahme aus der Pflegefamilie liegt vorliegend jedoch gerade nicht vor. Vielmehr erfolgt die Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie gerade zu dem Zweck, eine bestehende Gefährdung des Kindes abzuwenden. Das Wohl des Kindes ist zur Überzeugung des Gerichts gefährdet. Es besteht die begründete Besorgnis, dass bei Nichteingreifen das Kindeswohl beeinträchtigt wird. Nach dem vorliegenden Sachverhalt besteht eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr, dass sich ohne Maßnahmen des Familiengerichts bei einer weiteren aktuellen Entwicklung eine erhebliche Schädigung des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Die Pflegeeltern sind zur Überzeugung des Gerichts nicht in der Lage, die bestehende Gefahr für das Kindeswohl abzuwenden.
11
Aufgrund der durch das Jugendamt geschilderten und auch in den Berichten der Fachkräfte zum Ausdruck kommenden massiven Belastung der Pflegeeltern ist nicht davon auszugehen, dass die Pflegeeltern noch in der Lage sind, zum Wohle des Kindes … zu handeln. Auch in den Berichten der Fachkräfte wurde geschildert, dass die Familie belastet sei, es zu Konflikten komme, welche bei den Pflegeeltern ein Gefühl der Ohnmacht und des Unvermögens auslösen würden, was einen feinfühligen, selbstsicheren und entspannten Umgang mit … erschwere. Die Erziehungsfähigkeit der Pflegeeltern scheint in diesem Zusammenhang erheblich eingeschränkt zu sein. Sie scheinen nicht mehr in der Lage zu sein, den besonderen Bedürfnissen und Anforderungen des Kindes, etwa dem Bedürfnis nach körperlicher Nähe und nahezu ständiger 1:1 Betreuung, gerecht zu werden. Ratschläge der Fachkräfte konnten nicht angenommen werden bzw. konnten nicht nachvollzogen werden, Anregungen konnten nicht umgesetzt werden. Vorschläge, etwa des Personals des Kindergartens nach Verkürzung der Betreuungszeit aufgrund Überforderung des Kindes sorgten für Unverständnis. Vielmehr war es den Pflegeeltern ein Anliegen, eine möglichst lange Fremdbetreuung von … zu erhalten, obwohl von Fachkräften davon abgeraten wurde. Teilweise kam es zu Auseinandersetzungen oder eskalierenden Gesprächen. Unterstützende Maßnahmen haben keine Besserung erzielt: Die tatsächliche Aufgabe der eingesetzten Heilpädagogin zur Unterstützung der sprachlichen und motorischen Entwicklung des Kindes wurde eher verkannt, teilweise war die Interaktion der Pflegeeltern bei der Heilpädagogik nicht sachgerecht. Vielmehr stellten sich die Pflegeeltern mittlerweile gegen das Helfersystem und beklagen mangelnde Unterstützung. Unterstützungsangebote und Beratungsgespräche fanden jedoch mehrfach statt, wurden von den Pflegeeltern aber nicht als solche erkannt und auch nicht angenommen und nicht umgesetzt, sondern vielmehr als persönliche Kritik angesehen, was wiederum zu erhöhtem Druck und höherer Belastung der Pflegeeltern führte. Eine offene Kommunikation und ein Informationsaustausch mit den Fachkräften waren nicht mehr vorhanden. Gerade der extrem hohe Bedarf des Kindes erfordert jedoch eine Beratungsfähigkeit der Pflegeeltern, welche jedoch nicht vorhanden ist. Vielmehr wurde die Beratungsresistenz der Pflegeeltern von verschiedenen Fachkräften angegeben. Die hohe Belastung der Pflegeeltern bis hin zu Überlastung wurde durch verschiedene Stellen beobachtet und beschrieben, etwa dem Jugendamt, dem Vormund, der Heilpädagogin oder dem Kindergarten. Bereits 2020 wurde vom Kinderzentrum St. Martin geschildert, dass die Pflegeeltern mittlerweile belastet sind und Unterstützung angeboten, welche jedoch nicht angenommen wurde. Teilweise wurde die Belastung auch von den Pflegeeltern selbst geäußert. Hinzukam, dass sich insbesondere die emotionale Stabilität des Kindes seit Herbst zunehmend verschlechterte. So musste die Betreuungszeit im Kindergarten aufgrund der Überforderung und Labilität des Kindes reduziert werden. Zudem erfolgte die Rückmeldung des Kindergartens, dass … nach dem Kindergarten nicht mehr mit dem Pflegevater mitkommen wollte und es bei Abholung zu eskalierenden Situationen kam, in denen das Kind dann vom Personal des Kindergartens beruhigt werden musste. Nach den Angaben des Jugendamts zeige … trotz des langen Aufenthalts bei den Pflegeeltern und einer zu erwartenden sicheren Bindung zu diesen Anzeichen einer unsicheren Eltern-Kind-Bindung oder gar einer Bindungsstörung. Hierbei wird nicht verkannt, dass sich die Pflegeeltern im Rahmen ihrer Möglichkeiten bemühten, den Anforderungen des Kindes zu genügen. Es wird dabei auch nicht verkannt, dass es bei einer Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie zu einem Bindungsabbruch für das Kind kommt. Diese stellt im Vergleich zu den zu erwartenden Folgen für das Kind beim Verbleib in der Pflegefamilie auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten jedoch die einzige geeignete Maßnahme dar. Mildere Mittel sind zur Gefahrenabwehr nicht geeignet. Selbst bei weiteren unterstützenden Maßnahmen bei Rückkehr in die Pflegefamilie ist aufgrund des oben gesagten nicht davon auszugehen, dass sich die Gefährdung des Kindeswohls abwenden ließe. Vielmehr wäre zu erwarten bzw. befürchten, dass … nach kurzer Zeit wiederum aus der Pflegefamilie genommen werden müsste.
12
Weitergehende Anordnungen bzw. Maßnahmen, etwa zur Herausgabe des Kindes mussten nicht mehr getroffen werden, da sich diese mit Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie bereits Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 51 Abs. 4, 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG. Für die Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung gelten die allgemeinen Vorschriften.
13
Die Festsetzung des Verfahrenswertes beruht auf §§ 41, 45 FamGKG.