Titel:
Aufklärung der Gewährung rechtlichen Gehörs in Disziplinarmaßnahme während der Strafvollstreckung
Normenketten:
BayStVollzG Art. 208
StVollzG § 116 Abs. 1, Abs. 2, § 118 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, § 119 Abs. 4 S. 1, S. 3, § 120 Abs. 2
ZPO § 127 Abs. 2 S. 2
Leitsätze:
1. Steht in Streit, ob dem Betroffenen rechtliches Gehör im Rahmen eines Disziplinarverfahrens während der Strafvollstreckung gewährt wurde, bedarf dieser Umstand der Aufklärung durch Anhörung der Beteiligten und eine anschließende Überprüfung anhand der Argumentation beider Seiten. (Rn. 3 und 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Enthält die Entscheidung über die Versagung der Prozesskostenhilfe keine Begründung, muss zugunsten des Beschwerdeführers unterstellt werden, dass die Anfechtung der Entscheidung möglich ist. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
rechtliches Gehör, Aufklärung, Disziplinarmaßnahme, Strafvollstreckung, Prozesskostenhilfe, Versagung, fehlende Begründung
Vorinstanz:
LG Augsburg, Beschluss vom 02.04.2023 – 2 NöStVK 899/22
Fundstelle:
BeckRS 2023, 22718
Tenor
1. Auf die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen wird der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg bei dem Amtsgericht Nördlingen vom 02.04.2023 in dessen Ziffern 1. und 3. sowie auf die sofortige Beschwerde des Strafgefangenen in Ziffer 2. aufgehoben und die Sache zur jeweils neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.
2. Der Geschäftswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 2.000,00 € festgesetzt.
3. Dem Strafgefangenen wird Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren ohne Zahlungsanordnung unter Beiordnung von Rechtsanwalt mit Wir kung ab Antragstellung (15.05.2023) bewilligt.
Gründe
1
Die gemäß Art. 208 BayStVollzG i.V.m. §§ 116 Abs. 1 und 2, 118 Abs. 1 bis 3 StVollzG zulässige Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen |HH hat vorläufigen Erfolg und führt auf die Sachrüge zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses in dessen Ziffern 1. und 3. sowie zur Zurückverweisung des Verfahrens an die Strafvollstreckungskammer (Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 119 Abs. 4 S. 1 und 3 StVollzG), da ein relevanter Aufklärungsmangel vorliegt.
2
Der Strafvollstreckungskammer stand für die von ihr zu treffende Entscheidung vorliegend keine ausreichende Tatsachengrundlage zur Verfügung, da die Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt K. vom 02.12.2022 und vom 27.02.2023 zum entscheidenden Gespräch zwischen dem Antragsteller und dem Justizbeamten |HH vom 16.11.2022 den zwischen Antragsteller und Antragsgegnerin streitigen Sachverhalt nicht ausreichend klären.
3
Hinsichtlich der grundrechtsrelevanten Frage, ob dem Antragsteller im Rahmen des Disziplinarverfahrens rechtliches Gehör gewährt wurde, steht zwischen den Beteiligten Aussage gegen Aussage. Der Dokumentation der Justizvollzugsanstalt, der Antragsteller habe gesagt „ich gehe nicht hin. Es macht keinen Unterschied ob ich da hingehe oder nicht. Mein Anwalt hat mir geschrieben“ steht diametral die Einlassung des Antragstellers entgegen, er habe am 16. oder 17.11.2022 einen Verteidigerbesuch erwartet und deswegen erbeten, mit der Anhörung zuzuwarten, bis er sich mit seinem Rechtsanwalt habe besprechen können; die dokumentierten Äußerungen ergäben keinen Sinn; auch entsprächen sie nicht den sprachlichen Möglichkeiten des Antragstellers.
4
Im Anschluss daran hätte eine Aufklärung durch Anhörung der Beteiligten durch die Strafvollstreckungskammer und eine anschließende Überprüfung anhand der Argumentation beider Seiten erfolgen müssen.
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Es bedarf daher der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und der Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts. Sollte die Disziplinarmaßnahme zwischenzeitlich vollstreckt worden sein, führt dies nicht zur Erledigung (Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, Strafvollzugsgesetze, 12. Aufl., Teil P, § 115 StVollzG Rn. 79). Vielmehr wird auf eine dem Sachstand angepasste Antragstellung hinzuwirken sein.
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Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers bleibt bei einer Zurückverweisung der Strafvollstreckungskammer vorbehalten (BeckOK Strafvollzug Bund / Euler, 23. Ed. 1.2.2023, StVollzG § 121 Rn. 1).
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Die Entscheidung über den Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens folgt aus §§ 1 Abs. 1 Nr. 8, 52 Abs. 1,60, 65 GKG.
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Die sofortige Beschwerde des Antragstellers (Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 120 Abs. 2 StVollzG, § 127 Abs. 2 S. 2 ZPO) gegen die Versagung der Prozesskostenhilfe (Ziffer 2. des Beschlusses) ist zulässig und hat in der Sache vorläufigen Erfolg, nachdem die angefochtene Entscheidung keine Begründung enthält. Der Senat kann daher nicht prüfen, ob überhaupt eine Anfechtungsmöglichkeit besteht (vgl. Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, Strafvollzugsgesetze, 12. Aufl., Teil P, § 120 StVollzG Rn. 140). Vorliegend muss zu Gunsten des Beschwerdeführers unterstellt werden, dass die Anfechtung möglich ist.
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Dem Antragsteller wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt beigeordnet (Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 120 Abs. 2 StVollzG, §§ 114 Abs. 1, 119, 121 Abs. 2 ZPO).
10
Der Antragsteller ist nach den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten der Verfahrensführung aufzubringen. Seine Rechtsverfolgung erscheint nicht mutwillig und ist – wie die Entscheidung oben unter I. zeigt – erfolgreich (§§ 114, 119 Abs. 1 ZPO). Die Vertretung durch den Rechtsanwalt erscheint erforderlich.