Titel:
Antrag auf einstweiligen Widerruf der Weitergabe einer behördlichen Warnung (abgelehnt), Warnung vor dem Einsatz einer Dolmetscherin bei Gericht, Weitergabe einer Warnung, Vollständige Vorwegnahme der Hauptsache, Beweiserhebung bei einer einstweiligen Anordnung
Normenketten:
VwGO § 123
GG Art. 12
Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG
GVG § 189
BayVwVfG Art. 28
BayVwVfG Art. 45
Schlagworte:
Antrag auf einstweiligen Widerruf der Weitergabe einer behördlichen Warnung (abgelehnt), Warnung vor dem Einsatz einer Dolmetscherin bei Gericht, Weitergabe einer Warnung, Vollständige Vorwegnahme der Hauptsache, Beweiserhebung bei einer einstweiligen Anordnung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 22553
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die als Dolmetscherin sowie Übersetzerin tätige Antragstellerin begehrt im Wege einer einstweiligen Anordnung die Verpflichtung des Antragsgegners zum Widerruf eines Schreibens des Präsidenten des Oberlandesgerichts München (OLG München) an die Landgerichte und Präsidialamtsgerichte in dessen Gerichtsbezirk, durch das eine Warnung des Bayerischen Landeskriminalamts (BLKA) vor dem Einsatz der Antragstellerin weitergegeben wurde.
2
Am 28. April 2022 wurden Beschuldigte in einem Ermittlungsverfahren des BLKA festgenommen und dem Haftrichter (Amtsgericht Regensburg) vorgeführt. Die Antragstellerin wurde bei zwei der Haftbefehlseröffnungen, nicht aber bei derjenigen gegenüber dem Hauptbeschuldigten eingesetzt. Die Antragstellerin und der Hauptbeschuldigte begegneten sich allerdings im Amtsgericht Regensburg. Am Folgetag wurde ein Telefonat zwischen der Mutter des Hauptbeschuldigten und der Antragstellerin aufgezeichnet. Die erste, zusammenfassende Übersetzung dieses Telefonats enthielt folgende Passage:
3
„Ferner sagt O. …, dass sie gestern Z. … [den Hauptbeschuldigten, Anm. des Gerichts] gesehen hat. I. … [Mutter des Hauptbeschuldigten, Anm. des Gerichts] sagt, dass sowohl bei ihr als auch bei N. … wurde durchsucht. Sie war zwar nicht bei ihm anwesend aber bei den anderen. Sie wisse worum es geht und ist schockiert. Wie viel Mühe man doch hineingesteckt hat, so O. …! I. … seufzt und stimmt zu. Sie kann vllt. ihr was dazusagen, wenn man sich sieht, so O. …“
4
Die nochmaligen, auf Bitte der Antragstellerin hin erfolgten Übersetzungen wurden von der bereits zunächst eingesetzten sowie einer weiteren öffentlich bestellten und beeidigten Dolmetscherin vorgenommenen und ergaben folgenden, auszugsweise dargestellten Gesprächsinhalt:
5
„O. …: I. …! ich habe Z. … gesehen! …
I. …: Oh, meine Seele findet keine Ruhe. Ein Alptraum! Gestern wurden so viele eingebuchtet. Und bei mir wurde durchsucht, bei N. … und Z. … gab es eine Durchsuchung. Und er wurde gleich abgeführt. […]
O. …: Ich habe ihn gesehen. Ich konnte jedoch nicht mit ihm sprechen, denn es war so eine, also …
I. … (unterbricht, Anm. Dolm.): Ist ja klar!
O. …: Aber ich weiß, worum es geht, denn ich war dann bei allen Anderen anwesend. Bei ihm zwar nicht, aber ich habe das alles gesehen. Ich bin einfach ein bisschen schockiert, denn es wurde doch so viel Mühe reingesteckt, weißt du…
I. … (unterbricht, Anm. Dolm.): Was du nicht sagst?! Das ist doch überhaupt, also… Dummkopf! Ich weiß einfach nicht… Wie oft haben wir gesagt, wie viel äh … Oh (seufzt laut, Anm. Dolm.)
O. …: Also, wenn wir uns sehen, sage ich dir vielleicht etwas beim Treffen.
I. …: Gut, O. … (*Anm. Dolm. Deminutivum von „O. …“), gut.“
6
„ …, O. …: […] Ich habe S. … gesehen.
…, I. … … (seufzt): Ich finde keine Ruhe. Ein Alptraum! Gestern wurden so viele festgenommen. Das war ein einziger Schreck! Bei mir wurde durchsucht, bei N. … und S. … wurde durchsucht. Er wurde gleich mitgenommen. […] …, O. …: Ich habe ihn direkt gesehen. *unverständlich* was. Ich konnte mit ihm aber nicht sprechen, weil… es war gerade so eine … na… …, I. … …: Na, ist klar.
…, O. …: Ich habe gewusst, wovon die Rede ist. Weil ich später bei allen anderen mitanwesend war. Bei ihm nicht. Aber ich habe das alles gesehen, ja.
…, O. …: Ich bin nur etwas schockiert, weil man sich ja so abgemüht hat, verstehst du?
…, I. … …: Ach, was sagst du denn! Das ist doch überhaupt… Na.. Er ist einfach nur ein Dummkopf! Wie viele Gespräche geführt wurden, wie viele Jahre… …, O. …: Wenn wir uns treffen, dann erzähle ich dir vielleicht was beim Treffen.
…, I. … …: Gut, O. …, gut.
7
Anhaltspunkte dafür, dass es im Nachgang zu dem aufgezeichneten Telefonat zu einem Informationsaustausch zwischen der Mutter des Hauptbeschuldigten und der Antragstellerin kam, sind weder vorgetragen noch aus den Akten ersichtlich.
8
Das BLKA gab am 22. Juli 2022 eine Dolmetscherwarnung u.a. an das OLG München heraus. In dieser heißt es einleitend, dass es in einem Ermittlungsverfahren des BLKA wegen Verbrechen nach dem Betäubungsmittelgesetz nach den Vorführungen der festgenommenen Täter beim AG Regensburg unter Einbindung der namentlich genannten Antragstellerin zur Weitergabe von Informationen gekommen sei. Hieran anschließend wird ausgeführt, dass die Antragstellerin in einem überwachten, mit der Mutter eines der Festgenommenen geführten Telefonat erklärt habe, dass sie zu dem Verfahren Informationen geben könne, wenn man sich persönlich sehe. Nach Bewertung des Sachverhalts sei festzustellen, dass die Zuverlässigkeit der Antragstellerin nicht mehr gegeben sei.
9
Der Präsident des OLG München richtete daraufhin am 1. August 2022 ein Schreiben mit dem Betreff „Dolmetscher-Warnmeldung betreffend die Dolmetscherin O. … …“ an die Präsidentinnen und Präsidenten der Landgerichte und Präsidialamtsgerichte des Gerichtsbezirks. Das Schreiben, dem die Warnung des BLKA als Anlage beigefügt war, hat folgenden Wortlaut:
10
„Das Bayerische Landeskriminalamt München warnt auf Grund eines vom BLKA geführten Ermittlungsverfahrens vor dem Einsatz der Dolmetscherin O. … …, wohnhaft … … …, … … Zur näheren Ausführung wird auf das anliegende Fax des BLKA vom 22.07.2022 verwiesen.“
11
Der Präsident des OLG München wies die Bevollmächtigte der Antragstellerin mit Schreiben vom 7. November 2022 darauf hin, dass diese Stellung gegenüber dem OLG München nehmen könne und informierte die Präsidentinnen und Präsidenten der Landgerichte und Präsidialamtsgerichte im Gerichtsbezirk mit Schreiben vom 9. November 2022 darüber, dass die Antragstellerin Einwendungen gegen die Dolmetscherwarnung erhoben habe und ein gerichtliches Eilverfahren anhängig sei, dessen Abschluss abzuwarten bleibe.
12
Die Antragstellerin hat mit Schriftsatz vom 17. Oktober 2023 um verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz gegen die Weitergabe der Warnung ersucht und trägt mit Schriftsätzen vom 17. Oktober 2022, 9. Januar, 11. April, 5. Juli und 26. Juli 2023 insbesondere vor, dass das aufgezeichnete Telefonat die Beauftragung für die Anfertigung einer Übersetzung für eine Frau aus Charkiw, Ukraine zum Gegenstand habe. Sie habe lediglich gewusst, dass und wodurch der Sohn ihrer Gesprächspartnerin in der Vergangenheit strafrechtlich in Erscheinung getreten sei. Bei der Begegnung im Amtsgericht Regensburg habe sie daher erkannt, dass gegen ihn strafrechtlich ermittelt werde. Einen Bezug zu den Haftbefehlseröffnungen, bei denen sie eingesetzt wurde, habe sie jedoch nicht herstellen können. Sie habe daher nicht gewusst, dass es einen Zusammenhang zwischen den Haftbefehlseröffnungen gebe. Der im Telefonat verwendete Ausdruck „sie wisse, worum es geht“ habe sich daher nicht speziell auf das geführte Ermittlungsverfahren, sondern allgemein darauf bezogen, dass der Hauptbeschuldigte ein „allgemeines strafrechtliches Problem“ habe. Gegen die Antragstellerin sei nie ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Auch habe sie sich vor der Weitergabe der Warnung nicht zu dieser äußern können. Die Dolmetscherwarnung sei zudem unverhältnismäßig, da sie nicht zeitlich beschränkt worden sei. Die Antragstellerin werde aufgrund der Warnung bzw. deren Weitergabe nicht mehr als Dolmetscherin bzw. Übersetzerin in Gerichtsverfahren eingesetzt. Dies stelle jedoch einen wesentlichen Bestandteil ihrer Tätigkeit dar, sodass sie zwei Drittel ihrer Einnahmen eingebüßt habe. Zur Glaubhaftmachung der Höhe der finanziellen Einbußen wurde eine Auskunft aus dem vom Freistaat Bayern für Auszahlungen verwendeten Kassenbuchführungssystem KABU beigefügt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze verwiesen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).
13
Die Antragstellerin stellt mit Schriftsatz vom 17. Oktober 2022 den Antrag,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Dolmetscherwarnung zurückzunehmen,
14
wobei als Antragsgegner der Freistaat Bayern, vertreten durch den Präsidenten des OLG München benannt wird.
15
Der Antragsgegner ist dem Antrag mit per Telefax übermitteltem Schriftsatz vom 7. November 2022 entgegengetreten.
16
Er trägt mit Schriftsätzen vom 7. November 2022 und vom 12. Juli 2023 vor, dass die Warnung des BLKA durch den Präsidenten des OLG München lediglich weitergegeben worden sei. Dies sei erfolgt, um den Präsidentinnen und Präsidenten der Land- und Präsidialamtsgerichte eine Beurteilung der Zuverlässigkeit der Antragstellerin in eigener Zuständigkeit zu ermöglichen. Die Weitergabe der Warnung sei rechtmäßig, da Zweifel an der Zuverlässigkeit der Antragstellerin vorlägen und die Zuverlässigkeit von Dolmetschern entscheidend für deren Einsatz in Ermittlungs- und Gerichtsverfahren sei, da die Übersetzung von Angaben der Verfahrensbeteiligten eine wesentliche Erkenntnisquelle in den Verfahren darstelle und die Ermittlungsbehörden darauf vertrauen können müssten, dass vertrauliche Informationen nicht weitergegeben werden. Die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Antragstellerin ergäben sich bereits aus den Äußerungen in dem aufgezeichneten Telefonat. Zudem könne nicht ausgeschlossen werden, dass es im Nachgang zu dem Telefonat zu einer Weitergabe von Informationen gekommen sei. Die Warnmeldung könne widerrufen werden, wenn sich die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Antragstellerin ausräumen ließen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze verwiesen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).
17
Die Beteiligten sind mit gerichtlichem Schreiben vom 16. Juni 2023 unter anderem darauf hingewiesen worden, dass nach Einschätzung des Gerichts aufgrund der Ausführungen in der Antragsschrift die Weitergabe der Warnung des BLKA durch den Präsidenten des OLG München Verfahrensgegenstand sei. Den näher erläuterten Prüfungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit behördlichen Informationshandelns zugrunde legend, erscheine die Formulierung im Schreiben des Präsidenten des OLG München zwar mehrdeutig, könne jedoch noch so ausgelegt werden, dass man von einer zutreffenden Wiedergabe von Tatsachen ausgehen könne. Es wurde angesichts des Verfahrensgegenstands Gelegenheit zur Stellungnahme dazu gegeben, warum die Rechtmäßigkeit der Warnung des BLKA selbst und damit insbesondere die Rechtmäßigkeit der dortigen Formulierungen im hiesigen Verfahren zu überprüfen sein sollte, zumal erkennbar sei, dass durch den Präsidenten des OLG München lediglich eine Plausibilitätsprüfung und damit keine eigenständige inhaltliche Einschätzung vorgenommen wurde.
18
Die Antragstellerin hat durch ihre Bevollmächtigte mit Schriftsatz vom 5. Juli 2023 vorgetragen, dass Gegenstand des Antragsbegehrens die vorläufige Rücknahme der Dolmetscherwarnung sei, wobei im unmittelbaren Anschluss zu den Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Weitergabe einer Warnung und dabei insbesondere ausgeführt wurde, dass das OLG München und nicht das Polizeipräsidium für den Erlass der Warnung zuständig sei und das OLG München daher die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Warnung prüfen hätte müssen. Die Tatsache, dass keine eigenständige rechtliche Prüfung vorgenommen worden sei, führe bereits zur Rechtswidrigkeit der Weitergabe der Warnung. Es habe weder eine Gefahr noch ein Gefahrenverdacht vorgelegen.
19
Beweisanträgen bzw. -anregungen der Antragstellerin ist keine Folge gegeben worden.
20
Auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte wird ergänzend Bezug genommen.
21
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf Verpflichtung des Antragsgegners zum Widerruf (vgl. zum Begriff des Widerrufs als Folgenbeseitigung bei unrichtigen Tatsachenbehauptungen ebenso wie bei rechtswidrigen Werturteilen BVerwG, U.v. 29.6.2022 – 6 C 11/20 – juris; BayVGH, B.v. 13.11.2020 – 11 CE 20.1956 – juris Rn. 14) eines Schreibens des Präsidenten des OLG München an die Landgerichte und Präsidialamtsgerichte im Gerichtsbezirk, durch das eine Warnung des BLKA vor dem Einsatz der Antragstellerin weitergegeben wurde, ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.).
22
1. Die Antragstellerin verfügt über das für das Stellen eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 123 Abs. 1 VwGO) notwendige Rechtsschutzbedürfnis, obwohl sie sich mit ihrem Begehren ausweislich der dem Gericht vorliegenden Unterlagen und der Ausführungen des Antragsgegners vor der Stellung des Antrags nicht an den Präsidenten des OLG München als Ausgangsbehörde gewandt hat.
23
Die Frage, ob der geltend gemachte Anspruch vor Stellen eines Antrags gemäß § 123 VwGO bei der zuständigen Behörde geltend gemacht werden muss, entzieht sich einer pauschalen Beantwortung (vgl. BayVGH, B.v. 28.5.2018 – 22 CE 17.2260 – juris Rn. 74; B.v. 4.7.2008 – 15 CE 08.1155 – juris Rn. 18; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 34). Zumindest in aller Regel erforderlich ist eine Vorbefassung der zuständigen Behörde mit dem gemäß § 123 VwGO zu sichernden Begehren dann, wenn das materielle Recht eine Antragstellung bei der öffentlichen Verwaltung vorschreibt. Dies ist bei dem begehrten Widerruf der Weitergabe einer Dolmetscherwarnung jedoch nicht der Fall. Ansonsten kann ein Antragsteller, der sein Anliegen nicht zuvor an die öffentliche Verwaltung herangetragen hat, ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Anrufung des Gerichts im Verfahren nach § 123 VwGO besitzen, wenn ausreichend gewichtige Anhaltspunkte dafür sprechen, dass die zuständige Behörde seinem Begehren entweder nicht oder nicht innerhalb der Zeitspanne entsprochen hätte, nach deren Ablauf dem Rechtsschutzsuchenden diejenigen Nachteile drohen, die mit der beantragten einstweiligen Anordnung abgewehrt werden sollen (vgl. BayVGH, B.v. 28.5.2018 – 22 CE 17.2260 – juris Rn. 74). Vorliegend kann es als ausgeschlossen gelten, dass der Präsident des OLG München die Weitergabe der Dolmetscherwarnung mittels Widerrufs rückgängig gemacht hätte, hätte die Antragstellerin dieses Begehren vor dem Beschreiten des Rechtswegs dort angemeldet. Denn aus dem Schreiben des Präsidenten des OLG München an die Bevollmächtigte der Antragstellerin vom 7. November 2022 ergibt sich, dass dieses auch in Kenntnis der von der Antragstellerin vorgebrachten Einwände nach wie vor davon ausgeht, dass aufgrund des Verdachts, dass die Verschwiegenheitspflicht nicht gewahrt werde, Zweifel an der Zuverlässigkeit der Antragstellerin bestehen.
24
2. Der Antrag ist jedoch unbegründet, da das Bestehen eines Anordnungsanspruchs bereits nicht glaubhaft gemacht wurde (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung (ZPO)) und darüber hinaus kein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache besteht, wie er bei einem als vollständige Vorwegnahme der Hauptsache einzuordnenden „vorläufigen“ Widerruf (vgl. HessVGH, B.v. 18.1.1994 – 11 TG 1267/93 – juris Rn 31; OVG LSA, B.v. 10.11.2008 – 3 M 361/08 – juris Rn. 6) vorauszusetzen ist (vgl. BVerwG, B.v. 13.8.1999 – 2 VR 1.99 – juris Rn. 24; BayVGH, B.v. 7.4.2021 – 4 CE 21.601 – juris Rn. 19).
25
a. Der von der Antragstellerin geltend gemachte Anspruch auf Widerruf der Dolmetscherwarnung setzt als Folgenbeseitigungsanspruch, der in Ermangelung einer spezialgesetzlichen Rechtsgrundlage aus grundrechtlich geschützten Rechtspositionen abzuleiten ist (st.Rspr., vgl. z.B. BVerwG, U.v. 25.1.2012 – 6 C 9.11 – juris Rn. 22; BayVGH, B.v. 23.9.2010 – 10 CE 10.1830 – juris Rn. 18), voraus, dass durch hoheitliches Handeln in ein subjektives Recht des Betroffenen eingegriffen und dadurch ein rechtswidriger Zustand geschaffen wird, der noch andauert (vgl. BVerwG, U.v. 26.8.1993 – 4 C 24/91 – juris Rn. 24). Dies lässt sich hier jedoch nicht feststellen, da zwar ein Eingriff vorliegt (aa.), hierdurch jedoch kein rechtswidriger Zustand geschaffen wurde (bb.).
26
aa. Die Weitergabe der Warnung des BLKA durch den Präsidenten des OLG München stellt einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG)) und die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der Antragstellerin dar.
27
Zwar handelt es sich lediglich um eine verwaltungsinterne Mitteilung, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war (zur für die Annahme eines Eingriffs bei behördlichen Äußerungen grundsätzlich vorauszusetzenden „Äußerung in der Öffentlichkeit“ vgl. BVerwG, U.v. 23.5.1989 – 7 C 2/87 – juris Rn. 51). Allerdings hatte die verwaltungsinterne Weitergabe der Warnung zur Folge, dass die berufliche Zusammenarbeit der Antragstellerin mit den Gerichten beeinträchtigt wurde, sodass eine Außenwirkung gegenüber der Antragstellerin besteht (vgl. zu diesem Kriterium OVG LSA, B.v. 10.11.2008 – 3 M 361/08 – juris Rn. 10).
28
Für eine Einordnung der Weitergabe der Warnung als Eingriff reicht es aus, dass die unmittelbar durch das Verhalten der gewarnten Gerichte eintretenden Beeinträchtigungen der Rechte der Antragstellerin für den Präsidenten des OLG München als Folge der Weitergabe der Warnung voraussehbar waren und von ihm bewusst in Kauf genommen wurden (vgl. BVerwG, U.v. 7.12.1995 – 3 C 23/94 – juris Rn. 22; Hillgruber in Kahl/Ludwigs, Handbuch des Verwaltungsrechts Band V, Einundzwanzigster Teil, IV., § 151 Rn. 56). Bezüglich der Einordnung als Eingriff ist es damit unerheblich, dass der Weitergabe der Warnung des BLKA durch den Präsidenten des OLG München keine Bindungswirkung gegenüber den Gerichten im OLG-Bezirk zukommt und der Präsident des OLG München auch keine Empfehlung gegenüber den Gerichten im Gerichtsbezirk ausspricht.
29
bb. Nach der im Verfahren der einstweiligen Anordnung (§ 123 Abs. 1 VwGO) gebotenen summarischen Prüfung wurde durch die Weitergabe der Dolmetscherwarnung jedoch kein rechtswidriger Zustand geschaffen, da ein Anlass jedenfalls in Form eines Gefahrenverdachts vorliegt (1), die Weitergabe der Warnung dem Sachlichkeits- und Neutralitätsgebot und dem Grundsatz der Richtigkeit und Vollständigkeit genügt (2), dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht (3) und auch das Unterbleiben der Anhörung der Antragstellerin vor der Weitergabe der Warnung nicht zu deren Rechtswidrigkeit führt (4).
30
(1) Für eine auf der allgemeinen Äußerungsbefugnis beruhende Warnmeldung einer staatlichen Stelle muss ein besonderer Anlass bestehen, der in Anlehnung an das Polizeirecht das Vorliegen einer Gefahr oder zumindest eines Gefahrenverdachts voraussetzt (vgl. BVerwG, U.v. 23.5.1989 – 7 C 2/87 – juris Rn. 58). Angesichts der Übersetzungen der aufgezeichneten Äußerungen der Antragstellerin liegt jedenfalls ein Gefahrenverdacht in Form von Zweifeln an der Verschwiegenheit der Antragstellerin über die bei ihrer Tätigkeit als Dolmetscherin und Übersetzerin für Gerichte erlangten Informationen und damit in Bezug auf die Zuverlässigkeit der Antragstellerin bei ihrer Tätigkeit vor.
31
Verschwiegenheit ist eine unabdingbare Voraussetzung für den Einsatz von Dolmetschern und Übersetzern in gerichtlichen Verfahren, sodass für diese eine Verschwiegenheitspflicht hinsichtlich der Umstände, die ihnen bei ihrer Tätigkeit zur Kenntnis gelangen, besteht (vgl. § 189 Abs. 4 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG); bei Beschuldigtenvernehmungen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren i.V.m. § 163a Abs. 5 Strafprozessordnung (StPO)). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Formulierung von § 189 Abs. 4 Satz 1 GVG als Sollvorschrift, da diese lediglich klarstellen soll, dass eine Verletzung der Vorschrift ohne prozessuale Folgen bleibt. Dies gilt umso mehr, als § 189 Abs. 4 GVG der Umsetzung von Art. 5 Abs. 3 RL 2020/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl EU Nr. L 280 S. 1) dient, die die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zur Sicherstellung eines vertraulichen Umgangs von Dolmetschern und Übersetzern mit den bei ihrer Tätigkeit erlangten Informationen anhält (vgl. Mayer in Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl. 2021, § 189 Rn. 13).
32
Die Äußerungen der Antragstellerin können dahingehend verstanden werden, dass sie ihrer Gesprächspartnerin zumindest in Aussicht gestellt hat, ihr möglicherweise Informationen über das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen ihren Sohn zukommen zu lassen. Die Haftbefehlseröffnungen, bei denen die Antragstellerin als Dolmetscherin tätig war, standen in Zusammenhang mit der Haftbefehlseröffnung gegenüber dem Sohn der Gesprächspartnerin. Daher besteht zumindest die Möglichkeit, dass die Antragstellerin Informationen in Bezug auf die Ermittlungen gegen den Sohn der Gesprächspartnerin hatte. Die Aussage der Antragstellerin, wonach sie „zwar nicht bei ihm anwesend[,] aber bei den anderen“ gewesen sei und dass „sie wisse[,] worum es geht“ könnte zwar auch dahingehend verstanden werden, dass die Antragstellerin lediglich zum Ausdruck bringen wollte, zu wissen, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Sohn der Gesprächspartnerin laufe. Allerdings erscheint es angesichts dessen, dass die Mutter des Hauptbeschuldigten der Antragstellerin zuvor berichtet hatte, dass eine Durchsuchung bei ihrem Sohn stattgefunden habe, wahrscheinlicher, dass sich die von der Antragstellerin angesprochenen Informationen nicht nur auf das Vorhandensein eines generellen oder auch des aktuellen „strafrechtlichen Problems“ des Hauptbeschuldigten beziehen, da die Antragstellerin wusste, dass ihre Gesprächspartnerin hiervon auch ohne die Information durch die Antragstellerin bereits Kenntnis hatte.
33
Dass die Äußerungen der Antragstellerin dahingehend verstanden werden können, dass sie ihrer Gesprächspartnerin zumindest in Aussicht gestellt hat, ihr möglicherweise Informationen über das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen ihren Sohn zukommen zu lassen, reicht aus, um jedenfalls einen Gefahrenverdacht zu begründen, zumal der Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit von bei Gericht und in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eingesetzten Dolmetschern und Übersetzern eine besonders hohe Bedeutung zukommt, um die Funktionsfähigkeit staatsanwaltschaftlicher und gerichtlicher Verfahren sicherzustellen (vgl. dazu, dass die Eingriffsschwelle bei staatlichen Warnungen umso niedriger anzusetzen ist, je größer der drohende Schaden ist, Hillgruber in Kahl/Ludwigs, Handbuch des Verwaltungsrechts Band V, Einundzwanzigster Teil, IV., § 151 Rn. 83).
34
Die Annahme eines Gefahrenverdachts entfällt auch nicht dadurch, dass das Telefonat einen beruflichen Anlass hatte, da sich die dargestellten Passagen nicht hierauf beziehen. Zugleich kommt es aufgrund des Ausreichens eines Gefahrenverdachts für die Rechtmäßigkeit der Weitergabe der Warnung nicht darauf an, dass bislang nicht aufgeklärt werden konnte, ob es im Nachgang zu dem aufgezeichneten Telefonat tatsächlich zu einem Informationsaustausch kam.
35
(2) Die Weitergabe der Warnung genügt auch dem Sachlichkeits- und Neutralitätsgebot und dem Grundsatz der Richtigkeit und Vollständigkeit. Insbesondere sind die im Schreiben des Präsidenten des OLG München behaupteten Tatsachen als zutreffend anzusehen (vgl. zu den Anforderungen in Bezug auf die Richtigkeit bei staatlichem Informationshandeln BVerfG, B.v. 26.6.2002 – 1 BvR 558/91, 1 BvR 1428/91 – juris Rn. 49, 59 ff.).
36
(a) Dies gilt nicht nur für die Tatsache, dass das BLKA vor dem Einsatz der Antragstellerin als Dolmetscherin warnt, sondern auch für die Formulierung, dass dies „auf Grund eines vom BLKA geführten Ermittlungsverfahrens“ erfolge. Diese Formulierung ist insofern mehrdeutig, als sie auch dahingehend verstanden werden kann, dass gegen die Antragstellerin selbst ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden sei. Bei mehrdeutigen Äußerungen ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei einem auf Widerruf gerichteten Anspruch – anders als bei einem auf Unterlassen künftiger Äußerungen gerichteten Anspruch – diejenige Interpretation der Äußerung zugrunde zu legen, die keine Verletzung des Persönlichkeitsrechts darstellt (vgl. BVerfG, B.v. 25.10.2005 – 1 BvR 1696/98 – NJW 2006, 207/208 f.). Damit besteht kein Anspruch auf Widerruf, wenn eine Interpretation der Äußerung möglich ist, die zu keiner Persönlichkeitsbeeinträchtigung führt. Dies ist hier der Fall, da die gewählte Formulierung noch dahingehend verstanden werden kann, dass sie sich auf den Einsatz der Antragstellerin im Rahmen des Ermittlungsverfahrens bezieht, der aufgrund ihrer Äußerungen in dem aufgezeichneten Telefonat letztlich den Gefahrenverdacht in Bezug auf ihre Zuverlässigkeit begründet hat. Schließlich wird gerade nicht von einem „gegen die Antragstellerin“ geführten Ermittlungsverfahren gesprochen. Demnach kommt es weder darauf an, ob bislang kein Ermittlungsverfahren gegen die Antragstellerin eingeleitet wurde, noch darauf, ob für die vorgenommene Auslegung ergänzend auf die dem Schreiben als Anlage beigefügte Warnung des BLKA zurückgegriffen werden kann, aus der klar hervorgeht, dass die Antragstellerin bei dem angesprochenen Ermittlungsverfahren als Dolmetscherin eingesetzt worden war.
37
(b) Ein Verstoß gegen das Gebot der Richtigkeit behördlicher Warnungen ergibt sich auch nicht aus der in der Warnung des BLKA gewählten Formulierung, dass es „in einem geführten Ermittlungsverfahren des BLKA […] zur Weitergabe von Informationen [kam]“. Denn nach Auffassung des Gerichts ist Prüfungsgegenstand des hiesigen Verfahrens allein die Weitergabe der Warnung durch das Schreiben des Präsidenten des OLG München und nicht die Warnung des BLKA selbst. Dieses Verständnis des Verfahrensgegenstands resultiert aus der Antragsschrift, die gegen den Freistaat Bayern, vertreten durch den Präsidenten des OLG München gerichtet ist, und sich auf das Schreiben des Präsidenten des OLG München vom 1. August 2022 bezieht. Durch dieses Schreiben wurde die Warnung des BLKA lediglich weitergegeben, da der Präsident des OLG München ausweislich des Wortlauts des Schreibens darüber informiert, dass das BLKA vor dem Einsatz der Antragstellerin als Dolmetscherin warne und bezüglich der genaueren Umstände der Warnung auf die dem Schreiben beigefügte Warnung des BLKA verweist. Da die Warnung des BLKA durch den Präsidenten des OLG München lediglich weitergegeben wurde, bedarf es keiner weiteren Betrachtung der Frage, ob der Präsident des OLG München selbst eine Warnung vor dem Einsatz einer Dolmetscherin aussprechen kann.
38
Wie das Gericht auch im Hinweis vom 16. Juni 2023 deutlich gemacht hat, ist die Rechtmäßigkeit der Warnung des BLKA nicht Gegenstand des hiesigen Verfahrens, da es aus Sicht des Gerichts nicht zu beanstanden ist, dass der Präsident des OLG München die Warnung des BLKA lediglich auf ihre Plausibilität hin überprüft hat, da zum einen das BLKA bezüglich der Erkenntnisse, die zum Aussprechen der Warnung geführt haben, die sachnähere Behörde ist und zum anderen die Weiterleitung durch den Präsidenten des OLG München keinerlei Bindungswirkung gegenüber den dem Gerichtsbezirk angehörenden Land- und Präsidialamtsgerichten hat, sondern diesen vielmehr eine eigenständige Prüfung ermöglichen sollte. Den Maßstab einer Plausibilitätskontrolle zugrunde legend, ist die Weitergabe der Warnung des BLKA nicht zu beanstanden, da Zweifel an der Zuverlässigkeit der Antragstellerin auch dann bestehen, wenn die Weitergabe von Informationen lediglich – wie in der Warnung des BLKA an späterer Stelle dargestellt – in Aussicht gestellt wird.
39
Die aus dieser Auffassung resultierende Folge, dass die Rechtmäßigkeit der Warnung des BLKA selbst im hiesigen Verfahren nicht zu überprüfen ist, stellt die Antragstellerin bezüglich deren Überprüfung auch nicht rechtsschutzlos, da sich die Antragstellerin – insbesondere nach Erteilung des gerichtlichen Hinweises – gegen die Warnung des BLKA selbst hätte wenden können. Dies gilt insbesondere dann, wenn man davon ausgeht, dass dem BLKA die Weitergabe der Warnung durch den Präsidenten des OLG München zuzurechnen ist (vgl. OVG LSA, B.v. 10.11.2008 – 3 M 361/08 – juris Rn. 12). Im hiesigen Verfahren kommt es damit auch nicht darauf an, ob der Antragstellerin aufgrund der Aussage, dass es zu einer Weitergabe von Informationen gekommen sei, in Bezug auf die Warnung des BLKA ein zu einer Präzisierung der Warnmeldung führender, am Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache zu messender Anspruch zustehen kann.
40
(3) Die Weitergabe der Warnung genügt den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, obwohl sie keine zeitliche Beschränkung enthält.
41
Ziffer 3.3 des Konzepts zur Zuverlässigkeitsprüfung von Personen für die Aufnahme in der Dolmetscherdatei (DOLME) sieht vor, dass Warnmeldungen in der Regel fünf Jahre und damit für einen begrenzten Zeitraum gespeichert werden. Sofern in diesem Zeitraum der Grund für die Warnmeldung entfällt, weil sich z.B. die Verdachtsmomente letztlich nicht bestätigen, informiert das BLKA diejenigen Stellen, denen die Warnung zugleitet worden war, über deren Aufhebung. Soweit dies möglich ist, werden dabei auch die Gründe, die zur Aufhebung der Warnung geführt haben, mitgeteilt. Falls sich bezüglich der Warnung des BLKA Änderungen ergeben sollten, würde der Präsident des OLG München demnach hierüber informiert. Es ist auch davon auszugehen, dass er die Aufhebung der Warnung an den gleichen Empfängerkreis weiterleiten würde wie die Warnung selbst, zumal er die entsprechenden Stellen auch darüber informiert hat, dass von der Antragstellerin Einwendungen gegen die Weitergabe der Warnung erhoben und ein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO gestellt wurde.
42
(4) Dass die Antragstellerin vor der Übermittlung der Warnung durch den Präsidenten des OLG München nicht angehört wurde, führt nicht dazu, dass diese im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO rückgängig zu machen wäre.
43
Art. 28 Abs. 1 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG) ist weder unmittelbar noch analog anwendbar (vgl. BayVGH, B.v. 14.2.2003 − 5 CE 02.3212 − juris Rn. 34). Ob das Rechtsstaatsprinzip bzw. die Grundrechte allgemein eine Gelegenheit zur Stellungnahme gebieten, ist in Bezug auf Äußerungen öffentlicher Träger im Rahmen staatlicher Informationstätigkeit höchstrichterlich bisher nicht abschließend geklärt (vgl. BayVGH, B.v. 14.2.2003, − 5 CE 02.3212 – juris Rn. 34 unter Verweis auf BVerwG, B.v. 13.3.1991 − 7 B 99/90 − juris Rn. 8, dieses wiederum bezugnehmend auf BVerwG, U.v. 23.5.1989 − 7 C 2/87 − juris Rn. 82). Angesichts dessen ist ein Widerruf des Schreibens des Präsidenten des OLG München im Wege der einstweiligen Anordnung allein wegen der unterbliebenen Anhörung der Antragstellerin nicht angezeigt (vgl. BayVGH, B.v. 14.2.2003 – 5 CE 02.3212 − juris Rn. 34).
44
Auch wenn man davon ausgehen wollte, dass das Verfassungsrecht eine Anhörung gebietet, wäre das Unterbleiben der Anhörung als heilbarer Formfehler anzusehen (vgl. BVerwG, U.v. 23.5.1989 − 7 C 2/87 − juris Rn. 82; BayVGH, B.v. 14.2.2003 – 5 CE 02.3212 − juris Rn. 34) und ein etwaiger Anhörungsmangel zwischenzeitlich jedenfalls geheilt worden. Denn wie sich aus dem Schreiben des Antragsgegners vom 7. November 2022 ergibt, wurde der Antragsgegnerin zwischenzeitlich Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Demnach kommt es auch nicht darauf an, ob eine Heilung in entsprechender Anwendung von Art. 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BayVwVfG auch in einem Austausch von Sachäußerungen in einem gerichtlichen Eilverfahren bestehen kann (befürwortend OVG Münster, B.v. 14.6.2010 − 10 B 270/10 − juris Rn. 7; VG Berlin, B.v.28.5.2020 − VG 1 L 95/20 − beck online, Rn. 23; ablehnend jedoch das BVerwG, siehe nur B.v. 17.8.2017 − 9 VR 2/17 − juris Rn. 10).
45
cc. Da ein Anordnungsanspruch bereits nicht glaubhaft gemacht wurde, kann letztlich offenbleiben, ob eine vollständige Vorwegnahme der Hauptsache angesichts einer Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz der Antragstellerin ausnahmsweise geboten wäre.
46
Eine vollumfängliche Vorwegnahme der Hauptsache ist nur in Ausnahmefällen möglich, da § 123 VwGO grundsätzlich nur das Treffen vorläufiger Regelungen ermöglicht. Im Interesse effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) kann es im Einzelfall geboten sein, die Hauptsache vorwegzunehmen, sofern eine Versagung vorläufigen Rechtsschutzes den Antragsteller schwer und unzumutbar oder irreparabel belasten würde (vgl. BayVGH, B.v. 7.4.2021 – 4 CE 21.601 – juris Rn. 19; Kuhla in BeckOK VwGO, Stand 1.7.2022, § 123 Rn. 156). Dies ist jedoch allein beim Verlust wirtschaftlicher Vorteile für die Dauer des Hauptsacheverfahrens noch nicht anzunehmen, sondern kommt vielmehr (erst) bei einer wirtschaftlichen Existenzgefährdung in Betracht (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 27.4.2022 – 14 ME 116/22 – juris Rn. 12 ff.). Diese ist jedoch substantiiert darzulegen und – als Anordnungsgrund eingeordnet – glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO).
47
Das Gericht hegt Zweifel daran, dass sich aus dem Vortrag der Antragstellerin tatsächlich eine wirtschaftliche Existenzgefährdung ergibt. Es wurde vorgetragen, dass die Antragstellerin dadurch, dass sie nicht mehr als Dolmetscherin bzw. Übersetzerin eingesetzt wird, zwei Drittel ihrer Einnahmen eingebüßt habe. Angesichts der aus dem Auszug aus dem Kassenbuchführungsverfahren glaubhaft gemachten hohen Einnahmen aus den Vorjahren aus der Dolmetscher- bzw. Übersetzertätigkeit ist davon auszugehen, dass bei einem Wegfall von zwei Dritteln der Einnahmen nach wie vor Einnahmen in einer nicht unerheblichen Höhe bestehen, sodass die – wenn auch äußerst erheblichen – finanziellen Einbußen der Antragstellerin mangels Vortrags zum etwaigen Fehlen von Rücklagen, zum Bestehen nicht unerheblicher laufender finanzieller Verpflichtungen oder ähnlicher Umstände wohl noch nicht das Maß einer wirtschaftlichen Existenzgefährdung erreicht haben dürften.
48
dd. Soweit die Beiziehung von Strafverfahrensakten, der (Verfahrensakte der) Telekommunikationsüberwachung und die Anforderung der ursprünglichen Verschriftung des Telefonats sowie der Originalfassungen der Übersetzungen beantragt wurde, erachtet das Gericht dies jeweils nicht als notwendig für die Entscheidungsfindung). Zwar gilt der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) trotz des Verweises von § 123 Abs. 3 VwGO auf § 920 Abs. 2, § 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) auch im Verfahren der einstweiligen Anordnung, sodass eine Beweiserhebung im Verfahren nach § 123 VwGO grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist (vgl. Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand 43. EL August 2022, § 123 VwGO Rn. 95 ff.). Jedoch sind die durch den Anordnungsgrund geprägten besonderen Anforderungen an das Verfahren nach § 123 VwGO zu beachten. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass langwierige Ermittlungen den Zweck des Eilverfahrens konterkarieren und die behauptete Dringlichkeit negativ präjudizieren (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 56). Ob und welche Beweise erhoben werden, entscheidet daher das Gericht unter Berücksichtigung des jeweiligen Erkenntniswerts und der jeweiligen Erreichbarkeit der Beweismittel sowie der Eilbedürftigkeit der Entscheidung (vgl. BayVGH B.v. 8.7.2004 – 11 CE 04.1527 – juris Rn. 7; vgl. zudem Puttler in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 123 Rn. 93). Diesen Maßstab zugrunde legend, wurde den Beweisanträgen vorliegend keine Folge gegeben.
49
Dies gilt zunächst für die beantragte Beiziehung der Akten der beiden Strafverfahren, in denen die Antragstellerin bei der Haftbefehlseröffnung eingesetzt wurde. Der Bevollmächtigten der Antragstellerin geht es mit dem Antrag ausweislich ihres Schriftsatzes um den Beweis, dass die einzelnen Strafverfahren nicht in Zusammenhang stehen. Dies soll sich laut der Bevollmächtigten daraus ergeben, dass der Name des Hauptbeschuldigten nicht in den Akten der anderen beiden Strafverfahren auftauche. Ein Zusammenhang zwischen Verfahren gegen einzelne Beschuldigte setzt jedoch nicht zwingend voraus, dass deren Namen in den Akten der Verfahren gegen andere Beschuldigte auftauchen, sondern kann sich auch aus anderen Umständen ergeben.
50
Es wurde zudem davon abgesehen, die ursprüngliche Verschriftung des Telefonats sowie die Originalfassungen der Übersetzungen des aufgezeichneten Telefonats anzufordern. Dem Beweisantrag ist nicht zu entnehmen, warum Anlass zu der Annahme bestehen sollte, dass die in der Akte enthaltene Verschriftlichung des Telefonats und der Übersetzungen unrichtig oder unvollständig sein sollte. Da die Übersetzungen den genauen Wortlaut des Telefonats abgesetzt und in kursiver Schrift wiedergeben und Anmerkungen der Dolmetscherinnen als solche gekennzeichnet werden, ist insofern – abgesehen von der Verwendung des Artikels „der“ (siehe hierzu sogleich unten) – von einem „Beweisantrag ins Blaue hinein“ auszugehen.
51
Auch die Beiziehung der (Verfahrensakte der) Telekommunikationsüberwachung, im Rahmen derer es zur Aufzeichnung des Telefonats kam, ist aus Sicht des Gerichts nicht erforderlich. Ermöglicht werden soll hierdurch die Übersetzung des Telefonats durch einen weiteren Dolmetscher, der keine Kenntnis von dem der Antragstellerin gemachten Vorwurf hat. Das Gericht erachtet eine erneute Übersetzung des Telefonats nicht notwendig für die Entscheidung im hiesigen Eilverfahren. Das Telefonat wurde insgesamt bereits drei Mal übersetzt. Hierbei waren zwei verschiedene, jeweils öffentlich bestellte und beeidigte Übersetzerinnen tätig. Die Übersetzungen sind zudem inhaltlich im Wesentlichen deckungsgleich. Dass die zweite Übersetzerin vor Anfertigung der Übersetzung darüber informiert worden war, dass die Übersetzung der Überprüfung diene, ob die Weitergabe von Informationen angeboten worden bzw. bereits erfolgt sei, begründet aus Sicht des Gerichts mangels Anhaltspunkten für eine „tendenziöse“ Übersetzung keine Notwendigkeit einer erneuten Übersetzung in Unkenntnis dieses Umstands, zumal der Anlass einer Übersetzung (z.B. Beschuldigtenvernehmung) öffentlich bestellten Dolmetschern häufig im Vorfeld bekannt sein dürfte. Etwas anderes ergibt sich unabhängig davon, ob im Russischen keine Artikel existieren, auch nicht daraus, dass die Antragstellerin laut Übersetzung sagte, bei „den anderen“ und nicht bei „anderen“ Beschuldigten anwesend gewesen zu sein, da beide Übersetzungen es möglich erscheinen lassen, dass die Antragstellerin über vertrauliche Informationen verfügte, deren Weitergabe sie zumindest in den Raum stellte und das Gericht die Verwendung des Artikels auch nicht als unzulässige Wertung der Übersetzerin erachtet.
52
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
53
4. Der festgesetzte Streitwert beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz in Verbindung mit der Empfehlung in Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Es wurde der volle für das Hauptsacheverfahren anzunehmende Streitwert angesetzt, da die Hauptsache durch das Eilverfahren vorweggenommen wird.