Inhalt

VG München, Urteil v. 02.03.2023 – M 11 K 20.6166
Titel:

Erweiterung eines Wohnhauses im Außenbereich

Normenkette:
BauGB § 35 Abs. 3 S. 1 Nr. 7, Abs. 4 S. 1 Nr. 5
Leitsatz:
Die Angaben der Bauherrenseite darf die Bauaufsichtsbehörde nicht einfach "blind" übernehmen. Es muss anhand der im Genehmigungsverfahren von Bauherrenseite gemachten Angaben zumindest eine hinreichend konkrete und verfestigte Prognose der vorgetragenen Lebensplanung möglich sein und eine auf Dauer angelegte Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft plausibel erscheinen. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Gemeindeklage, Vorbescheid, Aufstockung eines im Außenbereich gelegenen Wohngebäudes, Angemessenheit der Wohnraumerweiterung mangels Plausibilität der vorgetragenen Lebensplanung (Familiengründung einer gerade volljährigen, noch in Ausbildung befindlichen Tochter) verneint, Wohngebäude, Außenbereich, Erweiterung, Angemessenheit, Wohnbedürfnis, Wohnraumbedarf, Splittersiedlung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 27.03.2024 – 1 ZB 23.1548 , 1 ZB 23.1584
Fundstelle:
BeckRS 2023, 22544

Tenor

I.    Der Bescheid des Landratsamts vom 10. November 2020 wird aufgehoben.
II.    Der Beklagte und der Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
III.    Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die klagende Gemeinde wendet sich im vorliegenden Verfahren gegen einen Vorbescheid, der dem Beigeladenen unter Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens erteilt wurde. Gegen eine zwischenzeitlich unter Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens erteilte Baugenehmigung ist eine weitere Klage der Klägerin anhängig. Wegen der weiteren Einzelheiten wird diesbezüglich auf das Parallelverfahren M 11 K 22.670 Bezug genommen.
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Der Beigeladene ist Eigentümer des im planungsrechtlichen Außenbereich gelegenen Grundstücks Fl.Nr. … der Gemarkung … (Vorhabengrundstück), auf dem das Landratsamt … (Landratsamt) im Jahr 2012 ein Einfamilienhaus genehmigte als Ersatzbau für ein durch Brand zerstörtes, im Jahr 1957 genehmigtes Wohngebäude. Unmittelbar nördlich des Wohngebäudes befindet sich eine Doppelgarage mit einem Aufenthaltsraum im Untergeschoss, welche bereits Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht und dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof war (Az. M 11 K 13.3251 bzw. Az. 1 B 16.2375).
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Unter dem 7. April 2020 beantragte der Beigeladene einen Bauvorbescheid für die Erweiterung des Bestandsgebäudes zu einem Zweifamilienhaus. Abgefragt wurde die Genehmigungsfähigkeit einer zusätzlichen Geschossfläche von 103 qm für ein zweites Vollgeschoss im Obergeschoss (Frage 1), einer zusätzlichen Wohnfläche von 85 qm für eine zweite Wohneinheit (Frage 2) und der geplanten Höhenentwicklung (Frage 3). Zur Erläuterung wurde ausgeführt, dass die Wohnfläche des Bestandsgebäudes mit 134,62 qm nicht mehr dem Wohnstandard für eine Zweifamilienbewohnung entspreche. Im neuen Geschoss werde eine Einliegerwohnung mit einer Wohnfläche von ca. 85 qm für die volljährige Tochter des Bauherrn geschaffen, was eine angemessene Wohnraumerweiterung im Sinne des § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB darstelle.
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Nach der Eingabeplanung ist die Aufstockung des bislang eingeschossigen Flachdachgebäudes um ein weiteres Flachdachgeschoss mit einer, über eine Außentreppe erreichbaren Wohneinheit vorgesehen. Die Eingabeplanung weist für die Wohnung im Erdgeschoss u.a. zwei Kinderzimmer und eine Gesamtwohnfläche von ca. 134,62 qm aus; Flächenangaben zu einer im Erdgeschoss entlang der gesamten Westfassade verlaufenden, ausweislich der Ansicht Nord größtenteils überdachten Balkon-/Terrassenfläche fehlen. Zu einem im Grundriss „Keller Bestand“ als „Zimmer (Bestand)“ bezeichneten Raum unterhalb der Doppelgarage ist vermerkt, dass dieser ca. 21 qm große Raum nicht Genehmigungsbestandteil sei. Der Ansicht West lässt sich im Obergeschoss eine Dachterrasse mit Geländer entnehmen; der Grundriss „Oberschoss Erweiterung“ enthält hierzu jedoch keine Eintragungen oder Angaben. Die Wohnfläche der Wohnung im Obergeschoss wird mit ca. 84,19 qm angegeben; Kinderzimmer sind insoweit nicht vorgesehen.
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Der Gemeinderat der Klägerin verweigerte in der Sitzung vom 12. Mai 2020 das gemeindliche Einvernehmen zu dem Vorhaben. Das zur Erweiterung vorgesehene Wohngebäude sei zwar im Jahr 2012 zulässigerweise errichtet worden und die Höchstzahl von zwei Wohnungen werde durch das Vorhaben nicht überschritten. Die geplante Erweiterung sei aber im Verhältnis zum vorhandenen Wohngebäude wie auch unter Berücksichtigung der Wohnbedürfnisse nicht mehr angemessen i.S.d. § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB, da sich in Bezug auf die Geschossfläche eine Erweiterung von ca. 58,19% und in Bezug auf die Wohnfläche von ca. 62,14% ergebe. Ergänzend wurde darauf hingewiesen, dass sich im Kellergeschoss der Garage Räume befänden, die der Hauptnutzung dienen würden.
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In der Folge hörte das Landratsamt den Beigeladenen mit Schreiben vom 16. Juni 2020 zu einer Ablehnung seines Antrags an. Es wurde ausgeführt, dass für die zusätzliche Wohneinheit im Dachgeschoss bei einem Ein-Personen-Haushalt nur eine Wohnfläche von 60 qm als angemessen betrachtet werden könne.
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Daraufhin erläuterte der Beigeladene mit Schreiben vom 7. Juli 2020 die Gründe für die geplante Erweiterung des Hauses auszugsweise wie folgt:
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„Meine 18-jährige Tochter I… hat in diesem Jahr ihre schulische Ausbildung beendet und beabsichtigt, ihr Zuhause in … langfristig zu behalten. Sie ist sehr heimat- und familienverbunden und liebt ihr Zuhause. Sie hat seit mehr als 4 Jahren einen festen Freund, mit dem sie in einer eheähnlichen Gemeinschaft zusammen ist und mit dem sie eine Familie gründen will. I… und ihr Freund wohnen bereits mehrheitlich bei uns und wir verbringen regelmäßig die Urlaube zusammen. […]“
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Ergänzend wurde unter dem 16. Juli 2020 eine von der Tochter I… des Beigeladenen unterschriebenen Erklärung folgenden Inhalts vorgelegt:
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„Hiermit kann ich Ihnen bestätigen, dass ich in jedem Fall weiter im Haus meiner Eltern wohnen möchte. Allerdings ist mein derzeitiges Zimmer sehr klein. Wenn mein Freund und ich gleichzeitig lernen müssen, haben wir kaum Platz. Außerdem ist es sehr hellhörig zum Nebenraum, in dem meine Schwester wohnt. Obwohl die Schiebetüre seit einigen Jahren verschlossen ist und abgedämmt wurde, hört man jedes Wort.“
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Deshalb wäre ein abgetrennter Bereich mit mehr Wohnraum für mich und meinen Freund, mit dem ich eine Familie gründen will, erstrebenswert. Wenn wir Kinder bekommen, wäre es auch ideal weiter zu Hause zu wohnen, weil ich dann weiß, dass meine Kinder bei meinen Eltern gut versorgt wären.
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In diesem Jahr schließe ich die Fachoberschule … ab und werde mir eine Lehrstelle in der Umgebung suchen. Nach dem Abschluss dieser praktischen Ausbildung plane ich noch ein Aufbaustudium.“
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Mit Schreiben vom 17. September 2020 hörte das Landratsamt die Klägerin zur Ersetzung ihres Einvernehmens an. Die Klägerin teilte daraufhin mit Schreiben vom 20. Oktober 2020 mit, dass sie weiterhin die Auffassung vertrete, dass das Vorhaben nicht genehmigungsfähig sei. Ergänzend zum bisherigen Vorbringen wurde näher ausgeführt, dass das Vorhaben mit einem weiteren Geschoss Belange des Naturschutzes beeinträchtige und das Orts- und Landschaftsbild massiv verunstalte.
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Mit Bescheid vom 10. November 2020 erteilte das Landratsamt dem Beigeladenen den beantragten Bauvorbescheid unter Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens. Dabei wurde unter Ziff. 2.3 darauf hingewiesen, dass etwaige künftig geplante Dachterrassen im Hinblick auf die Angemessenheit der Erweiterung auf die Wohnfläche anzurechnen und im Baugenehmigungsverfahren entsprechend zu berücksichtigen seien. In den Gründen des Bescheids wurde näher ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB gegeben seien. Mit der Aufstockung gehe keine erhebliche qualitative Änderung des im Jahr 2012 genehmigten Bestandsgebäudes einher; die Kubatur des Bestandsgebäudes werde um etwa 48% und somit noch in einem angemessenen Rahmen erweitert. Die Belange des Naturschutzes und das Orts- und Landschaftsbild würden durch die Aufstockung nicht so intensiv beeinträchtigt oder gar verunstaltet, dass dies zu einer Versagung der beantragten Genehmigung führe. Die untere Naturschutzbehörde habe zu dem Vorhaben das naturschutzrechtliche Benehmen in Aussicht gestellt, nachdem sich die versiegelte Fläche – zusätzliche notwendige Stellplätze ausgenommen – künftig nicht weiter erhöhe. Das Bestandsgebäude wirke bereits jetzt – wenn auch niedriger und damit weniger intensiv – in die Landschaft hinein; zudem sei es von mindestens zwei Seiten von hohen Bäumen umgeben, was die optische Wirkung auch bei einer Aufstockung abmildere. Weitere öffentliche Belange könnten dem Vorhaben nicht entgegengehalten werden. Die Wohnraumerweiterung sei im Hinblick auf die objektiven Wohnbedürfnisse angemessen. Mit Schreiben vom 7. April [gemeint: Juli] und 16. Juli 2020 sei von Bauherrenseite dargelegt worden, dass die zweite Wohneinheit als abgetrennter Wohnbereich für die volljährige Tochter und deren Lebenspartner dienen solle. Die Berechnung der angemessenen Wohnfläche erfolge nach den Vorschriften der Wohnraumförderung und unter zusätzlicher Berücksichtigung der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts München. Demnach sei die beantragte Wohnfläche für zwei Personen noch als angemessen einzustufen. Eine reine Beurteilung von Verhältniswerten in Bezug auf Geschossfläche und Wohnfläche ohne die Betrachtung der objektiven Wohnbedürfnisse sei nicht möglich. Aufgrund der Schreiben vom 7. April [gemeint: Juli] und 16. Juli 2020 müsse davon ausgegangen werden, dass sowohl die bestehende als auch die zweite Wohneinheit vom bisherigen Eigentümer bzw. dessen Tochter selbst genutzt werde. Das Vorhaben sei daher bauplanungsrechtlich zulässig und auch die formellen Voraussetzungen für die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens lägen vor. Der Bescheid wurde der Klägerin am 18. November 2020 und dem Beigeladenen am 27. November 2020 zugestellt.
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Die Klägerin ließ durch ihre Bevollmächtigte am 26. November 2020 Klage erheben. Sie beantragt,
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den Bescheid des Landratsamts … vom 10. November 2020 aufzuheben.
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Zur Begründung wurde mit Schriftsatz vom 8. Februar 2021 ausgeführt, der Beklagte gehe zu Unrecht von einer Teilprivilegierung des Vorhabens nach § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB aus. Dieser Teilprivilegierungstatbestand komme schon deshalb nicht in Betracht, weil das Bestandsgebäude nach § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 BauGB genehmigt worden und eine Kombination der eng auszulegenden Teilprivilegierungstatbestände unzulässig sei; andernfalls werde die Regelung des § 35 Abs. 4 Satz 3 BauGB konterkariert. Dies müsse auch dann gelten, wenn zwischen der Anwendung der verschiedenen Einzelregelungen einige wenige Jahre lägen. Insoweit sei auch in den Blick zu nehmen, dass die Wohnfläche des bis 2009 bestehenden, mit 120 qm nicht auffällig kleindimensionierten Ursprungsgebäudes mit der neuerlichen Genehmigung annähernd verdoppelt worden sei. Ungeachtet dessen seien die Voraussetzungen des § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5b BauGB nicht erfüllt. Unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse stelle sich die Aufstockung als eine von diesem Teilprivilegierungstatbestand nicht gedeckte qualitative Veränderung des Gebäudes dar. Bei dem Bestandsgebäude handele es sich um einen Bungalow, der sich in das sensible hängige Gelände des Landschaftsschutzgebiets einfüge. Die mit 222,42 qm ohnehin schon nicht geringfügige Geschossfläche werde mit der Aufstockung um 103,63 qm (ca. 47%) erweitert und das Gebäude werde infolge der Erhöhung der Wandhöhe auf 8,30 m deutlich massiver in die schutzwürdige Umgebung hineinwirken. Jedenfalls aber sei die Erweiterung unter Berücksichtigung der Wohnbedürfnisse nicht angemessen, da die Orientierungswerte des § 39
II. WoBauG überschritten würden. Die Berechnung des Bauherrn unterschlage die bestehende Terrasse sowie die geplante Dachterrasse, die bei der Anwendung der Wohnflächenverordnung mit einem Viertel bis zur Hälfe in die Wohnflächenberechnung einzufließen hätten. Zudem befinde sich im Souterrain der Garage noch ein belichteter Aufenthaltsraum mit 21 qm. Nicht tragfähig sei zudem die Argumentation, dass die zweite Wohnung der noch zu gründenden Familie der Tochter dienen solle, da kein Kinderzimmer ausgewiesen werde. Als sonstiges Vorhaben i.S.d. § 35 Abs. 2 BauGB widerspreche dieses den Darstellungen des Flächennutzungsplans (private Grünfläche). Nicht zuletzt wegen der Notwendigkeit der Schaffung weiterer Stellplätze im Landschaftsschutzgebiet würden auch Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege beeinträchtigt. Schließlich lasse die Zulassung einer weiteren Wohneinheit die Verfestigung einer Splittersiedlung befürchten.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Hierzu wurde mit Schriftsatz vom 11. März 2021 im Wesentlichen vorgetragen, dass eine Erweiterung nach § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB des im Jahr 2012 errichteten Ersatzbaus i.S.d. § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 BauGB nicht von vornherein ausscheide. Nach 8 Jahren stelle sich die familiäre Situation anders als im Jahre 2012 dar und rechtfertige daher eine Neubetrachtung des Vorhabens, was auch die Erweiterung auf eine zweite Wohneinheit i.S.d. § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB einschließe. § 35 Abs. 4 Satz 3 BauGB sei vorliegend nicht relevant, da hier kein Ersatzbau, sondern eine Erweiterung i.S.d. § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB beantragt sei. Die Angemessenheit des Vorhabens in Bezug zum vorhandenen Wohngebäude sei zu bejahen. Vorliegend solle ein modernes, einstöckiges Flachdachgebäude um eine zweite Wohneinheit durch Teilaufstockung erweitert werden. Hierdurch werde das Gebäude nicht in seiner grundlegenden Qualität verändert und im Übrigen außenbereichsschonend sowie grundflächensparsam erweitert. Die Wohnraumerweiterung sei unter Heranziehung der Orientierungswerte des § 39
II. WoBauG auch angemessen im Hinblick auf die objektiven Wohnbedürfnisse. Die Bestandswohnung werde künftig von einem Dreipersonenhaushalt genutzt und die beantragte Erweiterung für den Zwei-Personenhaushalt bestehend aus der Tochter und deren Lebensgefährten sei mit einer Wohnfläche von 84,18 qm angemessen. Insgesamt werde eine Wohnfläche von 218,80 qm generiert. Bereits die Bestandswohnung im Erdgeschoss sei um 4,62 qm größer als der Orientierungswert (130 qm); auch insgesamt werde der Orientierungswert (200 qm) mit 18,80 qm nur knapp überschritten. Im Hinblick auf die einzelnen, objektiven Wohnbedürfnisse für einen Drei- bzw. ZweiPersonenhaushalt und unter Berücksichtigung, dass der Gesetzgeber eine Erweiterung auf höchstens zwei Wohnungen explizit vorsehe, die dadurch entstehenden Wohnungen den objektiven Wohnbedürfnissen der Bewohner jedoch auch entsprechen sollten, würden sich die Wohnflächen der durch die Erweiterung entstehenden Wohneinheiten noch als angemessen darstellen. Da es sich bei den Flächenangaben des II. WoBauG nur um Orientierungswerte handle, entspräche es zudem nicht der Billigkeit, eine Erweiterung nach § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB lediglich aufgrund der Überschreitung dieser Orientierungswerte kategorisch auszuschließen. Vielmehr sei stets eine Einzelfallbetrachtung vorzunehmen. Im Rahmen der künftigen, konkreten Familien- bzw. Kinderplanung der Tochter wäre allerdings zunächst ein Wohnungswechsel zwischen der Wohneinheit im EG und der künftigen Wohneinheit im OG in Erwägung zu ziehen bzw. zu prüfen. Auf das Fehlen eines Kinderzimmers komme es daher derzeit nicht an. Eine Dachterrasse sei weder abgefragt noch in den Plänen zum Vorbescheid dargestellt und somit nicht maßgebend. Der Aufenthaltsraum im Souterrain der Garage sei aufgrund seiner Eigenständigkeit für das Vorhaben ebenfalls unerheblich.
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Der Beigeladene beantragt ebenfalls,
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die Klage abzuweisen.
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Hierzu wurde mit Schriftsatz des Bevollmächtigten des Beigeladenen vom 20. Februar 2023 – sowohl zum vorliegenden als auch zum Klageverfahren M 11 K 22.670 betreffend die zwischenzeitlich erteilte Baugenehmigung – im Wesentlichen vorgetragen, dass das Grundstück bereits in vierter Generation im Eigentum der Familie des Beigeladenen stehe und seit frühester Kindheit von diesem bzw. seit 2000 auch von dessen Familie bewohnt werde. Die beiden Töchter des Beigeladenen, welche im gemeinsamen Familienanwesen wohnen würden, seien zwischenzeitlich 19 und 22 Jahre alt. Da die ältere Tochter des Beigeladenen auch weiterhin in der Gemeinde wohnen, aber naturgemäß einen eigenen Hausstand begründen wolle, habe der Beigeladene die Erteilung eines Vorbescheids sowie einer darauf aufbauenden Baugenehmigung zur Schaffung einer zweiten Wohneinheit beantragt, welche von der Tochter und deren Lebenspartner bewohnt werden solle. Das Vorhaben sei bauplanungsrechtlich zulässig. Der Teilprivilegierungstatbestand des § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB sei anwendbar und dessen Voraussetzungen lägen vor. Es handele sich nicht um eine unzulässige „Kettenprivilegierung“, da die Annahme, der Beigeladene habe bereits im Jahr 2009, als sich seine Tochter noch im Grundschulalter befunden habe, eine entsprechende Aufstockung geplant, völlig lebensfremd wäre. Die genehmigte Aufstockung des eingeschossigen Flachdachbaus um ein Terrassengeschoss mit Flachdach stelle lediglich eine Weiterentwicklung des Bestands und keine qualitative Veränderung des Bestandsgebäudes dar. Auch in Bezug auf die Wohnbedürfnisse sei von einer Angemessenheit i.S.d. § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5b BauGB auszugehen. Die Bestimmungen der Wohnraumfördergesetze dürften nur als Orientierung herangezogen, nicht aber mathematisch-schematisch angewandt werden. In Übertragung eines Urteils des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. September 2020 wäre in Bayern das Merkblatt über die Förderung von Eigenwohnraum im bayerischen Wohnungsbauprogramm sowie im bayerischen Zinsverbilligungsprogramm des bayerischen Staatsministeriums für Wohnen, Bau und Verkehr als Orientierungshilfe für die Beurteilung der Angemessenheit einer Wohnflächenerweiterung i.S.d. § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5b BauGB heranzuziehen. Demnach sei für einen Zweipersonenhaushalt eine Wohnfläche von 75 bis 100 qm als angemessen anzusehen, für jeden weiteren Haushaltsangehörigen könne diese Fläche um zusätzliche 15 qm erweitert werden. Hierbei könne auch der weiteren Familienplanung mit einer entsprechenden zusätzlichen Wohnfläche Rechnung getragen werden. Die streitgegenständliche Wohnfläche von 85 qm stelle sich damit als angemessen dar, zumal seitens der 22-jährigen Tochter auch das Interesse an einer weiteren Familienplanung zu berücksichtigen sei. Ein separates Kinderzimmer sei in der Planung des Vorhabens [gemeint ist insoweit die Planung der Baugenehmigung] bereits vorhanden.
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Die Kammer hat am 2. März 2023 über beide Klagen der Klägerin (M 11 K 20.6166 und M 11 K 22.670) mündlich verhandelt. Wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf die Niederschrift verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten in diesem Verfahren und im Verfahren M 11 K 22.670 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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I. Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Landratsamts vom 10. November 2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Der erteilte Vorbescheid verletzt die Klägerin aufgrund der rechtswidrigen Ersetzung ihres Einvernehmens in ihrer Planungshoheit (vgl. § 36 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 BauGB; Art. 28 Abs. 2 GG und Art. 11 Abs. 2 BV). Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Bescheids ist im Falle der Klage einer Gemeinde gegen eine einem Dritten erteilte bauaufsichtliche Genehmigung der Zeitpunkt des Bescheidserlasses (vgl. BVerwG, U.v. 9.8.2016 – 4 C 5/15 – juris Rn. 12).
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Das – sich unstreitig im Außenbereich befindende – Vorhaben ist bauplanungsrechtlich unzulässig. Es beeinträchtigt als sonstiges Vorhaben nach § 35 Abs. 2 BauGB öffentliche Belange im Sinne des § 35 Abs. 3 BauGB (nachfolgend unter Ziff. 1). Die Voraussetzungen einer Teilprivilegierung nach § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB liegen nicht vor (nachfolgend unter Ziff. 2).
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1. Das geplante Wohnbauvorhaben ist im Außenbereich nicht nach § 35 Abs. 2 BauGB zulässig, weil es öffentliche Belange beeinträchtigt.
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Das Vorhaben lässt zumindest die Verfestigung einer Splittersiedlung i.S.d. § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 BauGB befürchten. Die beantragten Baumaßnahmen führen zu einer Nutzungsintensivierung durch die Schaffung einer weiteren Wohneinheit im Obergeschoss des in einer Einzellage im Außenbereich bestehenden Anwesens, in dem sich bislang lediglich eine Wohneinheit befindet. In der näheren Umgebung finden sich dabei ausweislich aktueller Luftbildaufnahmen aus dem Geodatenportal Bayern Atlas weitere Siedlungssplitter, für die das Vorhaben eine weitreichende oder doch nicht genau übersehbare Vorbildwirkung besitzt. Hierfür reicht es aus, dass bei einer Zulassung des Vorhabens weitere ähnliche Vorhaben nicht verhindert werden könnten und dadurch der Außenbereich weiter zersiedelt werden würde (vgl. BVerwG, B.v. 24.6.2004 – 4 B 23.04 – BauR 2005, 73).
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Auf die von der Klägerin ferner aufgeworfene Frage, ob durch die geplante Aufstockung des bislang eingeschossigen, in einem Hangbereich im Landschutzgebiet gelegenen Gebäudes auch öffentliche Belange des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB beeinträchtigt werden, kommt es damit nicht mehr entscheidungserheblich an.
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2. Entgegen der Auffassung des Beklagten lagen die Voraussetzungen des Teilprivilegierungstatbestands des § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB zum maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheidserlasses nicht vor.
33
Zwar wurden im Nachgang der behördlichen Anhörung vom 16. Juni 2020, in der auf die fehlende Angemessenheit des Wohnraumbedarfs für einen Ein-Personenhaushalt der Tochter hingewiesen wurde, Erklärungen des Beigeladenen und seiner Tochter I… vom 7. bzw. 16. Juli 2020 nachgereicht, wonach die Tochter des Beigeladenen bereits zum damaligen Zeitpunkt seit einigen Jahren mit ihrem Freund in einer „eheähnlichen Gemeinschaft“ gelebt haben soll und bereits damals beabsichtigt habe, eine eigene Familie zu gründen. Diese Angaben der Bauherrenseite darf die Bauaufsichtsbehörde jedoch nicht einfach „blind“ übernehmen. Angesichts des Umstands, dass die ledige Tochter des Beigeladenen im Jahre 2020 gerade volljährig war und sich noch in der Schulausbildung (Fachoberschule) befand, muss anhand der im Genehmigungsverfahren von Bauherrenseite gemachten Angaben zumindest eine hinreichend konkrete und verfestigte Prognose der vorgetragenen Lebensplanung möglich sein und eine auf Dauer angelegte Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft plausibel erscheinen (zum Haushaltsbegriff vgl. auch Art. 4 BayWoFG). Andernfalls wäre es ein Leichtes, die gesetzlichen Anforderungen des § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB durch von Bauherrenseite lediglich vorgeschobene Familienplanungen zu umgehen. Nachfragen der Behörde oder des Gerichts in diese Richtung sind entgegen der Auffassung des Bevollmächtigten des Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung daher auch nicht „übergriffig“. Dem Bauherrn obliegt vielmehr die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen des von ihm geltend gemachten Teilprivilegierungstatbestands des § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB.
34
Daran gemessen genügen die von Bauherrenseite vorgelegten Antragsunterlagen nicht, um auf Grundlage der gemachten Angaben das Vorliegen der Voraussetzungen des § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB bejahen zu können.
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Unter den heutigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dürften konkrete Heirats- und Familiengründungsplanungen in solch jungen Jahren und noch während der Ausbildung generell eher unüblich sein. Dass dies im Falle der Tochter des Beigeladenen anders sein sollte, ist weder plausibel dargetan noch ersichtlich. Die Angaben der Tochter I… im Schreiben vom 16. Juli 2020 deuten insoweit weniger auf eine bereits seit Jahren geführte „eheähnliche“ Beziehung als auf eine übliche Beziehung unter Jugendlichen hin. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Tochter des Beigeladenen im Jahre 2020 für die Zeit nach Abschluss der Fachoberschule die Aufnahme einer Ausbildung und danach eines Aufbaustudiums plante, erscheinen die vorgetragenen Familiengründungspläne zum maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheidserlasses im November 2020 keinesfalls als hinreichend konkret und gefestigt. Vielmehr dürfte es sich um einen Vortrag „ins Blaue hinein“ handeln, um die begehrte Genehmigung zu erhalten.
36
Lediglich ergänzend wird angemerkt, dass diese Einschätzung auch durch die nach Erlass des streitgegenständlichen Vorbescheids gemachten Angaben des Beigeladenen im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens (vgl. Telefonnotiz, Bl. 57 d.BA 40-B-2021-568-2: „wer wo einzieht letztendlich noch nicht entschieden“) und den Umstand bestätigt wird, dass die Planungen zur Familiengründung der Tochter I… des Beigeladenen – welche abgesehen von der Erklärung vom 16. Juli 2020 in keinem der beiden behördlichen oder gerichtlichen Verfahren weiter in Erscheinung getreten ist – nach den Angaben des Beigeladenen auch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung offenbar noch nicht weiter fortgeschritten waren.
37
Da der Klage bereits aus diesem Grund stattzugeben war, kommt es nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, dass die genehmigte Planung zumindest auch insoweit unstimmig ist, als im Grundriss Erdgeschoss (weiterhin) zwei Kinderzimmer eingetragen sind. Zudem kann offenbleiben, ob die genehmigte Eingabeplanung in Bezug auf eine im Obergeschoss geplante Dachterrasse hinreichend bestimmt ist und ob das Landratsamt bei der Beurteilung der Angemessenheit der vorhandenen bzw. künftigen Wohnflächen die Terrassenflächen (Erd- und Obergeschoss) wie auch den im Garagengebäude vorhandenen Aufenthaltsraum außer Betracht lassen durfte.
38
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. Es entspricht der Billigkeit, dass der Beigeladene seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt, da er Anträge gestellt und sich somit einem Kostenrisiko ausgesetzt hat (§ 162 Abs. 3 und § 154 Abs. 3 VwGO).
39
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.