Titel:
Erfolgreicher Eilantrag der Nachbarn gegen grenzständiges Einfamilienhaus
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1, § 80a Abs. 3 S. 2
BayBO Art. 6, Art. 59, Art. 68 Abs. 5
BGB § 242
Leitsätze:
1. Derjenige, der selbst mit seinem Gebäude den erforderlichen Grenzabstand nicht einhält, kann billigerweise nicht verlangen, dass der Nachbar die Abstandsfläche freihält. Voraussetzung dafür, dass ein Nachbar sich nach Treu und Glauben gegenüber einer Baugenehmigung nicht auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen kann, ist allerdings, dass die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine ausreichende Versickerungsmöglichkeit von Niederschlagswasser gehört zur gesicherten Erschließung eines Bauvorhabens, ist aber generell nicht drittschützend. Der Schutz des Nachbarn richtet sich insoweit nach den Regelungen des Privatrechts. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbareilantrag gegen Baugenehmigung, Neubau eines Einfamilienhauses in Form eines grenzständigen Anbaus an ein bestehendes Wohnanwesen der Nachbarkläger, Absprachen in Zusammenhang mit einer Grundstücksteilung, Interessenabwägung, nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis, Treu und Glauben, untragbarer Zustand, Versickerung von Niederschlagswasser
Fundstelle:
BeckRS 2023, 22527
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller vom 11. November 2019 gegen den Bescheid des Landratsamts … vom 18. Dezember 2018, Az. …, wird angeordnet.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 3.750 Euro festgesetzt.
Gründe
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Die Antragsteller begehren Eilrechtschutz gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Neuerrichtung eines Einfamilienhauses auf dem Grundstück Fl.Nr. … der Gemarkung … (Vorhabengrundstück).
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Die Antragsteller sind Miteigentümer des Wohnanwesens (Haus Nr. 29) auf dem vormals ungeteilten Grundstück Fl.Nr. … Die Flächen, auf denen das streitgegenständliche Vorhaben errichtet werden soll, bildeten ursprünglich den nördlichen und östlichen Teil des Grundstücks der Antragsteller. Im Wege einer Grundstücksteilung, welche unmittelbar entlang der Nordfassade des Bestandsgebäudes Nr. 29 und von dort bis zu einer, im Miteigentum der Antragsteller und des Beigeladenen stehenden Zufahrtsfläche (Fl.Nr. …*) an der südöstlichen Grundstücksecke der Fl.Nr. … verläuft, wurde der Bereich des Vorhabengrundstücks aus der Fl.Nr. … herausgemessen und unter der Fl.Nr. … fortgeführt. Das Vorhabengrundstück, die Zufahrtsfläche und die ebenfalls im Eigentum des Beigeladenen stehende, nördlich des Vorhabengrundstücks gelegene Fl.Nr. … liegen im Geltungsbereich der Einbeziehungssatzung Nr. … der Stadt … „für das Gebiet nördlich der …straße 29 am östlichen Ortsausgang (Fl.Nrn. …, … und …, Gemarkung …*)“.
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Der Beigeladene beantragte unter dem 27. März 2018 eine Baugenehmigung für den „Neubau eines Einfamilienhauses als Anbau an ein Bestandsgebäude“. Die Eingabeplanung sieht vor, dass der geplante zweigeschossige Neubau über ein Satteldach verfügen und unmittelbar grenzständig an der Nordfassade des Anwesens der Antragsteller (Kubatur E+ 1) errichtet werden soll. Das Gelände soll dabei abgegraben und durch eine grenzständige Stützmauer im Bereich der südöstlichen bzw. südwestlichen Gebäudeecke des Vorhabens abgestützt werden. Auf Anforderung des Landratsamts wurde eine Abstandflächenübernahmeerklärung des Beigeladenen vom 6. November 2018 für das ebenfalls in seinem Eigentum stehende, nördlich an das Vorhabengrundstück angrenzende Grundstück Fl.Nr. … nachgereicht.
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Die Antragsteller äußerten bereits im Baugenehmigungsverfahren wiederholt schriftsätzliche Bedenken gegen das Vorhaben. Mit Schreiben vom 20. Juni, 24. Juni und 9. Juli 2018 wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der direkte Anbau an das Bestandsgebäude der Antragsteller weitreichende Folgen für deren Haus und Grundstück habe. Das Bestandsgebäude, welches gegenwärtig, von kleineren Instandhaltungsarbeiten abgesehen, problemlos genutzt werden könne, müsse umfänglich und kostenaufwendig umgestaltet werden, da es nie für einen solchen Anbau geplant oder konzipiert gewesen sei und wesentliche Funktionen und Elemente des Hauses auf der Nordseite angelegt seien. Mehrere Räume des Hauses seien ausschließlich zur Nordseite hin ausgerichtet und müssten aufgrund des Anbaus vermauert, aufwendig umgebaut und komplett neu gestaltet werden. Dies betreffe im Keller den Heizölraum mit Fenster und Lüftung sowie die Werkstatt mit eigenem Außenzugang und Fenster, im Erdgeschoss das Atelierzimmer mit dem größten Fenster des Hauses und einen Raum im Dachgeschoss. Dabei sei erst im Rahmen einer Neuvermessung des Bestandsgebäudes im Rahmen der Vorbereitungen für den geplanten Anbau deutlich geworden, dass der Heizölkeller in der Nordwestecke des Kellers keinen Anteil an der Westwand habe, wodurch die bei der Grundstücksteilung ursprünglich vorgesehene Verlegung der Rohre zur Entlüftung und Befüllung des Heizöltanks von der Nordseite auf die Westseite nicht möglich sei. Faktisch wäre ein kompletter Austausch der funktionierenden Heizungsanlage erforderlich; ebenso müsse das zur Raumentlüftung notwendige Fenster auf der Nordseite des Kellers für den Anbau entfernt werden. Die Erscheinung und Ästhetik des 1994 im Landhausstil einzelnstehend erbauten, äußerlich seither fast unveränderten und bis heute schön erhaltenen Bestandsgebäudes werde durch die Entfernung des typischen zugehörigen Dachüberstands und durch den Direktanbau entstellt und schwer beschädigt. Unklar sei auch, wie die langjährig zuverlässig funktionierende Dachentwässerung des Bestandsgebäudes künftig erfolgen solle, da nach der Grundstücksteilung „direkt um das Haus herum“ die Regenrinne der Norddachfläche über dem nunmehr abgetrennten Vorhabengrundstück liege. Die Regenwasserproblematik werde zusätzlich verschärft durch die Absenkung des gegenwärtig höherliegenden Nachbargrundstücks und der damit verbundenen Änderung der Wasserablaufrichtung zwischen den Grundstücken. So bestehe ein erhöhtes Risiko, dass künftig Sickerwasser von dem höher gelegenen Grundstück der Antragsteller auf das Vorhabengrundstück durchdrücken und dort Schäden am Neubau in der abgesenkten Wanne verursachen könne; bei Starkregen drohe eine verschärfte Überschwemmungsgefahr. Für das Bestandsgebäude der Antragsteller bestehe demgegenüber aufgrund der scharfen Absenkung in einem relativ losen Kiesuntergrund die Gefahr, dass der Boden absinke und die Fundamente des Gebäudes Schaden nehmen könnten. Insbesondere die zweigeschossig aufgemauerte Nordwestecke des Anwesens sei nicht, wie ursprünglich angenommen, tieffundamentiert, sondern nur auf einer Bodenplatte knapp unter Bodenniveau errichtet. Es sei daher zu besorgen, dass dieser Gebäudeteil seine Stabilität verliere und absacke, wenn der Kiesboden direkt an der Nordwand abgebaggert werden solle. Da das in der frühen Nachkriegszeit mit knappen Mitteln gebaute Bestandsgebäude der Antragsteller bereits jetzt deutliche Setzungsrisse aufweise, müsse sichergestellt werden, dass durch den Anbau und die Abgrabungen die Statik des Gebäudes in diesem Bereich nicht verändert oder gefährdet werde. Da keines der geschilderten Probleme entstehe, wenn das Vorhaben wenige Meter vom Bestandsgebäude entfernt errichtet würde, stelle sich die Frage der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit der umfangreichen Risiken, Kosten und Probleme, die den Antragstellern nur aufgrund des unmittelbaren Anbaus entstünden. Der Bauherr sei von den Antragstellern in den vergangenen Jahren vielfach über die weitreichenden und folgenschwereren Probleme für das Bestandsgebäude informiert worden. Bei der Genehmigung des Neubaus sei zu berücksichtigen, dass die für das schöne und langjährig problemlos funktionierende Bestandsgebäude der Antragsteller verursachten Nutzungsnachteile, Risiken und Kosten sowie der Umfang und die Schwierigkeiten der zwangsweise notwendigen baulichen Veränderungen des Gebäudes verhältnismäßig bleiben müssten und ein angemessenes und erträgliches Maß nicht übersteigen dürften.
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Mit Bescheid vom 18. Dezember 2018 erteilte das Landratsamt … (Landratsamt) dem Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung. Der Bescheid wurde dem Beigeladenen am 21. Dezember 2018 ausgehändigt. Ein Zustellungsversuch an die Antragsteller – unter Angabe (nur) des jeweils 2. Vornamens – scheiterte, da eine Zustellung unter der jeweiligen Adresse nicht möglich gewesen sei.
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Die Antragsteller ließen durch ihren Bevollmächtigten am 11. November 2019 Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung vom 18. Dezember 2018 erheben und zugleich beantragen,
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die aufschiebende Wirkung der Klage „festzustellen“.
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Zur Begründung der Klage wurde vorgetragen, dass die streitgegenständliche Baugenehmigung trotz Einwendungen der Antragsteller ergangen sei. Auf die Einwendungen im behördlichen Verfahren werde Bezug genommen. Der Bescheid sei den Antragstellern nicht ordnungsgemäß zugestellt worden, sodass die Klage fristgerecht binnen Jahresfrist erfolgt sei. Eine Auseinandersetzung mit den berechtigten Einwendungen der Antragsteller habe nicht stattgefunden, sodass von einer fehlerhaften Nichteinstellung ihrer Bedenken gegen das Bauvorhaben auszugehen sei. Die Belastungen des Grundstücks der Antragsteller durch den genehmigten Anbau seien gravierend. Der Anbau führe zu einer bautechnisch ungeklärten Struktur und Funktion eines „Grabendachs“ zwischen Altbau und geplantem Anbau. Aufgrund der massiven Schneebelastungen führe dies unweigerlich zu statischen Problemen sowie bei Verstopfungen der Regenrinne oder immer häufiger auftretenden Starkregenfällen zu Wasserschäden im Haus. Ein Grabendach füge sich nicht in die nähere Umgebung ein. Diesen Problemen wie auch den statischen Bedenken der Antragsteller könne durch einen abgesetzten Neubau Rechnung getragen werden. Der Vortrag zur ungeklärten Ableitung und Versickerung des Regenwassers und zu den hohen Kosten eines Austauschs des Heizsystems wurde wiederholt. Weiter wurde vorgetragen, dass es durch das Vorhaben zu einem nicht hinnehmbaren Eingriff in die bestandsgeschützte, asphaltierte Zuwegung komme, da die gemeinsame Zufahrt laut Baugenehmigung nicht asphaltiert werden solle.
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Das Landratsamt nahm mit Schriftsatz vom 4. Dezember 2019 in Klage- und Eilverfahren Stellung und beantragte,
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den Eilantrag abzulehnen.
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Klage und Eilantrag seien zulässig, jedoch nicht begründet. Eine Zustellung des Baugenehmigungsbescheids an die Antragsteller sei nicht erfolgreich gewesen; weitere Nachforschungen zu den Adressen der Antragsteller seien ergebnislos verlaufen. Klage und Eilantrag seien daher nicht verfristet, auch wenn die Antragsteller die Ursache der Unmöglichkeit des Zugangs jeweils durch eigenes Versäumnis, ihre Anschriften beim Grundbuchamt berichtigen zu lassen, herbeigeführt hätten. Die erteilte Baugenehmigung verletze die Antragsteller jedoch nicht in ihren subjektiven öffentlichen Rechten. Das Vorhaben sei bauplanungsrechtlich zulässig, wobei die von den Antragstellern gerügte Dachform kein Einfügenskriterium darstelle und die beanstandete Form des Grabendachs daher keine Rolle für die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens spiele. Das Vorhaben sei ferner erschlossen und zwar auch hinsichtlich des Teilaspekts der Niederschlagswasserentsorgung. Bei dem weiteren Vortrag der Antragsteller hinsichtlich der Statik wie auch eventueller Schäden, die durch die Ausgestaltung des Dachs oder durch Regen und Schmelzwasser entstehen könnten, sowie der Ausgestaltung der gemeinsamen Zufahrt, handele es sich um zivilrechtlich zu beurteilende Gesichtspunkte. Ein bautechnischer Nachweis der Standsicherheit müsse vor Baubeginn vorliegen. Soweit vorgetragen werde, dass bei einem Direktanbau an die einzige Außenwand des vorhandenen Kellers des Bestandsgebäudes die Heizungsentlüftung aufwendig verlegt werden müsse, sei zusätzlich die Situierung des Bestandsgebäudes auf dem Grundstück der Antragsteller zu berücksichtigen. Die Besonderheit liege darin, dass es sich bei diesem um einen Grenzanbau handele. Die Antragsteller, die Eigentümer eines abstandspflichtigen Wohngebäudes seien, hätten damit rechnen müssen, dass auch der Beigeladene sein Recht wahrnehme, an die Grenze und damit unmittelbar an das Bestandsgebäude der Antragsteller anzubauen. Damit sei ersichtlich gewesen, dass sich gewisse Nachteile, die mit einem solchen Anbau einhergingen, realisieren könnten. Dies könne dem Anbau jedoch nicht entgegengehalten werden.
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Der Beigeladene ließ mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 28. Januar 2020 mitteilen, dass zwar nicht von Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage und des Eilantrags ausgegangen werden könne, er aber gleichwohl nicht zuletzt wegen der verwandtschaftlichen Verhältnisse zu den Antragstellern die Gelegenheit für eine einvernehmliche Lösung in einem gerichtlichen Mediationsverfahren geben wolle – auch um etwaige nachfolgende Streitigkeiten auf dem Zivilrechtsweg zu vermeiden. Der Beigeladene sicherte zu, bis zu einer Beendigung des Mediationsverfahrens mit dem Wohnbauvorhaben nicht zu beginnen. Ein förmlicher Antrag wurde in Klage- und Eilverfahren vorbehalten, jedoch nicht gestellt.
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In der Folge wurden Klage- und Eilverfahren (ursprüngl. Az: M 11 K 19.5583 und M 11 SN 19.5587) wegen zwischenzeitlicher Einigungsbemühungen der Beteiligten im Rahmen zweier Mediationsverfahren wiederholt ruhend gestellt. Nach erfolglosem Abschluss des letzten Mediationsverfahrens wurden die Verfahren auf Anregung des Beigeladenen vom 15. Mai 2023 zuletzt unter den Az. M 11 K 23.2472 bzw. M 11 SN 23.2471 fortgesetzt.
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Mit Schreiben von 26. Mai 2023 wies das Gericht darauf hin, dass die Kammer nach Wiederaufnahme der ruhenden Verfahren nunmehr beabsichtige, zeitnah über das noch anhängige Eilverfahren zu entscheiden. Die Parteien erhielten Gelegenheit zur Äußerung, äußerten sich in der Folge jedoch nicht.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten in diesem sowie im zugehörigen Klageverfahren M 11 K 23.2472 und in den vormaligen Verfahren (M 11 K 19.5583 und M 11 SN 19.5587) Bezug genommen.
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1. Der zulässige Antrag ist begründet.
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Gemäß § 212a Abs. 1 BauGB hat die Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Jedoch kann das Gericht der Hauptsache gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die Aussetzung der Vollziehung anordnen. Hierbei kommt es auf eine Abwägung der Interessen des Bauherrn an der sofortigen Ausnutzung der Baugenehmigung mit den Interessen des Dritten, keine vollendeten, nur schwer wieder rückgängig zu machenden Tatsachen entstehen zu lassen, an. Im Regelfall ist es unbillig, einem Bauwilligen die Nutzung seines Eigentums durch Gebrauch der ihm erteilten Baugenehmigung zu verwehren, wenn eine dem summarischen Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO entsprechende vorläufige Prüfung des Rechtsbehelfs ergibt, dass dieser letztlich erfolglos bleiben wird. Ist demgegenüber der Rechtsbehelf offensichtlich begründet, so überwiegt das Interesse der Antragspartei. Sind die Erfolgsaussichten offen, so kommt es darauf an, ob das Interesse eines Beteiligten es verlangt, dass die Betroffenen sich so behandeln lassen müssen, als ob der Verwaltungsakt bereits unanfechtbar sei. Bei der Abwägung ist den Belangen der Betroffenen umso mehr Gewicht beizumessen, je stärker und je irreparabler der Eingriff in ihre Rechte wäre (BVerfG, B.v. 18.7.1973 – 1 BvR 155/73, 1 BvR 23/73 – BVerfGE 35, 382; zur Bewertung der Interessenlage vgl. auch BayVGH, B.v. 14.1.1991 – 14 CS 90.3166 – BayVBl 1991, 275).
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Zu berücksichtigen ist, dass Nachbarn eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten können, wenn sie hierdurch in einem ihnen zustehenden, subjektiv öffentlichen Recht verletzt werden. Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke dienen. Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren aufgrund einer Nachbarklage keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle statt (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20 m. w. N). Die Prüfung hat sich vielmehr darauf zu beschränken, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln, verletzt sind (zur sog. Schutznormtheorie vgl. etwa Happ in Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 42 Rn. 89 ff.).
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Gemessen hieran ergibt die im Eilverfahren auch ohne Durchführung eines Augenscheins mögliche Überprüfung der Angelegenheit anhand der Gerichts- und der beigezogenen Behördenakten samt Plänen, dass die Klage der Antragsteller voraussichtlich Erfolg haben wird, weil die angefochtene Baugenehmigung die Antragsteller voraussichtlich in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) oder jedenfalls das Aussetzungsinteresse der Antragteller das Interesse des Beigeladenen überwiegt.
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1.1 Das Vorhaben hält offensichtlich die erforderlichen Abstandsflächen zum Grundstück der Antragsteller nicht ein, was diese nach summarischer Prüfung auch rügen können.
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1.1.1 Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten, wobei die Abstandsflächen auf dem Grundstück selbst liegen müssen (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO). Eine Abstandsfläche ist nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf (Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO). Abstandsflächen dürfen sich ganz oder teilweise auf andere Grundstücke erstrecken, wenn rechtlich oder tatsächlich gesichert ist, dass sie nicht überbaut werden, oder wenn der Nachbar gegenüber der Bauaufsichtsbehörde schriftlich zustimmt (Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO).
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1.1.2 Vorliegend wurde im Baugenehmigungsverfahren zwar eine Abstandflächenübernahmeerklärung für die im Norden an das Vorhabengrundstück angrenzende Fl.Nr. … vorgelegt, nicht jedoch für das Grundstück der Antragsteller. Ausweislich der genehmigten Eingabeplanung gingen sowohl der Beigeladene als auch das Landratsamt offenbar – ohne weitere Ausführungen hierzu im Rahmen der Antragsunterlagen bzw. der erteilten Baugenehmigung – davon aus, dass das Vorhaben zulässigerweise an die Grenze gebaut werden dürfe, mithin keine Abstandsflächen zum Grundstück der Antragsteller hin einzuhalten seien. Dies ist nach summarischer Prüfung jedoch nicht der Fall.
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(1) Bei dem Vorhaben des Beigeladenen handelt es sich ausweislich der Vorhabensbezeichnung und der Eingabeplanung um den Neubau eines Einfamilienhauses – und nicht etwa eine Doppelhaushälfte, welche auch bei offener Bauweise grenzständig errichtet werden dürfte (vgl. § 22 Abs. 2 BauNVO). Auch unter Zugrundelegung der Eingabeplanung und in Ansehung des Bestandsgebäudes, an das der Anbau erfolgen soll, liegt die Annahme eines Doppelhauses fern. Die Antragsteller haben insoweit bereits im Rahmen des behördlichen Verfahrens darauf hingewiesen, dass ihr Bestandsgebäude „einzelnstehend“ erbaut worden sei und sich in dessen Nordfassade teils größere Fensteröffnungen sowie ein Zugang zu einem Werkstattraum im Keller befinden (vgl. hierzu auch Lichtbildaufnahmen, Bl. 95 d.BA).
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Ausweislich der Luftbildaufnahmen und Lagepläne aus dem Geoportal Bayern Atlas handelt es sich bei der Bebauung in der näheren Umgebung des Vorhabengrundstücks unzweifelhaft um eine Bebauung in offener Bauweise, da keines der Hauptgebäude in der näheren Umgebung grenzständig an einer Grundstücksgrenze errichtet ist. Allein für das Grundstück der Antragsteller ergibt sich etwas anderes, da ihr Bestandsgebäude – als Folge der vorgenommenen Grundstücksteilung – nunmehr mit der rückwärtigen Nordfassade grenzständig zum Vorhabengrundstück steht. Allein aus diesem teils grenzständigen Einzelanwesen folgt jedoch noch kein Rechtsanspruch des Beigeladenen, planungsrechtlich ebenfalls an die Grenze bauen zu dürfen. Ausweislich der Klage-/ Antragserwiderung geht auch das Landratsamt offenbar nicht davon aus, dass vorliegend Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO einschlägig wäre. Damit hat der geplante Neubau als Einfamilienhaus jedoch unzweifelhaft die geltenden Abstandsflächen zum Grundstück der Antragsteller hin einzuhalten.
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(2) Eine Abweichung von der Einhaltung der erforderlichen Abstandsflächen (Art. 63 Abs. 1 BayBO) wurde weder beantragt noch erteilt. Dahinstehen kann daher, ob im Rahmen des Art. 63 Abs. 1 BayBO etwaige zivilrechtliche Vereinbarungen der Beteiligten – sofern diese rechtswirksam sind – Berücksichtigung finden könnten, ebenso wie die Auswirkungen auf das Anwesen der Antragsteller. Die Kammer merkt vorsorglich an, dass zur Beurteilung der Rechtswirksamkeit getroffener Vereinbarungen – zumindest bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte, die hier möglicherweise in den sehr weitreichenden Folgen für das Anwesen der Antragsteller gesehen werden könnten – in Hinblick auf § 138 BGB sowie § 313 BGB auch die Umstände und Annahmen, unter denen Vereinbarungen geschlossen wurden, in die Betrachtung einzubeziehen wären (vgl. hierzu auch die noch nicht rechtskräftige Entscheidung der Kammer vom 16. Februar 2023 – M 11 K 19.1991 – juris Rn. 16).
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1.1.3 Die Kammer geht nach summarischer Prüfung vorläufig davon aus, dass die Antragsteller den Verstoß gegen Abstandsflächenrecht auch rügen können.
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Zwar unterliegt das Recht des Nachbarn, sich grundsätzlich gegen jede Unterschreitung der Mindestabstandsflächen zur Wehr setzen zu können, mit Rücksicht auf den das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis beherrschenden Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) Grenzen. Denn der baurechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken der gegenseitigen Rücksichtnahme; seine Grundlage ist das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis, in dessen Rahmen jeder Eigentümer zugunsten seines Nachbarn bestimmten Beschränkungen unterworfen ist und im Austausch dafür verlangen kann, dass der Nachbar diese Beschränkungen gleichfalls beachtet. Aus diesem System nachbarlicher Ausgleichs- und Rücksichtnahmepflichten folgt, dass derjenige, der selbst mit seinem Gebäude den erforderlichen Grenzabstand nicht einhält, billigerweise nicht verlangen kann, dass der Nachbar die Abstandsfläche freihält. Maßgeblich ist dabei allein, dass der klagende Nachbar den (aktuell) erforderlichen Grenzabstand nicht einhält, sodass es unerheblich ist, dass sein Gebäude in der Vergangenheit zulässigerweise errichtet wurde. Voraussetzung dafür, dass ein Nachbar sich nach Treu und Glauben gegenüber einer Baugenehmigung nicht auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen kann, ist allerdings, dass die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen (vgl. zum Ganzen: BayVGH, B.v. 2.5.2023 – 2 ZB 22.2484 – juris Rn. 5 m.w.N.).
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Angesichts der im behördlichen und gerichtlichen Verfahren vorgetragenen, ganz erheblichen Auswirkungen auf das Bestandsgebäude der Antragsteller, geht die Kammer zumindest vorläufig davon aus, dass auch bei Annahme eines quantitativ und qualitativ in etwa gleichgewichtigen Abstandsflächenverstoßes das Vorliegen eines für die Antragsteller untragbaren Zustandes jedenfalls nicht von der Hand zu weisen ist. Etwas anderes könnte etwa dann gelten, wenn die Antragsteller im Rahmen der getroffenen Absprachen in Zusammenhang mit der Grundstücksteilung gerade auch in Hinblick auf erforderliche Umbaumaßnahmen ihres Gebäudes bereits einen angemessenen finanziellen Ausgleich erhalten haben sollten und sich die der Vereinbarung zugrundeliegenden Annahmen im Nachhinein auch nicht in Hinblick auf § 313 BGB als in rechtsrelevanter Weise überholt darstellen. Dies lässt sich nach summarischer Prüfung anhand der Aktenlage nicht beurteilen, sodass eine Entscheidung insoweit dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleibt.
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1.2 Auf die weiteren von Seiten der Antragsteller vorgetragenen Einwände kommt es damit nicht mehr entscheidungserheblich an. Dessen ungeachtet weist die Kammer auf Folgendes hin:
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1.2.1 Etwaige Eingriffe in das Eigentum der Antragsteller (z.B. Statik des Bestandsgebäudes, Dachüberstand, Regenrinne und Zufahrt) begründen kein Abwehrrecht des Nachbarn gegen eine erteilte Baugenehmigung (ständ. Rspr., vgl. etwa BayVGH, B.v. 29.8.2014 – 15 CS 14.615 – juris Rn. 18). Die Baugenehmigung wird nach Art. 68 Abs. 5 BayBO unbeschadet der privaten Rechte Dritter erteilt. Die Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit einem privatrechtlichen Recht ist nicht Gegenstand der bauaufsichtlichen Prüfung. Die Baugenehmigung gibt dem Beigeladenen daher nicht die rechtliche Befugnis zu etwaigen Beeinträchtigungen des Eigentums der Antragsteller und kann sich folglich auch nicht auf das zivilrechtliche Rechtsverhältnis auswirken. Etwaige zivilrechtliche Beseitigungs- bzw. Unterlassungsansprüche der Antragsteller wären auf dem Zivilrechtsweg geltend zu machen.
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1.2.2 Eine ausreichende Versickerungsmöglichkeit von Niederschlagswasser gehört zwar zur gesicherten Erschließung eines Bauvorhabens, ist aber generell nicht drittschützend (vgl. VG München, U.v. 18.12.2014 – M 11 K 13.505 – juris Rn. 31 m.w.N.). Der Schutz des Nachbarn richtet sich vielmehr auch insoweit nach den Regelungen des Privatrechts (vgl. etwa VG Würzburg, U.v. 6.12.2012 – W 5 K 11.514 – juris Rn. 49). Anderes gilt u.U., wenn durch die unzureichende Erschließung eines Vorhabens ein Nachbargrundstück gravierend betroffen wird, indem etwa das Niederschlagswasser des Bauvorhabens auf das Grundstück des Nachbarn abgeleitet wird und es dadurch zu Überschwemmungen auf dem Nachbargrundstück kommt (vgl. BayVGH, B.v. 29.11.2006 – 1 CS 06.2717 – juris Rn. 20). Eine derartige Situation machen die Antragsteller für ihr Anwesen – welches infolge der geplanten Abgrabung gerade höher liegen soll, als das geplante Vorhaben – jedoch nicht geltend. Vielmehr befürchten sie, dass es infolge der geplanten Abgrabung u.a. zu Überschwemmungen und Wasserschäden auf dem Vorhabengrundstück kommen könnte. Dies können die Antragsteller, selbst wenn die Befürchtungen zutreffen sollten, indes ohnehin nicht rügen.
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1.3 Selbst wenn die Erfolgsaussichten der Klage in Hinblick auf die Rügefähigkeit des vorliegenden Abstandsflächenverstoßes (s.o. Ziff. 1.1.3) derzeit als offen betrachtet werden, überwiegt im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung angesichts der nur schwer wieder rückgängig zu machenden, weitreichenden Folgen einer Realisierung des Vorhabens für die Antragsteller deren Interesse an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage.
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2. Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens, § 154 Abs. 1 VwGO. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst, vgl. § 162 Abs. 3 und § 154 Abs. 3 VwGO.
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3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs und entspricht der Hälfte des voraussichtlich im Hauptsacheverfahren anzusetzenden Streitwerts.