Inhalt

OLG Nürnberg, Beschluss v. 12.05.2023 – 10 UF 316/23
Titel:

Gefahrenprognose bei Pflegestellenwechsel

Normenketten:
BGB § 1632 Abs. 4
FamFG § 59 Abs. 1
GG Art. 6
Leitsätze:
1. Ist der Mutter die elterliche Sorge komplett entzogen, ist sie durch die Entscheidung über eine Verbleibensanordnung nicht unmittelbar in ihren Rechten beeinträchtigt und deshalb nicht beschwerdeberechtigt. (Rn. 29) (red. LS Axel Burghart)
2. Ist ein Pflegestellenwechsel geplant, so muss mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können, dass das Kindeswohl durch die Herausnahme des Kindes aus der bisherigen Pflegefamilie und dessen Zuführung zu einer anderen Pflegefamilie gefährdet wird. Umgekehrt scheidet ein Verbleib des Kindes in der bisherigen Pflegefamilie aus, wenn das Kindeswohl in diesem Fall gefährdet würde. (Rn. 35) (red. LS Axel Burghart)
Schlagworte:
elterliche Sorge, Pflegefamilie, Verbleibensanordnung, Beschwerde, Beschwerdeberechtigung, Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung, Pflegestellenwechsel, einstweilige Anordnung, Ortswechsel
Vorinstanz:
AG Regensburg, Beschluss vom 15.03.2023 – 205 F 345/23
Rechtsmittelinstanz:
BVerfG Karlsruhe, Beschluss vom 28.08.2023 – 1 BvR 1088/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 22511

Tenor

1. Die Beschwerde der Mutter gegen den Beschluss des Amtsgerichts Regensburg vom 15.03.2023, Az. 205 F 345/23, wird als unzulässig verworfen.
2. Die Beschwerde der Pflegeeltern S… und T… R… gegen den Beschluss des Amtsgerichts Regensburg vom 15.03.2023, Az. 205 F 345/23, wird zurückgewiesen.
3. Die Beschwerdeführer tragen als Gesamtschuldner die für das Beschwerdeverfahren anfallenden Gerichtskosten. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
4. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Beschwerdeführer – die leibliche Mutter und die bisherigen Pflegeeltern des betroffenen Kindes M… – fordern, den Verbleib des Kindes im Haushalt der bisherigen Pflegeeltern anzuordnen. Sie beschweren sich gegen den ablehnenden Beschluss des Amtsgerichts Regensburg vom 15.03.2023.
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1. Frau M…-C… J… ist die Mutter des Kindes M… J…, geboren am … Der Vater des Kindes ist bereits während der Schwangerschaft verstorben. Die Mutter hatte daher zunächst die elterliche Sorge alleine inne. Das Kind M…, geb. …, wurde allerdings bereits kurze Zeit nach seiner Geburt in Obhut genommen. Der Mutter wurde die elterliche Sorge mit Beschluss des Amtsgerichts Regensburg vom 05.06.2019, Az. 205 F 751/19, komplett entzogen und Vormundschaft angeordnet. M… befand sich sodann für rund vier Monate in einer Bereitschaftspflegefamilie. Am 03.03.2019 wechselte M… zu den am Verfahren beteiligten Pflegeeltern, den Eheleuten R…, bei denen er sich bis zuletzt aufgehalten hat.
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2. Mit Schriftsatz vom 16.02.2023 beantragten die Pflegeeltern R… bei dem Amtsgericht Regensburg den Erlass einer Verbleibensanordnung im Wege der einstweiligen Anordnung. Sie teilten mit, der Vormund des Kindes M… hätte angekündigt, M… einer anderen Pflegefamilie zuzuführen. M… befinde sich seit nunmehr vier Jahren bei ihnen. Er sei bereits im Alter von fünf Monaten wegen Problemen mit dem Halten seines Kopfes in physiotherapeutischer Behandlung gewesen. Außerdem sei er von einer Logopädin betreut worden. Er hätte sich gut bei ihnen eingelebt und hätte sich gut entwickelt. Von Herbst 2019 bis Oktober 2020 hätten die Pflegeeltern eine Mutter-Kind-Gruppe mit ihm besucht. Zudem wären sie mit ihm im Frühjahr 2020 bei einem Schwimmkurs gewesen. Eine Vorstellung beim Sozialpädiatrischen Zentrum hätte bei M… gemäß Bericht vom 20.05.2020 eine leichte Entwicklungsverzögerung, eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, motorische Unruhe und Zustand nach Drogenentzugssyndrom und Polytoxikomanie in der Schwangerschaft ergeben. Ab September 2020 hätte er an vier Tagen pro Woche eine Kita zu je vier Stunden besucht. Eine erneute Vorstellung M… beim Sozialpädiatrischen Zentrum im Frühjahr 2021 hätte ergeben, dass sich M… in vielen Bereichen weiterentwickelt hätte. Er sei allerdings weiterhin motorisch unruhig, hätte wenig Ausdauer und lasse sich leicht ablenken.
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Im September 2021 sei er in den Integrativ-Kindergarten … in A… gewechselt. Es hätte zunächst Uneinigkeit mit dem Kindergarten über die Erforderlichkeit eines Integrationsstatus für M… bestanden. Der Vormund hätte diesen befürwortet, die Pflegeeltern hätten dem anfangs kritisch gegenübergestanden. Aufgrund einer erneuten Vorstellung M… beim Sozialpädiatrischen Zentrum im Dezember 2021 sei ein Integrativstatus empfohlen worden, womit die Pflegeeltern sodann einverstanden gewesen seien. Seit März 2022 hätte eine Heilpädagogin der Frühförderstelle im Haushalt der Pflegefamilie wöchentlich mit M… gearbeitet. M… benötige im Kindergarten eine 1:1-Betreuung. In ihrem Bericht vom 21.12.2022 hätte die Heilpädagogin u.a. ausgeführt, im sozialen Kontext des Kindergartens hätte M… häufig Konflikte mit anderen. M… fühle sich gemäß Bericht schnell angegriffen und gekränkt und hätte Schwierigkeiten sich abzugrenzen. Es falle ihm schwer, sich einzugliedern oder unterzuordnen. Die Familie insgesamt sei belastet. M… beanspruche viel Klarheit, Struktur und Beständigkeit. Es hätten sich zuletzt Konflikte im Kindergarten ergeben, welche bei den Pflegeeltern ein Gefühl der Ohnmacht und des Unvermögens ausgelöst hätten. Dies würde einen feinfühligen, selbstsicheren und entspannten Umgang mit M… erschweren. Die Pflegeeltern würden sich für M… Belange und sein Wohl einsetzen und sich um ein gut strukturiertes und versorgendes Elternhaus bemühen, wobei der Druck, den sie empfänden, im Umgang mit M… spürbar sei.
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Die Pflegeeltern legten dar, M… hätte bei ihnen sein Zuhause gefunden. Er sei im Ort gut eingebunden und werde zu Spielnachmittagen und Geburtstagen von Kindergartenfreunden eingeladen. Mit der leiblichen Mutter finde ca. alle 4-6 Wochen Umgang statt. Die Pflegeeltern seien dazu bereit, sich auch auf psychischem Gebiet weiterzubilden, um M… in seiner Entwicklung weiterhin gut unterstützen zu können.
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Mitte November 2022 hätte der Kindergarten aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten von M… allerdings den Wunsch geäußert, dass dieser dort nicht mehr zu Mittag esse. Sie hätten dies nicht verstanden und zunächst abgelehnt. Es hätte daraufhin ein Gespräch mit dem Jugendamt und dem Vormund stattgefunden, in dem die Pflegeeltern dazu befragt worden seien, ob sie das Pflegeverhältnis denn weiterführen wollten. Der Vormund hätte die Situation daraufhin im Kindergarten selbst beobachtet, M… zu Hause aber nicht besucht.
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Im Hilfeplangespräch am 06.02.2023 sei ihnen – den Pflegeeltern – sodann überraschend erklärt worden, dass M… in eine andere Pflegefamilie wechseln solle. Das Jugendamt und der Vormund hätten Sorge gehabt, dass die jetzigen Pflegeeltern den Anforderungen an M… Erziehung in Zukunft möglicherweise nicht gerecht werden könnten. Am 08.02.2023 hätte sodann ein Treffen mit der neuen Pflegefamilie stattgefunden.
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Die Pflegeeltern würden sich gegen diesen plötzlichen und ohne Not beabsichtigten Wechsel M… in eine neue Pflegefamilie wenden. Er hätte seit bereits vier Jahren bei ihnen gelebt. Die Voraussetzungen für einen Wechsel der Pflegefamilie lägen nicht vor. Eine akute Kindeswohlgefährdung sei im Haushalt der jetzigen Pflegeeltern nicht gegeben. M… Wohl werde hingegen durch die Herausnahme aus dem Haushalt der Pflegeeltern gefährdet. M… würde eine Trennung von seinen Hauptbezugspersonen völlig ohne Not erleiden. Dies stelle ein gravierendes Risiko für die kindliche Entwicklung M… dar, was auch der Kinderarzt bestätigt hätte. Daher seien die Voraussetzungen für den Erlass einer Verbleibensanordnung gemäß § 1632 Abs. 4 BGB gegeben. Die Pflegeeltern seien zudem weiterhin dazu bereit Hilfen anzunehmen.
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Auch eine Folgenabwägung vor dem Hintergrund eines möglichen Hauptsacheverfahrens spreche für einen Verbleib M… in ihrer Familie. M… hätte sich in der Pflegefamilie gut entwickelt. Ein mehrfacher Wechsel des Ortes, der Bezugspersonen und des Umfelds hätten eine Beeinträchtigung des Kindeswohls zur Folge.
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3. Das Jugendamt des Landkreises Regensburg nahm mit Bericht vom 17.02.2023 zu dem Antrag der Pflegeeltern Stellung. M… sei entzügig geboren worden. Es sei bei ihm u.a. eine erhebliche Problematik in der Aufmerksamkeitssteuerung festgestellt worden. Dies wirke sich im Alltag so aus, dass er viele verschiedenen Reize gleichzeitig wahrnehme, dadurch überfordert sei und sein Handeln schwerer steuern könne. Dadurch entstünden auch Konflikte mit anderen Kindern. Der Kindergarten hätte dementsprechend bereits kurz nach Aufnahme einen besonderen Bedarf und die Notwendigkeit eines Integrativplatzes festgestellt. Die Pflegeeltern hätten diesen Bedarf nicht gesehen. Die Zusammenarbeit des Kindergartens mit den Pflegeeltern hätte sich seitdem schwierig gestaltet. Die Pflegeeltern hätten befürchtet, der Kindergarten fordere den Integrativplatz nur deshalb, um sich finanzielle oder personelle Vorteile zu verschaffen. Ein grundlegendes Verständnis der Pflegeeltern für die Besonderheiten des Jungen hätte gefehlt. Auch im Rahmen der im häuslichen Umfeld installierten Frühförderung hätte eine grundsätzliche Veränderung der Erziehungshaltung der Pflegeeltern trotz kleiner Fortschritte nicht erreicht werden können. Die Pflegeeltern hätten Rückmeldungen des Kindergartens und anderer Fachstellen eher als persönliche Kritik empfunden. Sie stellten sich gegen das Helfersystem und fühlten sich deshalb alleingelassen und fremdbestimmt. Den Belastungen, die durch M… Erziehung und Betreuung entstünden, könnten die Pflegeeltern nicht hinreichend gerecht werden, zumal die Pflegeeltern eigene psychische Vorbelastungen aufwiesen.
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In den letzten Monaten hätten die Pflegeeltern gegenüber dem Kind in Anwesenheit Dritter u.a. geäußert, dass er womöglich in ein Heim gehen müsse. Auch gegenüber dem Kreisjugendamt bzw. dem Vormund hätten sie ihre Überforderung ausgedrückt, indem sie dort angerufen und ins Telefon geschrien hätten: „Dann holt ihn ab! Wir können nicht mehr!“. Dadurch sei das emotionale Wohl des Kindes M… bei den Pflegeeltern gefährdet.
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Im Falle des Kindes M… sei es aufgrund seines Alters gerade noch möglich, ihn in einer professionellen Pflegefamilie zu integrieren. Die ausgewählte Pflegemutter sei als Sonderpädagogin tätig, der Pflegevater als Physiotherapeut, der viel mit Kindern arbeite. Aufgrund ihrer Ausbildung seien sie mit Störungsbildern, wie sie bei M… gegeben wären, vertraut. Bei ihrer professionellen Erfahrung könne davon ausgegangen werden, dass sie über die notwendige erzieherische Eignung verfügten, um M… in der schweren Zeit des Wechsels aufzufangen und zu begleiten.
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Aufgrund der massiven Belastung der bisherigen Pflegeeltern sei ein Verbleib in deren Familie für das Kind perspektivisch schädlich. Trotz der entstandenen Bindung zwischen ihnen und M… müsse dieser schwierige Schritt unternommen werden, um M… geeignete Bedingungen zu ermöglichen, sich positiv zu entwickeln. Die Entscheidung sei von dem Vormund und dem Jugendamt über Monate hinweg abgewogen worden, da sich ein Bindungsabbruch ebenfalls negativ auf die Entwicklung eines Kindes auswirken könne. Es könne allerdings angesichts des Verlaufs in den letzten Jahren nicht davon ausgegangen werden, dass die Pflegeeltern ihre Erziehungshaltung und -fähigkeit in dem Maße verbessern könnten, wie es für eine positive Entwicklung des Kindes notwendig wäre. Wenn M… in der Familie verbleibe, es aber aufgrund zu hoher Belastung der Pflegeeltern in den nächsten Jahren doch zu einem Abbruch der Vollzeitpflege kommen sollte, gebe es keine Möglichkeit mehr, eine familiäre Betreuung zu initiieren. In diesem Fall stünde tatsächlich nur noch eine stationäre Wohngruppe zur Verfügung. Ein Wechsel M… in eine professionelle Pflegefamilie müsse daher erfolgen, um M… bedarfsgerechte Bedingungen für eine positive Entwicklung zu ermöglichen.
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4. Der Vormund, Frau Dipl-Päd. (Univ.) K…, nahm zu dem Antrag der Pflegeeltern ebenfalls am 17.02.2023 Stellung. Die Auswahl des kinderlosen Paares R… als Pflegeeltern sei noch durch das Amt für Jugend und Familie Regensburg erfolgt. Zwischenzeitlich sei aufgrund des Aufenthalts der Pflegefamilie das Kreisjugendamt Regensburg zuständig. Jugendamt und Vormund seien der Auffassung, dass bei den Eheleuten R… kein ausreichendes Verständnis für die Bedürfnislage des Kindes M…, seine Entwicklungsverzögerungen (insbesondere in Ausdauer, Konzentration, Sprache und Motorik) vorlägen. Die Förderung des Kindes M… im Haushalt der Eheleute R… sei nicht ausreichend und daher nicht mehr dem Kindeswohl dienlich. Insbesondere komme es immer wieder zu Konflikten mit dem Personal des Kindergartens, weil die Verhaltensbeobachtungen der dortigen Fachkräfte von den Pflegeeltern in Abrede gestellt würden. Bei den Pflegeeltern seien deutliche Überlastungsanzeichen zu erkennen. Der Pflegevater hätte im Dezember 2022 angegeben, wenn der Kindergarten nicht in der Lage sei, M… gut zu führen, wie sie selbst es mit M… dann schaffen sollten. Im Beisein des Kindes hätte der Pflegevater gegenüber der Fachkraft sodann angegeben, dann könne das Jugendamt M… ja sofort abholen. Wiederholt sei es zu mangelnder Akzeptanz und mangelndem Vertrauen in die Arbeit der Fachkräfte gekommen. Herr R… sei wiederholt als impulsiv und belastet beschrieben worden. Die Schilderung der Verhaltensweisen des Kindes seien wiederholt als Versagen der Fachkräfte bewertet worden. Die Notlagen des Kindes, die zwischenzeitlich in völlige Erschöpfung und Verweigerung M… gegipfelt hätten, seien seitens der Pflegeeltern nicht gesehen worden. Das dringende Bedürfnis des Kindes nach einer Entlastung sei ignoriert worden. Seit Oktober 2022 hätte sich M… vermehrt geweigert, mittags mit dem Pflegevater mitzugehen. Auch in Entwicklungs- und Rückmeldegesprächen sei es nicht gelungen, den Pflegeeltern eine auf die Bedürfnislage des Kindes hin ausgerichtete Sichtweise zu vermitteln.
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Trotz des sehr langen Aufenthalts M… in der Pflegefamilie sei dessen Herausnahme erforderlich, um weiteren Schaden vom Kind abzuwenden. Bei den Pflegeeltern fehle es mittlerweile an einer ausreichenden Belastbarkeit, Empathie und Reflexion im Umgang mit M… Im Prozess der angedachten Verlegung des Kindes sei mit den Pflegeeltern wiederholt für einen bedürfnisorientierten Blick auf das Kind und für ein Verständnis gegenüber M… und den Aussagen und Maßnahmen der Fachkräfte geworben worden. Auch die erkennbare Belastung der Pflegeeltern sei wiederholt Thema gewesen. Zuletzt am 08.02.2023 hätten sich die Pflegeeltern mit dem Wechsel M… in eine andere Pflegefamilie einverstanden erklärt. Da sie sich nunmehr weigerten, M… an den Vormund herauszugeben, müsse eine Herausgabeanordnung beantragt werden.
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5. Das Amtsgericht stellte dem Kind M… einen Verfahrensbeistand zur Seite und wies den Antrag der Pflegeeltern ohne mündliche Verhandlung mit Beschluss vom 17.02.2023 zurück. Gleichzeitig ordnete es die Herausgabe des Kindes M… an den Vormund an.
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Noch am 17.02.2023 beantragten die Pflegeeltern, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und aufgrund mündlicher Verhandlung neu zu entscheiden, woraufhin das Amtsgericht am 09.03.2023 das Kind selbst in Anwesenheit des Verfahrensbeistands und am 13.03.2023 sowohl die Pflegeeltern als auch M… Mutter, den Verfahrensbeistand, den Vormund und das Kreisjugendamt Regensburg persönlich anhörte.
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6. Ebenfalls am 17.02.2023 wurde das Kind M… von den bisherigen Pflegeeltern dem Vormund übergeben. Mit Bericht vom 10.03.2023 ergänzte das Jugendamt seinen Vortrag dahingehend, bei der neuen Pflegefamilie hätte sich sogar ein noch größerer Förderbedarf des Kindes M… gezeigt. Die neuen Pflegeeltern seien speziell beruflich qualifiziert, um auf die besonderen Bedürfnisse M… einzugehen. Sie sähen die Bedürfnisse und hätten sogar weitere Probleme erkannt. Es sei undenkbar, dass die Eheleute R… diesem Bedarf von M… gerecht werden könnten, selbst wenn sie bereit seien, an sich selbst zu arbeiten. M… brauche umfassende Förderung, welche auch innerhalb des familiären Alltags fortgeführt werden müsse. Es werde hierbei nicht verkannt, dass die bisherigen Pflegeeltern dem Kind M… sicherlich zu keiner Zeit hätten schaden wollen. Dennoch seien sie unverschuldet nicht dazu in der Lage, M… emotional und hinsichtlich der notwendigen Förderung diejenigen Gegebenheiten zu bieten, die er brauche.
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7. Die Verfahrensbeiständin führte anlässlich des Erörterungstermins vom 13.03.2023 aus, bei M… sei ein Bedarf vorhanden, der weit über das normale Maß hinausreiche. Es sei erforderlich, dass die Eltern nicht beratungsresistent seien. Von verschiedenen Stellen sei rückgemeldet worden, dass dies nicht klappe. Die Eltern machten demgemäß einen stark belasteten Eindruck. Es handele sich um eine ungute Gemengelage. Durch die zwischenzeitliche Herausnahme liege ein Totalabbruch der Bindungen des Kindes vor. Im Falle einer Rückführung des Kindes in den Haushalt der Familie R… sei zu befürchten, dass etwa nach einem halben Jahr erneut die Herausnahme des Kindes anstehe. Ein Hin und Her gelte es zu vermeiden. Es werde eher befürwortet, M… in der neuen Pflegefamilie zu belassen.
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8. Mit Beschluss vom 15.03.2023 wies das Amtsgericht den Antrag der Pflegeeltern nach mündlicher Erörterung erneut zurück. Zur Begründung führte es aus, eine Gefährdung des Kindeswohls durch die Wegnahme aus der Pflegefamilie liege gerade nicht vor. Vielmehr sei die Herausnahme zu dem Zweck erfolgt, eine Gefährdung für das Kind abzuwenden. Die Pflegeeltern seien gemäß den Berichten des Jugendamts und der Fachkräfte offenbar nicht mehr in der Lage, den besonderen Bedürfnissen und Anforderungen des Kindes M… gerecht zu werden. Bei der zum Ausdruck gekommenen massiven Belastung der Pflegeeltern sei nicht davon auszugehen, dass diese noch in der Lage seien, zum Wohle des Kindes M… zu handeln. Den besonderen Bedürfnissen des Kindes M… schienen sie nicht mehr gerecht zu werden. Ratschläge der Fachkräfte hätten von ihnen nicht angenommen bzw. nicht nachvollzogen werden können. Vorschläge des Personals im Kindergarten, etwa die Betreuungszeit aufgrund einer Überforderung des Kindes zu verkürzen, hätte für Unverständnis der Pflegeeltern gesorgt. Es hätte teilweise Auseinandersetzungen und eskalierende Gespräche gegeben. Unterstützungsangebote hätten von den Pflegeeltern nicht angenommen werden können, sondern seien als persönliche Kritik verstanden worden. Es fehle den Pflegeeltern an Beratungsfähigkeit, was von verschiedenen Stellen beobachtet und beschrieben worden sei.
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Selbst bei weiteren unterstützenden Maßnahmen bei Rückkehr in die bisherige Pflegefamilie sei nicht davon auszugehen, dass sich die Gefährdung des Kindeswohls abwenden ließe. Es sei zu befürchten, dass M… nach kurzer Zeit wiederum aus der Pflegefamilie herausgenommen werden müsse.
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9. Der Beschluss wurden der Verfahrensbevollmächtigten der Pflegeeltern am 15.03.2023 und der Kindesmutter am 17.03.2023 zugestellt. Mit Schreiben vom 24.03.2023, eingegangen am 24.03.2023, legte die Kindesmutter Beschwerde gegen den Beschluss vom 15.03.2023 ein. Sie sei schockiert, dass ihr Sohn aus der Pflegefamilie R… herausgerissen werden solle. Die Familie sei bisher vom Jugendamt gelobt worden. Sie und auch ihr anderer Sohn seien schockiert, dass M… nunmehr den Weg von einer Pflegefamilie in ein Heim und danach den mehrfachen Wechsel des Heims gehen müsse. Die neue Pflegemutter trete bestimmend und forsch gegenüber M… auf. M… sei verunsichert. Sie wünsche sich eine Rückkehr M… in die bisherige Pflegefamilie, damit ihr Sohn dort aufwachsen könne ohne geschädigt zu werden.
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Mit Schriftsatz vom 29.03.2023, eingegangen an diesem Tag, legten auch die bisherigen Pflegeeltern Beschwerde gegen den Beschluss vom 15.03.2023 ein. Sie beantragen, den Beschluss vom 15.03.2023 aufzuheben und anzuordnen, dass das Kind M… vorläufig wieder an sie herausgegeben werden müsse. Zudem wurde erneut der Erlass einer Verbleibensanordnung beantragt. Die Pflegefamilie stehe unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 GG. Eine konkrete erhebliche, gegenwärtige und akute Gefährdung von M… Wohl im Haushalt der Familie R… hätte nicht vorgelegen. Diese sei von dem Amtsgericht auch nur pauschal festgestellt und nicht konkretisiert worden. Jugendamt und Vormund hätten in den letzten zwei Jahren keinen einzigen Hausbesuch bei der Pflegefamilie gemacht. Das Amtsgericht hätte vor einer Herausnahme auch mildere Maßnahmen wie einen Kindergartenwechsel prüfen müssen. Das Amtsgericht hätte auch die Heilpädagogin H… nicht angehört. Zudem hätte das Amtsgericht ein Sachverständigengutachten einholen müssen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass eine Beeinträchtigung des seit vier Jahren bei der Pflegefamilie lebenden Kindes durch die Herausnahme und Trennung von seiner sozialen Familie drohe. Die Bindungen des Kindes M… zu seinen Pflegeeltern R… müssten geschützt werden.
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10. Das Jugendamt nahm zu den Beschwerden mit Bericht vom 28.04.2023 Stellung. Das emotionale Wohl des Kindes M… sei bei den bisherigen Pflegeeltern zuletzt gefährdet gewesen. Die Entscheidung zur Herausnahme sei unter Einbeziehung verschiedener Fachkräfte im Rahmen von Supervisionen und kollegialen Beratungen über Monate hinweg schweren Herzens getroffen worden. Herr und Frau R… hätten stets angegeben, M… entwickle sich „normal“. Probleme seien ihrer Auffassung nach alleine durch einen Wechsel des Kindergartens ausgelöst worden. Bei M… seien allerdings deutliche Defizite in der Wahrnehmung und der Aufmerksamkeitssteuerung gegeben, was auch von dem Kindergarten, dem Sozialpädiatrischen Zentrum und der Frühförderstelle rückgemeldet worden sei. Diese Einschränkungen kämen nicht nur im Kindergarten, sondern auch im häuslichen Umfeld zum Tragen und seien dort ebenfalls zu berücksichtigen. Die Pflegeeltern fühlten sich infolge des Einwirkens verschiedener Stellen zunehmend bedroht, was zu Konflikten und unpassenden Äußerungen der Pflegeeltern in Anwesenheit des Kindes geführt hätte. Die sanfte Anbahnung eines Wechsels über Monate hinweg hätte zwar für eine Abschwächung der Auswirkungen auf das Kind sorgen können; dies hätte aber nur mit Kooperation sämtlicher Beteiligter umgesetzt werden können. Bei der neuen Pflegefamilie handele es sich um eine professionelle Pflegestelle, welche aufgrund beruflicher Ausbildung geeignet sei, dem Förderbedarf von M… gerecht zu werden.
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11. Gemäß Mitteilung des Vormunds vom 26.04.2023 wurde im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens beim Amtsgericht Regensburg mittlerweile ein familienpsychologisches Gutachten in Auftrag gegeben, um den langfristigen Verbleib M… zu klären. Es hätten sich seit der letzten Stellungnahme keine Aspekte ergeben, die die getroffene Entscheidung in Frage stellen würde. M… fühle sich in der neuen Pflegefamilie gut aufgehoben und wirke sichtlich fröhlicher, entlasteter und emotional weniger labil als in den Monaten zuvor. Er könne immer besser Zuwendung einholen und körperliche Nähe einfordern, wenn er sie brauche. Zudem profitiere er von der Anwesenheit des älteren Kindes in der Familie. M… sei in der Familie R… wegen der erkennbar enorm gesteigerten emotionalen Belastung nicht mehr gut aufgehoben gewesen. Im Sinne des Kindeswohls sei daher nicht anders zu handeln gewesen, als M… in eine andere, qualifizierte Pflegefamilie umzusiedeln. Bedingt durch die Zunahme an Intensität und Schärfe der Konflikte, die Frau und Herr R… vor allem mit den Fachkräften des Kindergartens führten, hätte ein Verbleib des Kindes in Obhut der bisherigen Pflegeeltern eine deutliche Zerrissenheit des Kindes zur Folge gehabt.
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12. Die Verfahrensbeiständin berichtete am 03.05.2023 ebenfalls, dass im Hauptsacheverfahren ein Sachverständigengutachten zur Frage von M… Verbleib in Auftrag gegeben worden sei. Das Ergebnis dieses Gutachtens solle abgewartet werden. Bis dahin solle gemäß ihrer Auffassung eine Veränderung am Aufenthalt M… nicht vorgenommen werden, auch wenn es kritisch gesehen werde, dass M… praktisch übergangslos von einer Pflegefamilie in die andere verpflanzt worden sei. Es werde ebenso kritisch gesehen, dass er seine früheren Pflegeeltern bislang noch nicht wiedergesehen hätte. Hier sollten dringend Umgänge installiert werden. Ein Hin und Her zwischen den Pflegefamilien sei jedenfalls zu vermeiden, so dass angeregt werde, die Beschwerden zurückzuweisen.
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Es wird im Übrigen auf die schriftlichen Eingaben und die zur Protokoll erklärten Äußerungen der Beteiligten ergänzend Bezug genommen.
II.
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Die Beschwerde der Kindesmutter war als unzulässig zu verwerfen.
29
Der Kindesmutter war mit Beschluss des Amtsgerichts Regensburg vom 05.06.2019, Az. 205 F 751/19 die elterliche Sorge für das Kind M… komplett entzogen und Vormundschaft angeordnet worden. Aufgrund des erfolgten Entzugs der elterlichen Sorge ist sie durch die Entscheidung über eine Verbleibensanordnung gemäß § 1632 Abs. 4 BGB nicht unmittelbar in ihren Rechten beeinträchtigt (OLG Hamm FamRZ 2011, 1666). Die Kindesmutter ist deshalb nicht beschwerdeberechtigt im Sinne des § 59 Abs. 1 FamFG.
III.
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1. Die Beschwerde der bisherigen Pflegeeltern ist zulässig. Insbesondere sind die bisherigen Pflegeeltern eines Kindes im Zusammenhang mit der Entscheidung über den Erlass einer Verbleibensanordnung gemäß § 59 Abs. 1 FamFG beschwerdeberechtigt (OLG Frankfurt NZFam 2022, 593; MüKo/Huber BGB, 8. Auflage, § 1632 Rn. 64).
31
Die Beschwerde der bisherigen Pflegeeltern ist auch statthaft und wurde rechtzeitig eingelegt.
32
2. Die Beschwerde der bisherigen Pflegeeltern ist allerdings unbegründet. Der Beschluss des Amtsgerichts vom 15.03.2023 begegnet bei der im Verfahren der einstweiligen Anordnung vorzunehmenden summarischen Prüfung keinen durchgreifenden Bedenken.
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a. Gemäß § 1632 Abs. 4 BGB kann das Familiengericht anordnen, dass ein Kind, das seit längerer Zeit in Familienpflege lebt, trotz des Herausgabeverlangens der Eltern bei der bisherigen Pflegeperson verbleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme von der Pflegeperson gefährdet würde. § 1632 Abs. 4 BGB ist entsprechend auf einen Vormund oder Pfleger anzuwenden, der das ihm übertragene Recht zur Aufenthaltsbestimmung bezüglich des betroffenen Kindes ausübt und das Kind aus dem Haushalt der Pflegeperson herausnehmen möchte (BeckOK/Veit BGB, § 1632, 65. Edition, Rn. 78).
34
aa. Das Kindeswohl wird durch die Herausnahme aus der Pflegefamilie gefährdet im Sinne des § 1632 Abs. 4 BGB, wenn durch das Herausgabebegehren das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes nachhaltig gefährdet wäre. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Bindungen des Kindes zu seiner Pflegeperson dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 GG unterliegen, auch wenn sich Pflegeeltern – anders als Herkunftseltern – nicht auf den Schutz des Art. 6 Abs. 2 GG berufen können (BVerfG FamRZ 2006, 1593). Die Trennung eines Pflegekindes von seinen unmittelbaren Bezugspersonen bedeutet regelmäßig eine erhebliche psychische Belastung für das Kind und ist mit einem schwer bestimmbaren Zukunftsrisiko verbunden (BVerfG FamRZ 2010, 865; BGH FamRZ 2014, 543). Das Kindeswohl gebietet es daher, die Bindungen des Kindes zu seinen Pflegeeltern in die Entscheidung über den weiteren Aufenthalt des Kindes einzubeziehen (BVerfG FamRZ 2014, 1266). Wenn die Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie und der damit einhergehende Abbruch der Bindungen zu den bisherigen Pflegeeltern eine Kindeswohlgefährdung darstellen würde, ist daher eine Entscheidung gemäß § 1632 Abs. 4 BGB veranlasst (BeckOK/Veit BGB, 65. Edition, § 1632 Rn. 73).
35
bb. Ist nicht etwa die Rückführung des Kindes zu seinen Herkunftseltern, sondern ein Pflegestellenwechsel geplant, so muss mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können, dass das Kindeswohl durch die Herausnahme des Kindes aus der bisherigen Pflegefamilie und dessen Zuführung zu einer anderen Pflegefamilie gefährdet wird (BVerfG NJW 1988, 125). Umgekehrt scheidet ein Verbleib des Kindes in der bisherigen Pflegefamilie bzw. eine Rückführung dorthin aus, wenn das Kind in diesem Fall in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet würde (BVerfG FamRZ 2021, 672). Bei der Entscheidung hat das Gericht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten und dabei die Grundrechte der Beteiligten in eine Konkordanz zu bringen. Bei der in diesem Zusammenhang anzustellenden Interessenabwägung muss die Individualität des Kindes einbezogen werden (OLG Saarbrücken NZFam 2014, 74). So können etwa krankheitsbedingte Einschränkungen des Kindes einer Änderung der Lebensumstände im Wege stehen (OLG Frankfurt FamRZ 2014, 1787) oder einen Wechsel der Pflegestelle gerade erst erfordern. In die Abwägung einzubeziehen ist auch die Persönlichkeit der bisherigen Pflegeeltern und die Situation in deren Familie. Auch eine gewachsene Bindung zwischen dem Kind und den Pflegeeltern darf bei der Entscheidung über die Herausnahme des Kindes nicht außer Acht bleiben (BVerfG FamRZ 2006, 1593). In diesem Zusammenhang von Bedeutung ist zudem die Erziehungsfähigkeit der Pflegeeltern (BVerfG FamRZ 2021, 672).
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Das Kind hat einen grundrechtlichen Anspruch auf den Schutz des Staates. Der Staat hat gemäß Art. 6 Abs. 2 GG die Verpflichtung, die Pflege und Erziehung des Kindes im Rahmen des ihm zukommenden Wächteramts sicherzustellen. Dies hat zur Folge, dass das Gericht bei der Entscheidung über die Rückkehr eines Kindes in die (frühere) Pflegefamilie eine Gefahrenprognose anzustellen hat. Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass das Kind bei einer Rückkehr in die bisherige Pflegefamilie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre, wird das Gericht dem Schutzanspruch des Kindes nur dann gerecht, wenn es nachvollziehbar begründen kann, warum eine Gefahr für das Wohl des Kindes im Falle der Rückführung in die bisherige Pflegefamilie tatsächlich nicht droht (BVerfG FamRZ 2021, 672; BVerfG NZFam 2017, 261).
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b. Hieran gemessen, ist die Entscheidung des Amtsgerichts nach der im Eilverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung im Ergebnis nicht zu beanstanden.
38
aa. Zwar ist mit der Herausnahme des Kindes M… aus der bisherigen Pflegefamilie ein Abbruch der im Laufe der Zeit gewachsenen Bindungen verbunden. Zu Recht weisen die bisherigen Pflegeeltern darauf hin, dass M… sich seit ca. vier Jahren in ihrem Haushalt aufgehalten hat. Da ein Bindungsabbruch für das Wohl eines Kindes ein Gefährdungsmoment darstellt, ist dieser Gesichtspunkt im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung zu berücksichtigen.
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Im Ergebnis führt dieser Gesichtspunkt allerdings nicht dazu, dass die Bindungen des Kindes M… zu seinen bisherigen Pflegeeltern einen Verbleib in deren Haushalt erfordern würde. Denn im Hinblick auf die bei den bisherigen Pflegeeltern gegebene Problemlage erscheint es vorbehaltlich im Rahmen des bereits anhängigen Hauptsacheverfahrens gewonnener weiterführender Erkenntnisse vielmehr unvermeidlich, die hierdurch entstehenden Belastungen für das Kind hinzunehmen, um eine am Wohl des Kindes orientierte nachhaltige Betreuungssituation herzustellen. Denn ein Verbleib des Kindes im Haushalt der bisherigen Pflegeeltern wäre ebenfalls mit einem Gefährdungspotential verbunden, das über die durch den Bindungsabbruch entstehende Belastung hinausgeht und dem durch einen Wechsel der Pflegefamilie wirksam begegnet werden kann.
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Gemäß den Eingaben sämtlicher beteiligter Fachstellen sind die bisherigen Pflegeeltern mit den besonderen Bedürfnissen des Kindes M… mittlerweile überfordert. Die Pflegeeltern selbst haben gegenüber den Fachkräften des Kindergartens und des Jugendamts und dem Vormund Belastungen zum Ausdruck gebracht, die sich im Rahmen der familiären Frühförderung bestätigt haben.
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Dies geht aus den zahlreichen Berichten des Jugendamts und des Vormunds hervor. Gemäß Bericht der Heilpädagogin, Frau H…, vom 21.12.2022 über den Verlauf der Frühförderung wirke die Familie insgesamt sehr belastet. M… beanspruche auch im Elternhaus viel Klarheit, Struktur und Beständigkeit. Es hätten sich zuletzt viele Konflikte mit dem Kindergarten ergeben, welche bei den Pflegeeltern ein Gefühl der Ohnmacht und des Unvermögens ausgelöst hätten. Dies würde einen feinfühligen, selbstsicheren und entspannten Umgang mit M… erschweren und führe teilweise zu einer recht unnachgiebigen, strengen Haltung. Die Pflegeeltern setzten sich für M… Belange und sein Wohl ein und bemühten sich um ein gut strukturiertes und versorgendes Elternhaus, wobei der Druck, den sie empfänden, auch im Umgang mit M… spürbar sei.
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Gemäß Bestätigung verschiedener Stellen sind die bisherigen Pflegeeltern nicht dazu in der Lage, Ratschläge und Verhaltensempfehlungen anzunehmen. Insbesondere im Hinblick auf eine Entlastung des Kindes M…, der wegen der bei ihm festgestellten Problematik in der Aufmerksamkeitssteuerung auf eine Entlastung etwa in Gestalt der Verkürzung von Betreuungszeiten im Kindergarten dringend angewiesen gewesen wäre, stellten sie die Verhaltensbeobachtungen der jeweiligen Fachkräfte in eskalierenden Gesprächen in Abrede und fassten deren Ratschläge als persönliche Kritik auf. Obwohl bei M… aufgrund seiner Geschichte eine besondere Bedürfnislage vorliegt und daher eine spezielle Förderung erforderlich ist, konnten die bisherigen Pflegeeltern, die nicht etwa berufsbedingt mit entsprechenden Störungsbildern von sich aus adäquat umgehen können, entsprechende Unterstützungsangebote nicht annehmen. Eine optimale Förderung M… im Haushalt der bisherigen Pflegeeltern erschien daher den beteiligten Fachstellen zuletzt fraglich. Auch im Rahmen des mehrmonatigen Prozesses, in dem eine Verlegung des Kindes in eine andere Pflegefamilie in Erwägung gezogen und bei den bisherigen Pflegeeltern wiederholt noch für einen bedürfnisorientierten Blick auf das Kind und für ein Verständnis gegenüber M… und den Aussagen und Maßnahmen der Fachkräfte geworben worden war, konnte die Situation bei den bisherigen Pflegeeltern insoweit nicht hinreichend verbessert werden.
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Der mittlerweile vorgenommene Wechsel der Betreuungsstelle erfolgte in eine professionelle Pflegefamilie, die mit dem Störungsbild des Kindes berufsbedingt besser umgehen und die Förderung optimal hieran ausrichten kann. Kraft ihrer beruflichen Ausrichtung haben die neuen Pflegeeltern auf die Einschränkungen M… einen geschulten Blick. Eine im gleichen Maße erfolgversprechende Förderung wäre im Haushalt der bisherigen Pflegeeltern – wenn überhaupt – nur im Falle einer intensiven fachlichen Begleitung bei entsprechender Beratungs- und Mitwirkungsbereitschaft der Pflegeeltern denkbar gewesen, von der wegen der bestehenden emotionalen Belastungen innerhalb der Familie und den aufgetretenen Konflikten allerdings nicht mehr ausgegangen werden konnte. Das Amtsgericht hat zu Recht dargelegt, für eine adäquate Förderung M… bedürfte es einer besonderen Belastbarkeit, Empathie und Reflexion der Pflegeeltern im Umgang mit M…, was im Haushalt der bisherigen Pflegeeltern gemäß übereinstimmender Darlegung der beteiligten Fachkräfte allerdings nicht mehr sichergestellt werden kann.
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Bei der Abwägung zu berücksichtigen ist schließlich, dass durch den Wechsel des Kindes in eine professionelle Pflegefamilie perspektivisch eine stationäre Unterbringung des Kindes so gut wie möglich vermieden werden soll. Bei der besonderen Bedürfnislage des Kindes wäre im weiteren Verlauf bei zunehmendem Alter des Kindes M… und entsprechenden Entwicklungsschritten zu befürchten, dass die beruflich mit entsprechenden Störungsbildern nicht vertrauten bisherigen Pflegeeltern noch mehr überfordert werden könnten als bisher. Der Wechsel in eine andere Pflegefamilie wäre sodann wesentlich schwieriger bzw. ab einem bestimmten Punkt überhaupt nicht mehr möglich. Der Wechsel der Pflegefamilie soll demnach auch der weiteren Ermöglichung der Familienpflege dienen.
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Dem Wohl des Kindes M… entspricht es daher jedenfalls aufgrund der im Eilverfahren vorzunehmenden vorläufigen Einschätzung auch zur Überzeugung des Senats besser, wenn ihm die fachliche Kompetenz der neuen Pflegefamilie zugutekommt. Die mit der Herausnahme des Kindes verbundenen negativen Folgen in Gestalt des Bindungsabbruchs werden dadurch insbesondere bei Betrachtung der problembehafteten Situation in der bisherigen Pflegefamilie mehr als kompensiert.
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bb. An dieser Einschätzung des Senats kann das von den Beschwerdeführern vorgelegte ärztliche Attest des Kinder- und Jugendarztes Dr. med. E… vom 13.02.2023 nichts ändern. Der betreuende Kinderarzt bestätigte in dem Attest, M… leide an einer Aufmerksamkeitsverzögerung, Sprachentwicklungsverzögerung, Zustand nach Drogenentzugssyndrom, Zustand nach Polytoxikomanie in der Schwangerschaft, Ausschluss von Fetales Alkohol Syndrom. Er legte in dem Attest dar, dass ihm eine Herausnahme aus der Pflegefamilie und ein Familienwechsel eher schädlich erscheine. M… hätte eine enge und stabile Bindung zu den Pflegeeltern aufgebaut. Grundsätzlich sollten vorhandene Bindungen primär aufrechterhalten werden, weil sie als Schutzfaktoren für eine stabile und gesunde sozio-emotionale wie auch kognitive Entwicklung anzusehen seien. Bindungsabbrüche seien als prädiktiv für eine misslingende psychosoziale Anpassung zu vermeiden. Die Vorerkrankungen würden bereits ein erhebliches Risiko für derartige Entwicklungen in sich tragen. Ein Familienwechsel erscheine erst dann gerechtfertigt, wenn die zu erwartenden Probleme aufträten. Bei den regelmäßigen Arztkontakten sei eine positive Entwicklung beobachtet worden.
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Zum einen waren die Pflegeeltern selbst gemäß Attest die einzigen Ansprechpartner des attestierenden Arztes, so dass dieser seine Einschätzung lediglich aufgrund der Darlegungen der Pflegeeltern abgab. Wie sich M… (und die Pflegeeltern) im Zusammenhang mit dem Besuch des Kindergartens oder im Rahmen der Frühförderung verhielten, ist in die Beurteilung des Arztes offenbar nicht eingeflossen. Zudem betrachtet der attestierende Arzt nur eine einzige Folge des Pflegestellenwechsels, welche von dem Jugendamt, dem Vormund und dem Familiengericht bei der Entscheidung des Pflegestellenwechsels im Rahmen der Gesamtabwägung bereits gesehen und berücksichtigt wurde.
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Es ist auch nicht zu beanstanden, dass das Amtsgericht die Heilpädagogin nicht persönlich angehört hat. Diese hat über den Verlauf der Frühförderung und auch die Situation in der Pflegefamilie Bericht erstattet, der bei der Entscheidung ebenfalls berücksichtigt wurde.
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Ob der Vormund das betroffene Kind bei der Pflegefamilie hätte besuchen müssen, steht hier nicht zur Entscheidung. Die Fachkräfte haben nicht in Abrede gestellt, dass die Pflegeeltern für das Kind ein räumlich geeignetes Zuhause geschaffen haben. Dies kann an den oben skizzierten Gründen für den Pflegestellenwechsel allerdings nichts ändern.
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Die Erholung eines Sachverständigengutachtens war im Rahmen des summarischen Eilverfahrens nicht veranlasst. Das Amtsgericht hat bereits ein Hauptsacheverfahren eingeleitet und in diesem Zusammenhang ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben. Im Rahmen des Hauptsacheverfahrens wird sodann abschließend unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Begutachtung zu entscheiden sein.
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cc. Eine aktuelle Rückführung des Kindes M… in den Haushalt der bisherigen Pflegeeltern vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens war auch deshalb nicht veranlasst, weil dies einen erneuten Ortswechsel M… zur Folge haben würde, ohne dass Gewissheit darüber bestünde, wo er schlussendlich in Zukunft leben wird. Zu Recht weisen die Pflegeeltern in ihrer Beschwerdebegründung darauf hin, dass bei offenem Ausgang eines Hauptsacheverfahrens eine Folgenabwägung zu erfolgen hat. Regelmäßig entspricht es nicht dem Wohl eines Kindes, vor der Entscheidung in der Hauptsache einen erneuten Ortswechsel vorzunehmen (BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 12. Juni 2007 – 1 BvR 1426/07 –, Rn. 12; Saarländisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 30. September 2010 – 6 UF 99/10 –, Rn. 14). Dies trifft auch auf das Kind M… zu. Da sich M… in der professionellen Pflegefamilie mittlerweile gut eingelebt hat und es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass er dort etwa nicht kindeswohlentsprechend betreut, versorgt und gefördert wird, muss eine Entscheidung über den endgültigen Aufenthalt M… und über einen in diesem Zusammenhang etwa erforderlichen erneuten Ortswechsel dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
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3. Das Beschwerdegericht hat von einer nochmaligen Anhörung des betroffenen Kindes M…, der Mutter und der bisherigen Pflegeeltern sowie des Jugendamts, des Vormunds und der Verfahrensbeiständin gemäß § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG abgesehen. Sämtliche Beteiligte wurden im Rahmen des ersten Rechtszugs persönlich angehört. Zudem wurden die unterschiedlichen Auffassungen im Rahmen des Beschwerdeverfahrens ausführlich schriftlich dargestellt. Von einer erneuten Anhörung wären keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten gewesen. Es war vorliegend auch keine Hauptsacheentscheidung zu treffen.
IV.
53
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG.
54
Die Festsetzung des Verfahrenswerts folgt §§ 40, 41 sowie § 45 Abs. 1 Ziff. 4 FamGKG, welcher auch im Falle einer Entscheidung über den Erlass einer Verbleibensanordnung Anwendung findet (BeckOK/Neumann Kostenrecht, FamGKG, 41. Edition, § 45 Rn. 30).
55
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde liegen nicht vor. Die Entscheidung ist deshalb nicht mit einem Rechtsmittel anfechtbar.
Erlass des Beschlusses (§ 38 Abs. 3 Satz 3 FamFG)