Titel:
Rücknahme der Zuerkennung subsidiären Schutzes wegen schwerer Straftat
Normenketten:
AsylG § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, § 73b Abs. 3, § 78 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 3
StGB § 56 Abs. 2
BtMG § 29a Abs. 1 Nr. 2
AufenthG § 25 Abs. 3 S. 3 Nr. 2
Leitsatz:
Eine Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 Abs. 2 StGB steht der Einstufung einer Straftat als schwere Straftat iSv § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG nicht generell entgegen. Die Frage lässt sich nur unter Würdigung der Schwere der fraglichen Straftat und unter vollständiger Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls klären. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rücknahme der Zuerkennung subsidiären Schutzes, Begehung einer schweren Straftat, Strafaussetzung zur Bewährung, subsidiärer Schutz, Zuerkennung, Rücknahme, schwere Straftat
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 07.07.2022 – Au 5 K 22.30251
Fundstelle:
BeckRS 2023, 2216
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
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1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe sind schon nicht ausreichend dargelegt (vgl. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
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a) Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (vgl. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) zuzulassen.
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Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung setzt voraus, dass eine konkrete, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung (entscheidungserheblich) war, deren Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 72).
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Der Kläger hält die Fragen für grundsätzlich bedeutsam, ob es sich im Falle einer Verurteilung durch ein Jugendgericht zu zwei Gesamtfreiheitsstrafen von einem Jahr und vier Monaten sowie einem Jahr und drei Monaten, die wegen einer besonders positiven Prognose gemäß § 56 Abs. 2 StGB durch das Strafgericht zur Bewährung ausgesetzt wurden, rechtlich verbietet, von einer erforderlichen Schwere der Straftaten im Sinne des Ausschlussgrundes nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG auszugehen und ob entgegen der begründeten Auffassung zur Bewährungsaussetzung des Strafgerichts nach § 56 Abs. 2 StGB von einer weiterhin rechtlich relevanten Gefahr für die Allgemeinheit durch Begehung weiterer Straftaten durch den Kläger auszugehen ist.
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Zur Begründung führte der Kläger aus, das Amtsgericht Kempten habe ihn mit Urteil vom 21. April 2021 wegen unerlaubtem Handelstreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen in Tateinheit mit vorsätzlich unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln u.a. einmal zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten sowie wegen unerlaubtem Handelstreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in weiteren zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, wobei beide Gesamtfreiheitsstrafen jeweils unter Anwendung von § 56 Abs. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt worden seien. Verwaltungsgerichte hätten schon bei Vorliegen schwererer Straftaten den Ausschlussgrund nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG verneint. Die vorliegende Entscheidung des Erstgerichts befremde, weil es trotz Vorliegens der erforderlichen besonders günstigen Prognose für die Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56 Abs. 2 StGB durch das Strafgericht von einer erforderlichen Schwere der Straftaten für die Rücknahme des subsidiären Schutzes ausgehe und weiterhin eine Gefährdung der allgemeinen Sicherheit und öffentlichen Ordnung durch einen weiteren Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland annehme. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts könne die Verurteilung wegen der verfahrensgegenständlichen Straftaten bei Aussetzung zur Bewährung unter Annahme der besonderen Bewährungsvoraussetzung des § 56 Abs. 2 StGB die Annahme einer schwerwiegenden Straftat im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG im vorliegenden Fall keinesfalls rechtfertigen.
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Mit diesen Ausführungen wird eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht dargelegt im Sinne von § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG. Die vom Kläger gestellte Frage ist nicht grundsätzlich bedeutsam; sie ist nicht klärungsbedürftig, sondern geklärt. Eine Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 Abs. 2 StGB steht der Einstufung der betreffenden Straftat als schwere Straftat im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG nicht generell entgegen. Die Frage, unter welchen Umständen eine schwere Straftat, die zur Rücknahme des subsidiären Schutzes nach § 73b Abs. 3 AsylG führen kann, vorliegt, lässt sich nicht allgemein, sondern nur im individuellen Einzelfall unter Würdigung der Schwere der fraglichen Straftat und unter vollständiger Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls klären.
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Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 13. September 2018 (C-369/17 – NVwZ-RR 2019, 119) ist es „Sache der zuständigen nationalen Behörde bzw. des zuständigen nationalen Gerichts, die oder das über den Antrag auf subsidiären Schutz entscheidet, die Schwere der fraglichen Straftat zu würdigen, wobei eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls vorzunehmen ist“, wie der Kläger bei der weiter erhobenen Verfahrensrüge der Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs selbst vorträgt.
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Die Schwere der Straftat, aufgrund derer eine Person vom subsidiären Schutz ausgeschlossen werden kann, ist anhand einer Vielzahl von Kriterien, wie u. a. der Art der Straftat, der verursachten Schäden, der Form des zur Verfolgung herangezogenen Verfahrens, der Art der Strafmaßnahme und der Berücksichtigung der Frage zu beurteilen, ob die fragliche Straftat in den anderen Rechtsordnungen ebenfalls überwiegend als schwere Straftat angesehen wird (EUGH, U.v. 13.9.2018, a.a.O., Rn. 56 unter Bezugnahme auf den Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen – EASO – von Januar 2016 mit dem Titel „Ausschluss: Artikel 12 und Artikel 17 der Anerkennungsrichtlinie – RL 2011/95/EU“; vgl. auch BVerwG, U.v. 16.2.2010 – 10 C 7.09 – juris Rn. 47). Von Letzterem ist auszugehen. Der Kläger trägt auch nicht vor, dass Betäubungsmitteldelikte der hier vorliegenden Art in anderen Rechtsordnungen außerhalb der Bundesrepublik Deutschland nicht überwiegend als schwere Straftaten angesehen würden.
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Die klägerische These, wonach eine schwere Straftat im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG nicht angenommen werden könne, wenn die verhängte Freiheitsstrafe von über einem Jahr wegen einer besonders günstigen Sozialprognose nach § 56 Abs. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt worden ist, trägt nicht. Wie das Verwaltungsgericht in seinem Urteil (UA S. 8 f.) zutreffend feststellte, kann auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Begriff der „Straftat von erheblicher Bedeutung“ in § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG zurückgegriffen werden, da dieser Begriff inhaltsgleich mit demjenigen der schweren Straftat im Sinne des Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der RL 2011/95/EU (EU-Anerkennung-RL) ist (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 16.14 – juris Rn. 22). Nach dieser Rechtsprechung ist der Ausschlussgrund nach § 25 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AufenthG nicht gefahren- oder präventionsabhängig konzipiert, sondern als dauerhaft wirkender Ausschlusstatbestand. Er bezeichnet Fälle, in denen der Ausländer einer Aufenthaltsgewährung als unwürdig erachtet wird. Diese aus der Begehung einer schweren Straftat folgende „Unwürdigkeit“, einen qualifizierten Aufenthaltstitel zu erhalten, besteht auch dann fort, wenn keine Wiederholungsgefahr (mehr) besteht und von dem Ausländer auch sonst keine aktuellen Gefahren für den Aufenthaltsstaat ausgehen (BVerwG, U.v. 25.3.2015, a.a.O. Rn. 29 m.w.N.). Dasselbe gilt entsprechend für den Ausschlussgrund des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG für die „Unwürdigkeit“, subsidiären Schutz zu erhalten.
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Von dieser Rechtsprechung ausgehend kam das Verwaltungsgericht in seinem Urteil unter ausführlicher Darlegung (UA S. 9 ff.) zu dem Ergebnis, dass die vom Kläger begangenen Straftaten auch unter Würdigung der besonderen Umstände des konkreten Einzelfalls die für den Ausschlussgrund des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG erforderliche Schwere aufwiesen. Wie sich der Wertung des Art. 83 Abs. 1 AEUV entnehmen lasse, gehöre der illegale Drogenhandel zu den Bereichen der besonders schweren Kriminalität. Die Strafvorschriften der § 29a Abs. 1 Nr. 2, § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG sähen im Strafrahmen eine Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bzw. eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe und damit eine beträchtliche Strafandrohung vor. Bei der verwirklichten Strafvorschrift des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG handele es sich nach § 12 Abs. 1 StGB zudem um ein Verbrechen. Zwar sei das Strafgericht von einem minder schweren Fall ausgegangen, jedoch habe das Strafgericht dies auch damit begründet, dass zum Teil Betäubungsmittelgeschäfte von Anfang an polizeiüberwacht gewesen wären. Die günstige Sozialprognose beruhe auch auf Umständen nach der Tat und könne die Schwere der Tat nicht mindern. Zudem ergebe sich aus dem Strafurteil, dass die Freiheitsstrafen „nach reiflicher Überlegung gerade noch“ jeweils zur Bewährung ausgesetzt worden seien. Diese Einzelfallwürdigung durch das Verwaltungsgericht kann nicht mit der Grundsatzrüge angegriffen werden. Der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist in asylrechtlichen Streitigkeiten nicht gegeben (vgl. § 78 Abs. 3 AsylG).
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b) Die Berufung ist auch nicht nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO wegen eines Verfahrensmangels – hier wegen der gerügten Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach § 138 Nr. 3 VwGO – zuzulassen.
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Das rechtliche Gehör sichert den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02 – BVerfGE 107, 395/409 = NJW 2003, 1924). Das rechtliche Gehör gewährleistet im Sinn der Wahrung eines verfassungsrechtlich gebotenen Mindeststandards, dass ein Kläger die Möglichkeit hat, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Die Gerichte sind nicht verpflichtet, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden. Ein Gehörsverstoß liegt deshalb nur vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (BVerfG, B.v. 29.10.2015 – 2 BvR 1493/11 – NVwZ 2016, 238/241).
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Der Kläger trägt vor, das Verwaltungsgericht habe sich ersichtlich nicht damit auseinandergesetzt, dass sich der Kläger im vorgenannten Strafverfahren in umfangreicher Weise erfolgreich als Aufklärungsgehilfe nach § 31 BtMG betätigt habe. Hieraus sei ersichtlich, dass beim Kläger einmalige Verfehlungen vorlägen, die nicht auf eine Rechtsfeindlichkeit hindeuteten. Auch habe das Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt, dass der Kläger eine mehrmonatige Untersuchungshaft erlitten habe, die beim Kläger einen tiefen Eindruck hinterlassen habe. Insbesondere sei offensichtlich übersehen worden, sich mit der gelungenen beruflichen und sprachlichen Integration des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland auseinanderzusetzen. Es fehle im angefochtenen Urteil an einer erforderlichen Würdigung aller Umstände.
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Mit diesen Ausführungen wird eine Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht dargelegt. Zur Bedeutung einer günstigen Sozialprognose durch das Strafgericht für die Annahme einer schweren Straftat im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG wird er auf die Ausführungen unter Buchst. a verwiesen. Im Übrigen rügt der Kläger die Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht. Angebliche Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind jedoch nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen und rechtfertigen nicht die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG (vgl. BayVGH, B.v. 17.5.2018 – 14 ZB 17.30263 – juris Rn. 7).
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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3. Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).