Titel:
Erfolglose Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung für den Umbau eines Wohngebäudes unter Gewährung einer Abweichung von den Abstandsflächen zum Nachbarn
Normenkette:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, § 124a Abs. 4 S. 4, Abs. 5 S. 2
Leitsätze:
1. Voraussetzung dafür, dass ein Nachbar sich nach Treu und Glauben gegenüber einer Baugenehmigung nicht auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen kann, ist, dass die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Frage, ob die wechselseitigen Unterschreitungen der Abstandsflächen annähernd vergleichbar sind, ist keine zentimetergenaue quantitative Entsprechung gefordert, sondern es ist eine wertende Betrachtung in Bezug auf die Qualität der mit der Verletzung der Abstandsflächenvorschriften einhergehenden Beeinträchtigungen anzustellen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Dachgeschossausbau auf bestehendem Wohngebäude, Erteilung von Abweichungen von den Abstandsflächen, Unzulässige Rechtsausübung bei beiderseitigem Verstoß gegen Abstandsflächen, Kriterien für gleichwertige Verstöße der Abstandsflächen, Zulassungsantrag, Dachgeschossausbau, ernstliche Zweifel, Abstandsfläche, Abweichung, Treu und Glauben, unzulässige Rechtsausübung, wechselseitige Unterschreitung
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 07.04.2022 – Au 5 K 20.1822
Fundstelle:
BeckRS 2023, 22047
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Kläger wendet sich mit der Klage gegen eine der Beigeladenen von der Beklagten erteilte Baugenehmigung sowie eine zu der Baugenehmigung erteilte Tekturgenehmigung.
2
Der Kläger ist Eigentümer des Grundstückes FlNr. … der Gemarkung A. Das Grundstück ist mit einem dreigeschossigen Mehrfamilienwohnhaus bebaut.
3
Die Beigeladene ist Eigentümerin des westlich an das Grundstück des Klägers an-grenzenden Grundstückes FlNr. … Auf dem Grundstück befindet sich eine sechs-geschossige Wohnanlage.
4
Mit Bescheid vom 31. August 2020 und der Tekturgenehmigung vom 30. April 2021 wurde der Beigeladenen der Abbruch des bestehenden Dachstuhls und der Neubau eines Dachgeschosses auf das bestehende Wohngebäude zur Schaffung von drei neuen Wohnungen erteilt. Dabei wurden Abweichungen von den Abstandsflächen auch im Hinblick auf das Grundstück des Klägers erteilt.
5
Das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg hat mit Urteil vom 7. April 2022 die Klage gegen die Bescheide vom 31. August 2020 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 30. April 2021 abgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, es könne dahinstehen, ob die Abweichung von der Einhaltung der Abstandsflächen rechtmäßig erteilt worden sei, da sich der Kläger jedenfalls nach Treu und Glauben nicht auf die Verletzung der Nichteinhaltung der Abstandsflächen berufen könne, da er selbst die Abstandsflächen nicht einhalte und in Bezug auf die beiden Gebäude eine etwa gleichwertige beidseitige Abweichung von den Abstandsflächen vorliege.
6
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung, dem die Beklagte entgegentritt, verfolgt der Kläger sein Rechtsschutzbegehren weiter.
7
Die Beigeladene äußerte sich nicht.
8
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
9
Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg. Die vom Kläger geltend gemachten Zulassungsgründe, auf die sich die Prüfung des Senats beschränkt, liegen nicht vor bzw. sind nicht in einer Weise dargelegt worden, die den gesetzlichen Anforderungen gem. § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO genügt.
10
1. Die Berufung ist nicht gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen ernstlicher Zweifel zuzulassen.
11
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung i.S. von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen nur dann, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der erstinstanzlichen Entscheidung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird. Diese Voraussetzungen erfüllt die Zulassungsbegründung nicht.
12
Anders als der Kläger meint, konnte das Verwaltungsgericht unberücksichtigt lassen, dass der Kläger Bestandschutz genießt, denn maßgeblich ist allein, dass der klagende Nachbar den jetzt erforderlichen Grenzabstand nicht einhält und nicht, ob sich der Kläger rechtmäßig verhält (vgl. VGH BW, B.v. 29.9.2010 – 3 S 1752/10 – juris Rn. 5; VGH BW, U.v. 18.11.2002 – 3 S 882/02 – juris Rn. 25; BayVGH, B.v. 2.5.2023, 2 ZB 22.2484 – juris Rn. 7).
13
Die Vorsprünge der Treppenhäuser ändern – anders als vom Kläger vorgetragen – an der Abstandsflächenberechnung nichts. Nach dem genehmigten Plan (Grundriss DG-Neubau, Ansichten und Schnitt) wurde die Dachfläche zu 1/3 zur Abstandsfläche der Wand dazugerechnet, weshalb sich eine Abstandsfläche von 19,83 m ergibt. Die Abstandsfläche der Vorsprünge liegt innerhalb dieser Fläche.
14
Es kann offen bleiben, ob die Argumentation des Verwaltungsgerichts Augsburg zutreffend ist, dass eine gleichwertige Überschreitung der Abstandsflächen vorliegt, da auf den prozentualen Anteil der Gesamtabstandsfläche auf dem eigenen Grundstück bzw. dem Nachbargrundstück abzustellen sei. Denn auch ohne Berücksichtigung dieser Argumentation liegt eine gleichwertige Überschreitung der Abstandsflächen vor.
15
Wie vom Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, ist nach der obergerichtlichen Rechtsprechung, der der Senat folgt, Voraussetzung dafür, dass ein Nachbar sich nach Treu und Glauben gegenüber einer Baugenehmigung nicht auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen kann, dass die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu schlechthin, untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen (BayVGH, B.v. 2.5.2023, 2 ZB 22.2484 – juris Rn. 8). Bei der Frage, ob die wechselseitigen Unterschreitungen der Abstandsflächen annähernd vergleichbar sind, ist dabei keine zentimetergenaue quantitative Entsprechung gefordert, sondern es ist eine wertende Betrachtung in Bezug auf die Qualität der mit der Verletzung der Abstandsflächenvorschriften einhergehenden Beeinträchtigungen anzustellen. Danach ist bei der Bewertung der von einem Baukörper für das Nachbargrundstück ausgehenden Beeinträchtigung neben dem konkreten Grenzabstand auch die Qualität der mit der Verletzung der Abstandflächenvorschriften einhergehenden Beeinträchtigung von wesentlicher Bedeutung. Zu berücksichtigen ist, auf welcher Länge und mit welcher Tiefe das fragliche Gebäude die Abstandflächenvorschriften missachtet, welche Höhe es aufweist, welche Emissionen (Lärm, Gerüche) mit seiner Nutzung verbunden sind, welche Brandgefahren von ihm ausgehen und in welcher Himmelsrichtung es vom Nachbargrundstück aus gesehen steht (Schönfeld in Spannowsky/Manssen, BeckOK, Bauordnungsrecht Bayern, Stand: 01.12.2022, Art. 6 Rn. 281 ff.).
16
Folgt man der Argumentation des Klägers würde nach der Aufstockung ca. eine Abstandsfläche des Beigeladenen von 132,45 qm (120,75 qm Bestand zuzüglich 11,7 qm) auf dem Grundstück des Klägers liegen. Nach den Berechnungen des Verwaltungsgerichts, die der Kläger nicht in Zweifel gezogen hat, ergibt sich, dass 72 qm der Abstandsfläche des Klägers auf dem Grundstück des Beigeladenen liegen. Demnach ergibt sich zwar, dass eine größere Abstandsfläche des Beigeladenen auf dem Grundstück des Klägers liegt als umgekehrt, jedoch steht das Gebäude des Klägers lediglich maximal 4 m von der Grundstücksgrenze entfernt, während das Gebäude des Beigeladenen einen Abstand von 5 m gegenüber der Grundstücksgrenze des Klägers im Norden und 9,5 m im Süden und damit insgesamt einen größeren Abstand zur Grundstücksgrenze einhält. Im Hinblick darauf, dass lediglich zwei Fenster an der Westseite des Gebäudes des Klägers in Richtung des Gebäudes des Beigeladenen ausgerichtet sind und in den östlichen Räumen der direkt gegenüber dem Kläger gelegenen neuen Wohnung im Dachgeschoss lediglich ein Abstellraum ohne Fenster, ein Bad mit Gaube und ein Schlafzimmer mit Dachflächenfenster liegen, werden die Einblicksmöglichkeiten – unabhängig davon, ob diese überhaupt eine wehrfähige Position für den Kläger vermitteln (vgl. BayVGH, B.v. 14.6.2023 – 15 CS 23.369 – juris Rn. 23), – nur unwesentlich erhöht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass schon von der nordöstlichen Ecke (Abstellraum) ein Abstand von mindestens 9 m zwischen den beiden Gebäuden besteht, der Abstand von den Fenstern aus dem Bad und dem Schlafzimmer also noch größer ist. Demnach ist auch nicht ersichtlich, dass sich Belichtung, Belüftung und Besonnung mehr als unerheblich verschlechtern. Probleme im Hinblick auf den Brandschutz wurden im Zulassungsverfahren nicht vorgetragen.
17
Der Kläger trägt vor, dass das Verwaltungsgericht die Tiefgaragenzufahrt der Beigeladenen nicht berücksichtigt habe, er stellt aber nicht substantiiert dar, welche rechtlichen Konsequenzen sich daraus ergeben sollen und kommt somit insoweit seiner Darlegungslast nicht nach.
18
Nachdem das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen ist, dass sich der Kläger nach Treu und Glauben nicht auf eine Verletzung der Abstandsflächen berufen kann, kommt es auch nicht darauf an, ob die Voraussetzungen für eine Abweichung von den Abstandsflächen nach Art. 63 BayBO vorliegen.
19
2. Weshalb die Rechtssache besondere rechtliche Schwierigkeiten aufweisen und von grundsätzlicher Bedeutung sein soll (vgl. S. 1 des Schriftsatzes vom 11. August 2022), wurde nicht substantiiert dargelegt.
20
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Beigeladene trägt billigerweise ihre außergerichtlichen Kosten selbst, weil sie sich im Zulassungsverfahren nicht beteiligt hat (§ 162 Abs. 3 VwGO). Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der 2013 aktualisierten Fassung (abgedruckt in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, Anhang) und folgt in der Höhe der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwände erhoben worden sind.
21
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).