Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 10.01.2023 – 207 StRR 378/22
Titel:

Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes bei Verlegung einer Hauptverhandlung; notwendige Feststellungen zum Schuldumfang bei Rechtsmittelbeschränkung

Normenketten:
GVG § 169 Abs. 1 S. 1
StPO § 338 Nr. 6
StPO § 261, § 318
Leitsätze:
1. Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung gebietet es nicht, dass jedermann weiß, wann und wo ein erkennendes Gericht eine Hauptverhandlung abhält. Es genügt vielmehr, dass jedermann die Möglichkeit hat, sich ohne besondere Schwierigkeiten davon Kenntnis zu verschaffen, und dass der Zutritt im Rahmen der tatsächlichen Gegebenheiten eröffnet ist. Auch in einem größeren, mehrstöckigen Gerichtsgebäude reicht es daher aus, wenn bei einer Verlegung der Verhandlung am ursprünglichen Sitzungssaal ein (allgemeiner) Aushang angebracht ist, anhand dessen sich potentielle Zuschauer orientieren können. (Rn. 19 – 22) (red. LS Alexander Kalomiris)
2. Die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch hat zwar die Rechtskraft des Schuldspruches zur Folge, entbindet das Berufungsgericht aber nicht von weiteren notwendigen Feststellungen zum Schuldumfang, beim Betrug etwa zur Art und Weise, wie die Geschädigte vom Angeklagten getäuscht wurde, sofern diese nicht im Widerspruch zu den rechtskräftigen Feststellungen zum Schuldspruch stehen. (Rn. 25) (red. LS Alexander Kalomiris)
Schlagworte:
Grundsatz der Öffentlichkeit, Verlegung der Hauptverhandlung, Aushang, Rechtsmittelbeschränkung, notwendige Feststellungen, Schuldumfang
Vorinstanzen:
LG Augsburg, Urteil vom 04.08.2022 – 2 Ns 210 Js 105066/21
AG Nördlingen, Urteil vom 03.03.2022 – 2 Ds 210 Js 105066/21
Fundstelle:
BeckRS 2023, 219

Tenor

I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 4. August 2022 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Augsburg zurückverwiesen.

Gründe

I.
1
1. Das Amtsgericht Nördlingen hat den Angeklagten mit Urteil vom 3. März 2022 wegen Betruges in zwei tatmehrheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt.
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Folgenden Sachverhalt hat das Amtsgericht festgestellt:
„1. Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im Oktober 2019 bestellte der Angeklagte bei der Firma H. GmbH & Co. KG für den Bau seiner privaten Garage unter Vortäuschung seiner Zahlungsfähigkeit und Zahlungswilligkeit Beton zum Preis von 1.324,47 € und mietete zusätzlich Baugeräte zum Preis von 111,27 €.
Entsprechend seiner vorgefassten Absicht bezahlte der Angeklagte den ihm im Vertrauen auf seine Zahlungsfähigkeit und Zahlungswilligkeit am 15.10.2019 überlassenen Beton sowie die am 17.10.2019 zur Miete überlassenen Gerätschaften nicht.
Hierdurch ersparte der Angeklagte Aufwendungen in Höhe von 1.435,74 € und es entstand ein entsprechender Schaden.
2. Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt zwischen dem 03.12. und 09.12.2020 bestellte der Angeklagte wiederum bei der Firma H. GmbH & Co. KG unter Vortäuschung seiner Zahlungswilligkeit und Zahlungsfähigkeit für einen Kundenauftrag Bau-Materialien zum Preis von 1.873,72 €.
Entsprechend seiner vorgefassten Absicht bezahlte der Angeklagte die ihm im Vertrauen auf seine Zahlungsfähigkeit und Zahlungswilligkeit am 09.12.2020 überlassene Ware nicht. Hierdurch ersparte der Angeklagte Aufwendungen in Höhe des Kaufpreises und es entstand ein entsprechender Schaden.
Die Baumaterialien stellte der Angeklagte anschließend seinem Kunden in Rechnung, der diese auch mitbezahlte.“
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2. Auf die Berufung des Angeklagten wurde von der Vorsitzenden der Strafkammer des Landgerichts Augsburg Termin zur Berufungshauptverhandlung auf den 4. August 2022, 9:00 Uhr, Sitzungssaal 107, EG, Gögginger Str. 101 bestimmt und die Prozessbeteiligten entsprechend geladen.
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Am Morgen des 4. August 2022 wurde am Sitzungssaal 107 ein DIN-A4 großer Aushang angebracht, der wie folgt lautete:
„HINWEIS
Die Verhandlungen der 2. Strafkammer des Landgerichts Augsburg finden heute,
Donnerstag, 04.08.2022
auf Sitzungssaal 130 … 1. OG
statt“
(Hervorhebungen und Umbrüche im Original, welches weitere Hervorhebungen durch Schriftgrößenwechsel bzgl. „Hinweis“ und Umrahmung des neuen Sitzungssaals enthält)
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Die Hauptverhandlung hat ausweislich der Sitzungsniederschrift am 4. August 2022 um 9:05 Uhr begonnen.
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Die Revision behauptet, außer den Prozessbeteiligten hätten keine Zuschauer an der Sitzung teilgenommen.
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Die Strafkammervorsitzende hat in ihrer dienstlichen Stellungnahme vom 11. Oktober 2022 angegeben, es seien mindestens drei Zuschauer im Sitzungssaal anwesend gewesen.
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3. In der Berufungshauptverhandlung hat der Angeklagte ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 4. August 2022 nach Rücksprache mit seinem Verteidiger erklärt:
„Ich beschränke meine Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch.“
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Den Vermerk „v.u.g.“ enthält das Protokoll erst nach der Zustimmungserklärung der Staatsanwaltschaft.
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Die Einvernahme der erschienenen Zeugen wurde anschließend auf Anregung der Vorsitzenden „angesichts der Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch“ allseits für nicht erforderlich erachtet und ist dann nicht erfolgt.
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Mit Urteil vom selben Tage hat das Landgericht die Berufung des Angeklagten als unbegründet verworfen.
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4. Mit seiner auf die Verfahrensrüge der Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes und die Verletzung materiellen Rechts - insbesondere betreffend die Strafzumessung und die Bewährungsentscheidung - gestützten Revision beantragt der Angeklagte die Aufhebung des Urteils des Landgerichts Augsburg vom 4. August 2022 im Rechtsfolgenausspruch mit den dazugehörigen Feststellungen und die Zurückverweisung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Augsburg.
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5. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Revision des Angeklagten durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet kostenpflichtig zu verwerfen.
II.
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Die zulässige Revision führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts Augsburg (§ 354 Abs. 2 S. 1 StPO).
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1. Die in der Berufungshauptverhandlung vom 4. August 2022 erklärte Berufungsbeschränkung war wirksam. Damit ist der Schuldspruch zweier tatmehrheitlicher Vergehen des Betruges samt den ihn tragenden Feststellungen rechtskräftig und vom Senat nicht mehr zu überprüfen, § 327 StPO.
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a) Die Wirksamkeit einer Rechtsmittelbeschränkung prüft das Revisionsgericht von Amts wegen unabhängig von den Rügen des Revisionsführers und ohne Bindung an die rechtliche Beurteilung der Berufungsbeschränkung durch die Strafkammer (vgl. BGH, Beschluss vom 30. November 1976, 1 StR 319/76, NJW 1977, 442 - juris; Meyer-Goßner/Schmitt, Komm. z. StPO, 65. Auflage 2022; § 318 Rn. 33 und § 327 Rn. 9, jeweils m. w. N., Paul in Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl., 2023, Rn. 11 zu § 318). Dabei wird innerhalb der Überprüfung der Wirksamkeit einer Rechtsmittelbeschränkung nicht (weiter) danach differenziert, ob es sich um die Prüfung von Verfahrenshindernissen handelt (die auf jeden Fall von Amts wegen geprüft werden), um die Prüfung der Trennbarkeit von Schuld- und Rechtsfolgenausspruch oder um die Prüfung von formalen Voraussetzungen, wie z.B. der gemäß § 302 Abs. 2 StPO erforderlichen Ermächtigung des Verteidigers zu einer Berufungsbeschränkung, wenn diese - wie hier - nach unbeschränkter Einlegung (erst) in der Berufungshauptverhandlung erfolgt und somit als Teilrücknahme anzusehen ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 19. Februar 2019, III-5 RVs 23/19 - juris). Auch hinsichtlich des letztgenannten Umstandes, von dem das Revisionsgericht erst durch Nachschau in den Akten und/oder im Hauptverhandlungsprotokoll Kenntnis erlangen kann, wird eine Prüfung von Amts wegen, ohne das Erfordernis der Erhebung einer Verfahrensrüge, bejaht (vgl. OLG Hamm, a.a.O.; m. w. N.).
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b) Dass die Erklärung des Angeklagten nicht vorgelesen und genehmigt wurde, ist für ihre Wirksamkeit ohne Belang; dieser Umstand betrifft lediglich die Frage des Nachweises (BGH, Beschluss vom 25. Februar 2014 - 1 StR 40/14 -, juris). Vorliegend wird die Richtigkeit des Protokolls, welche von der Revision nicht bezweifelt wird, durch den vorbezeichneten weiteren Gang der Berufungshauptverhandlung unzweideutig bestätigt.
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c) Die vorzitierten Feststellungen des Amtsgerichts tragen den Schuldspruch zweier tatmehrheitlicher Vergehen des Betruges. Die Beschränkung der Berufung auf die Rechtsfolgen war daher zulässig (BGH NJW 2017, 2482, 2483 Rn. 19 m.w.N.; Paul in Karlsruher Kommentar zur StPO aaO § 318 Rn. 7a).
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2. Die zulässig erhobene Verfahrensrüge einer Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes (§§ 169 Abs. 1 S. 1 GVG, 338 Nr. 6 StPO) greift nicht durch.
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Der Revision ist zwar zuzugeben, dass ein Hinweis auf eine bestimmte Verhandlung grundsätzlich in Form eines Aushangs zu erfolgen hat, damit jeder interessierte Zuschauer die Möglichkeit erhält, die gewünschte Verhandlung zu verfolgen (OLG Koblenz, Beschluss vom 7. Februar 2011 - 2 SsBs 144/10 -, juris). Daraus folgt, dass wenn - wie hier - der Sitzungssaal kurzfristig gewechselt wird, am ursprünglichen Sitzungssaal grundsätzlich auf den neuen Sitzungssaal verwiesen werden muss (OLG Koblenz a.a.O.). Allerdings war vorliegend, anders als im vom OLG Koblenz entschiedenen Fall, am ursprünglichen Sitzungssaal durchaus der vorbeschriebene Aushang vorhanden. Ein an der Berufungshauptverhandlung des Angeklagten interessierter Zuschauer konnte den neuen, eindeutig bezeichneten Sitzungssaal daher unschwer finden.
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Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung gebietet es nicht, dass jedermann weiß, wann und wo ein erkennendes Gericht eine Hauptverhandlung abhält. Es genügt vielmehr, dass jedermann die Möglichkeit hat, sich ohne besondere Schwierigkeiten davon Kenntnis zu verschaffen, und dass der Zutritt im Rahmen der tatsächlichen Gegebenheiten eröffnet ist (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 10. Oktober 2001 - 2 BvR 1620/01 -, juris; Gericke in Karlsruher Kommentar zur StPO aaO Rn. 85 zu § 338). Hierbei kann auch in einem größeren, mehrstöckigen Gerichtsgebäude wie im Landgericht Augsburg, entgegen der Auffassung der Revision Zuschauern durchaus zugemutet werden, sich anhand des vorhandenen Aushangs selbst zu orientieren.
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Der Senat hat im Übrigen keinen Zweifel daran, dass, wie in der vorzitierten dienstlichen Äußerung der Kammervorsitzenden dargelegt, durchaus interessierte Zuschauer den Weg zur gegenständlichen Berufungshauptverhandlung gefunden haben.
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3. Das angegriffene Urteil leidet jedoch an durchgreifenden Mängeln bei den Erwägungen zur Strafzumessung.
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a) Die Rechtsfolgenbemessung ist zwar ureigene Aufgabe des Tatrichters und unterliegt einer nur eingeschränkten Nachprüfung durch das Revisionsgericht. Die tatrichterlichen Erwägungen hat das Revisionsgericht bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen, solange und soweit der Rechtsfolgenausspruch einen angemessenen Schuldausgleich darstellt. Indessen prüft das Revisionsgericht nach, ob die tatrichterliche Rechtsfolgenentscheidung auf tragfähige Grundlagen gestützt ist und sich von rechtlich anerkannten Strafzumessungserwägungen hat leiten lassen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO § 337 Rdn. 34f.).
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b) Das Landgericht hat vorliegend zum einen übersehen, dass die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch zwar die Rechtskraft des Schuldspruches zur Folge hat, das Berufungsgericht aber nicht von weiteren notwendigen Feststellungen zum Schuldumfang entbindet, soweit diese nicht im Widerspruch zu den rechtskräftigen Feststellungen zum Schuldspruch stehen. Bei Straftaten nach § 263 StGB spielt insbesondere die Art und Weise, wie die Geschädigte vom Angeklagten getäuscht wurde, worauf der Irrtum der Geschädigten - vorliegend über die Zahlungsfähigkeit und Zahlungswilligkeit des Angeklagten - beruhte, welche kriminelle Energie der Angeklagte also hierfür aufwendete, gem. § 46 StGB eine erhebliche strafzumessungsrelevante Rolle (BGH, Urteil vom 7. November 2007 - 1 StR 164/07 -, juris). Feststellungen hierzu hätten sich aufgedrängt, da die zweite Lieferung vom 9. Dezember 2020 durch die Geschädigte erfolgte, nachdem ihre erste Lieferung vom 15./17. Oktober 2019 über ein Jahr lang durch den Angeklagten nicht bezahlt worden war.
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c) Geht das Rechtsmittelgericht zum anderen von einem Sachverhalt aus, welcher die Tat in einem wesentlich milderen Licht erscheinen lässt, bedarf es einer besonders eingehenden Begründung, wenn dennoch eine gleich hohe (oder höhere) Gesamtstrafe oder gleich hohe (oder höhere) Einzelstrafen verhängt werden sollen wie diejenigen des Ausgangsgerichtes (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., § 46 Rdn. 16a und 149; OLG München, Beschluss vom 05.08.2008, 5 StRR 149/08, zitiert nach juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 02.11.2011, 3 Ss 104/11, zitiert nach juris.; ständige Rechtsprechung des Senates, vgl. z. B. Beschluss vom 21.04.2021, 207 StRR 170/21).
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Um eine solche Sachverhaltskonstellation handelt es sich auch hier, da der Angeklagte vor dem Landgericht - anders als noch vor dem Amtsgericht - geständig war und seine Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hatte. Die Strafkammer hätte daher mitteilen müssen, worin die schulderhöhenden Merkmale liegen, die eine gleich hohe Strafe trotz der nunmehr vorliegenden Milderungsgründe rechtfertigen. Dazu verhält das Berufungsurteil sich jedoch nicht in ausreichender Weise. Das Urteil legt nicht offen, wo das erstinstanzliche Gericht schulderhöhende Gesichtspunkte übersehen haben könnte, die nunmehr im zweiten Rechtszug zum Tragen kommen und eine gleich hohe Strafe rechtfertigen. Anders als die Generalstaatsanwaltschaft meint, genügt die Ausführung im angegriffenen Urteil, das Gericht sei „durch das Verschlechterungsverbot gem. § 331 Abs. 1 StPO gehindert“, höhere Einzelstrafen zu verhängen (UA S. 10/11), hierfür nicht.
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d) In den aufgezeigten Erörterungsmängeln liegt ein sachlich-rechtlicher Fehler des angegriffenen Urteils, auf dem dieses auch beruht, da der Senat nicht ausschließen kann, dass das Landgericht bei Berücksichtigung der vorgenannten Umstände eine niedrigere Strafe verhängt hätte.
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4. Das Urteil war daher gemäß § 349 Abs. 4 StPO samt den zugrunde liegenden Feststellungen (§ 353 StPO) aufzuheben und gemäß § 354 Abs. 2 StPO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens an eine andere Strafkammer des Landgerichts Augsburg zurückzuverweisen.