Titel:
Strafbarkeit wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelt
Normenketten:
StPO § 358 Abs. 2 S. 1
StGB § 266a Abs. 1
Leitsätze:
Das Verbot der Schlechterstellung aus § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO gilt auch, wenn eine zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft nur zu dessen Gunsten erfolgreich ist (Anschluss an BGHSt 13, 41 (42); BGHSt 38, 66 (67)). (Rn. 14)
1. Eine Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch ist unwirksam, wenn die Feststellungen nicht widerspruchsfrei, klar und so vollständig sind, dass sie den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat hinreichend erkennen lassen. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Straftatbestand des § 266a Abs. 1 StGB ist nur dann gegeben, wenn der verpflichtete Arbeitgeber auch die tatsächliche Möglichkeit zur Erfüllung der sich ergebenden sozialversicherungsrechtlichen Verbindlichkeiten hat. Dabei kann die Unmöglichkeit zur Leistung auf tatsächlichen oder rechtlichen Gründen beruhen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ist der Handlungspflichtige im Zeitpunkt der Fälligkeit zahlungsunfähig, kann der Tatbestand des § 266a Abs. 1 StGB gleichwohl verwirklicht werden, wenn von einer Vorverlagerung des pflichtwidrigen Verhaltens auszugehen ist. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Revision, Beschränkung, Vorenthalten von Arbeitsentgelt, Unmöglichkeit, Zahlungsunfähigkeit, Vorverlagung, Pflichtwidrigkeit
Vorinstanz:
LG München I, Urteil vom 16.05.2023 – 15 NBs 565 Js 203428/20
Fundstellen:
LSK 2023, 21991
NJW 2023, 3178
BeckRS 2023, 21991
Tenor
I. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts München I vom 16. Mai 2023
1. im Schuldspruch hinsichtlich Tatkomplex 3 (Beitragsvorenthaltung) und
2. im Rechtsfolgenausspruch im Hinblick auf die verhängte Gesamtstrafe mit den dazugehörigen Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft, an eine andere Strafkammer des Landgerichts München I zurückverwiesen.
Entscheidungsgründe
1
Gegen den Angeklagten wurde am 1. Juli 2022 ein Strafbefehl wegen des Vorwurfs der vorsätzlichen Insolvenzverschleppung in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Bankrott in Tatmehrheit mit Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt in 41 Fällen in Tatmehrheit mit Betrug erlassen. Der Angeklagte hat gegen diesen Strafbefehl Einspruch eingelegt, den er in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht München – nach Einstellung des Betrugsvorwurfs gemäß § 154 Abs. 2 StPO – auf die Rechtsfolgen beschränkt hat. Das Amtsgericht München hat den Angeklagten am 17. Januar 2023 wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Bankrott in Tatmehrheit mit Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt in 41 Fällen verurteilt und die Verurteilung zu einer Gesamtgeldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 45,00 Euro vorbehalten. Das Landgericht München I hat mit Urteil vom 16. Mai 2023 die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amtsgerichts als unbegründet verworfen.
2
Hiergegen hat die Staatsanwaltschaft München I Revision eingelegt. Mit ihrer zuungunsten des Angeklagten eingelegten und ausschließlich mit der Sachrüge begründeten Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft, dass die Verurteilung zu der ausgesprochenen Gesamtgeldstrafe nach § 59 Abs. 1 StGB lediglich vorbehalten wurde.
3
Mit der von der Generalstaatsanwaltschaft München vertretenen Revision wird ebenfalls die Verletzung materiellen Rechts gerügt. Das Urteil des Landgerichts München I unterliege schon deshalb der Aufhebung, weil es, wie zuvor auch das Amtsgericht, hinsichtlich der Verurteilung nach § 266a StGB zu Unrecht von einer wirksamen Beschränkung des Einspruchs auf die Rechtsfolgen ausgegangen sei. Aufgrund der dadurch entfallenden Gesamtstrafe fehle es an einer Grundlage für die Entscheidung nach § 59 Abs. 1 StGB. Darüberhinaus wäre die Entscheidung nach § 59 Abs. 1 StGB auch deshalb aufzuheben, da die Urteilsausführungen befürchten lassen, dass die Strafkammer bei Ausübung ihres tatrichterlichen Ermessens die Voraussetzungen für die Anwendung des § 59 Abs. 1 StGB verkannt habe.
4
Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt,
auf die Revision der Staatsanwaltschaft München I das Urteil des Landgerichts München I vom 16. Mai 2023 hinsichtlich des Tatkomplexes wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt im Schuldspruch aufzuheben, wobei die diesbezüglichen, bereits getroffenen Feststellungen bestehen bleiben,
das Urteil des Landgerichts München I vom 16. Mai 2023 im Hinblick auf die verhängte Gesamtstrafe und den Ausspruch einer Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 Abs. 1 StGB mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben
die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts München I zurückzuverweisen.
5
Der Angeklagte stellt die Entscheidung in das Ermessen des Gerichts.
6
Die Revision ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie hat in der Sache auf die Sachrüge hin im tenorierten Umfang – vorläufig – Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
7
1) Das Landgericht ist hinsichtlich des Vorwurfs des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (Tatkomplex 3) zu Unrecht von der Wirksamkeit der Beschränkung des Einspruchs sowie der Berufung auf die Rechtsfolgen, die von Amts wegen zu überprüfen ist, ausgegangen, da die Feststellungen weder des Strafbefehls noch die des Amtsgerichts die Verurteilung wegen 41 Fällen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt gemäß § 266a Abs. 1 StGB (Tatkomplex 3) tragen.
8
a) Eine auf die unangegriffenen Feststellungen zur Schuldfrage aufsetzende eigenständige Beurteilung der Rechtsfolgen ist dem Berufungsgericht nur dann möglich, wenn diese Feststellungen widerspruchsfrei, klar und so vollständig sind, dass sie den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat hinreichend erkennen lassen. Fehlt es hieran, ist eine Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch unwirksam (MüKoStPO/Quentin StPO § 318 Rn. 35). Dies gilt auch für die Beschränkung des Einspruchs (MüKoStPO/Eckstein StPO § 410 Rn. 23).
9
b) Das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt gemäß § 266a Abs. 1 StGB ist ein echtes Unterlassungsdelikt. Der Tatbestand setzt daher voraus, dass die Erfüllung der Handlungspflicht dem Täter möglich und zumutbar ist (Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, § 266a Rn. 14; MüKoStGB/Radtke, 4. Aufl. 2022, StGB § 266a Rn. 65; KG Berlin, Beschluss vom 4. Dezember 2009 – (1) 1 Ss 427/09 (22/09) –, juris Rn. 6; OLG Dresden, Urteil vom 18. Januar 2010 – 3 Ss 603/09 –, juris Rn. 10). Eine unmögliche oder unzumutbare Leistung darf dem Verpflichteten nicht abverlangt werden. Daher ist der Straftatbestand des § 266a Abs. 1 StGB nur dann gegeben, wenn der verpflichtete Arbeitgeber auch die tatsächliche Möglichkeit zur Erfüllung der sich ergebenden sozialversicherungsrechtlichen Verbindlichkeiten hatte. Dabei kann die Unmöglichkeit zur Leistung auf tatsächlichen oder rechtlichen Gründen beruhen; auch die Zahlungsunfähigkeit des Verpflichteten zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Verbindlichkeiten macht die pflichtgemäße Handlung grundsätzlich unmöglich (vgl. KG Berlin a.a.O.). Ist der Handlungspflichtige im Zeitpunkt der Fälligkeit zahlungsunfähig, kann der Tatbestand des § 266a Abs. 1 StGB gleichwohl verwirklicht werden, wenn von einer Vorverlagerung des pflichtwidrigen Verhaltens auszugehen ist; dies kann unter anderem dann der Fall sein, wenn sich ein Zahlungspflichtiger seiner Zahlungsfähigkeit durch die Begleichung anderer – nachrangiger – Verbindlichkeiten begeben hat oder wenn er trotz des Erkennens eines sich abzeichnenden Liquiditätsengpasses mögliche und rechtlich zulässige Maßnahmen zur Sicherstellung der Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge unterlässt (KG Berlin a.a.O. m.w.N.).
10
c) Feststellungen zur Leistungsfähigkeit des Angeklagten bzw. Ausführungen zu ei-ner Vorverlagerung seines pflichtwidrigen Verhaltens bei Zahlungsunfähigkeit zum Fälligkeitszeitpunkt der Verbindlichkeiten enthalten weder der Strafbefehl noch das Urteil des Amtsgerichts. Dies ist aber Voraussetzung für eine Verwirklichung des Tatbestandes des § 266a StGB. Das Urteil kann daher auch nicht deshalb Bestand haben, weil sich der Angeklagte insoweit geständig eingelassen hat (vgl. UA S. 10, UA AG S. 7), da die rechtlich relevanten Tatsachen unabhängig vom Vorliegen eines Geständnisses darzustellen sind (OLG Braunschweig, Beschluss vom 8. April 2019 – 1 Ss 5/19 –, juris Rn. 10).
11
d) Hinsichtlich des Vorwurfs des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt sind die Feststellungen daher lückenhaft mit der Folge, dass die Beschränkung sowohl des Einspruchs als auch der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch unwirksam ist. Mangels wirksamer Beschränkung hätte die Berufungskammer über den Verfahrensgegenstand betreffend den Vorwurf des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in vollem Umfang entscheiden müssen.
12
Dies ist nicht erfolgt.
13
e) Dies wiederum führt auch zu einer Aufhebung des Strafausspruchs insgesamt – der Gesamtgeldstrafe sowie der Entscheidung, dass die Verurteilung gemäß § 59 StGB vorbehalten bleibt –, da mit dem – vorläufigen – Entfallen des Vorwurfs des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 41 Fällen ein wesentlicher Teil der Verurteilung entfallen ist.
14
2) Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin: Bei der neu festzusetzenden Gesamtstrafe wird das neue Tatgericht das Verschlechterungsverbot des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO zu beachten haben. § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO gilt nämlich auch, wenn eine zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft nach § 301 StPO nur zu dessen Gunsten erfolgreich war (BGH, Urteil vom 18. September 1991, 2 StR 288,91, NJW 1992, 516, 517; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. § 358 Rn. 11). So liegt der Fall hier: Die Gesamtgeldstrafe sowie die Entscheidung, dass die Verurteilung gemäß § 59 StGB vorbehalten bleibt, mussten nur deshalb aufgehoben werden, weil mit dem Entfallen des Schuldspruchs hinsichtlich des Tatkomplexes 3 (was zugunsten des Angeklagten wirkt) auch die Grundlage für den Rechtsfolgenausspruch entfallen ist. Dieser, insbesondere die Entscheidung, dass die Verurteilung gemäß § 59 StGB vorbehalten bleibt, begegnet aufgrund des sorgfältig und ausführlich begründeten Urteils, das gerade auch die Besonderheit und den Ausnahmecharakter einer Entscheidung nach § 59 StGB herausstellt, keinen rechtlichen Bedenken.
15
3) Auf die Revision der Staatsanwaltschaft war das Urteil daher im Schuldspruch zum Tatkomplex 3 sowie im Rechtsfolgenausspruch im Hinblick auf die verhängte Gesamtstrafe mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben, § 353 Abs. 2 StPO. Die Sache ist gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an eine andere Kammer des Landgerichts München I zurückzuverweisen.