Titel:
Dublin-Verfahren (Kroatien)
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 17 Abs. 1 S. 1
Aufnahme-RL Art. 23 Abs. 2 lit. b
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Leitsätze:
1. Das kroatische Asylsystem und die Aufnahmebedingungen in Kroatien für Familien und selbst für Kinder mit Erkrankungen weisen keine systemischen Mängel auf. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine mit der Folge der Selbsteintrittsverpflichtung unangemessene Verzögerung des Verfahrens liegt auch dann vor, wenn die überlange Verfahrensdauer auf der Dauer des gerichtlichen Verfahrens beruht. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Berücksichtigung des Kindeswohls beschränkt sich nicht nur auf den Grundsatz der Familieneinheit, sondern umfasst explizit auch die Faktoren Wohlergehen und soziale Entwicklung des Minderjährigen unter besonderer Berücksichtigung seines Hintergrunds. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Abschiebung nach Kroatien, Keine systemischen Mängel, Lange Verfahrensdauer, Kindeswohl, systemische Mängel, humanitärer Selbsteintritt, Verfahrensdauer
Fundstelle:
BeckRS 2023, 21892
Tenor
I. Der Bescheid der Beklagten vom 27. November 2017 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand
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Der Kläger zu 1), seine Ehefrau, die Klägerin zu 2), sowie die gemeinsamen Kinder (die Kläger zu 3) bis 6)), sind eigener Angabe zufolge syrische Staatsangehörige. Sie hatten bereits am 1. Juni 2016 in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt; dieses Verfahren ist seit dem 6. Juli 2017 abgeschlossen. Die Kläger waren nach dem erfolglosen Abschluss dieses ersten Asylverfahrens nach Kroatien abgeschoben worden. Am 24. Oktober 2017 reisten die Kläger, zusammen mit der am ... 2017 in Ch./Schweiz geborenen Tochter K., aus der Schweiz kommend, erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragten am 24. Oktober 2017 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) erneut Asyl.
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Bei der Eurodac-Recherche wurde ein Treffer der Kategorie 1 für Kroatien festgestellt. Aufgrund des Eurodac-Treffers stellte das Bundesamt am 8. November 2017 ein Übernahmeersuchen an Kroatien. Mit Schreiben vom 21. November 2017 erklärten sich die kroatischen Behörden bereit, die Kläger wiederaufzunehmen; das Schreiben bezieht sich ausdrücklich auch auf sämtliche Kinder der Familie, einschließlich der in der Schweiz geborenen Tochter K.
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Mit Bescheid vom 27. November 2017, zugestellt am 29. November 2017, lehnte das Bundesamt die Anträge der Kläger zu 1) bis 6) als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2 des Bescheids), ordnete die Abschiebung nach Kroatien an (Nr. 3 des Bescheids) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4 des Bescheids). Zur Begründung wurde ausgeführt, auf Grund der dort bereits gestellten Asylanträge sei Kroatien nach Art. 18 Abs. 1 c) Dublin III-VO für die Bearbeitung der Asylanträge zuständig. Die weitere Unzulässigkeit des Asylantrags könne auch auf dem erfolglosen Abschluss des früheren Asylverfahrens beruhen, wenn die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen nicht vorlägen. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Kroatien führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung der Kläger eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorläge. Die hierfür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Im Einklang mit der Rechtsprechung verschiedener deutscher Verwaltungsgerichte gehe das Bundesamt davon aus, dass in Kroatien keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen i.S.d. Rechtsprechung des EuGH vorlägen. Es handele sich bei Kroatien als einem Mitgliedstaat der Europäischen Union um einen sicheren Drittstaat i.S.d. Art. 16a Abs. 2 GG bzw. § 28a AsylG. Auf Grund des diesen Vorschriften zugrunde liegenden normativen Vergewisserungskonzepts sei davon auszugehen, dass Kroatien die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sicherstelle. Zwar werde nach den vorliegenden Erkenntnissen z.T. von widrigen Zuständen in kroatischen Aufnahmelagern berichtet und auf die dort vorkommenden Kapazitätsprobleme verwiesen. Die gerichtlichen Entscheidungen gingen aber davon aus, dass der kroatische Staat die Probleme erkannt habe und diese angehe. Die Kläger hätten nicht substantiiert darlegen können, inwiefern ihnen in Kroatien eine individuelle Gefahr drohe. Es bleibe fraglich, weshalb die Umstände in Kroatien schlimm und die Kinder krank gewesen seien. Es wäre im Interesse der Kläger gewesen, diesen Sachverhalt ausführlich darzulegen. Es sei davon auszugehen, dass Kroatien der auferlegten Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Prüfung des Asylbegehrens und der Versorgung der Kläger nachkomme, wenn Kroatien seine Zuständigkeit bejaht habe. Es drohe den Klägern demnach keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Auf die Begründung des Bescheids im Übrigen wird verwiesen.
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Mit einem Bescheid vom 29. November 2017, zugestellt am 1. Dezember 2017, lehnte das Bundesamt den Asylantrag der am ... 2017 in Ch./Schweiz geborenen Tochter K. des Klägers zu 1) und der Klägerin zu 2) als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2 des Bescheids), ordnete die Abschiebung nach Kroatien an (Nr. 3 des Bescheids) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4 des Bescheids). In der Begründung dieses Bescheids heißt es, am 24. Oktober 2017 sei das Kind dem Bundesamt gemäß § 14a Abs. 2 Satz 1 AsylG durch ihre Vertreter angezeigt worden. Nach § 14a Abs. 2 Satz 3 AsylG gelte ein Asylantrag für ein Kind, das nach der Asylantragstellung der Eltern im Bundesgebiet geboren werde, als gestellt, sobald dem Bundesamt die diesbezügliche Mitteilung vorliege. Die Vertreter hätten nicht auf die Durchführung des Asylverfahrens gemäß § 14a Abs. 3 AsylG verzichtet. Die Erklärung der kroatischen Behörden im Schreiben vom 21. November 2017 zur Zuständigkeit Kroatiens für die Bearbeitung der Asylanträge der Eltern gemäß Art. 18 Abs. 1 c) Dublin III-VO gelte gemäß Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO auch für das Kind K. als nachgeborenes Kind. Die Eltern seien für sie verantwortlich i.S.d. Art. 2 g) Dublin III-VO. Daher sei ihre Situation untrennbar mit der Situation ihrer Eltern verbunden. Zuständig für das nachgeborene Kind sei folglich der Mitgliedstaat, der für die Prüfung der Anträge der Eltern auf internationalen Schutz zuständig sei. Die Überstellungsfrist richte sich ebenfalls nach der für die Eltern feststehenden Frist.
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Gegen diesen Bescheid richtet sich die von den Bevollmächtigten für das Kind K. am 8. Dezember 2017 erhobene Klage M 3 K 17.583562. Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO wurde in diesem Verfahren nicht gestellt.
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Am 6. Dezember 2017 erhoben die Bevollmächtigten der Kläger beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage gegen den Bescheid vom 27. November 2017 und beantragen,
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die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 27. November 2017 aufzuheben und das Asylverfahren in Deutschland durchzuführen, hilfsweise, unter Aufhebung von Ziff. 2 bis 4 des Bescheids vom 27. November 2017 festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG bezüglich Kroatien vorliegt.
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Zur Begründung wurde zunächst zu der in Syrien erlittenen Verfolgung des Klägers zu 1) durch eine der Rebellengruppe „Abu Haider“ angehörende Gruppe vorgetragen, auf deren Mitglieder die Kläger nach ihrer Abschiebung nach Kroatien getroffen wären und von denen sie tätlich angegriffen worden seien; eine Anzeige des Vorfalls bei der Polizei sei ihnen verwehrt worden. Die Abschiebung der Kläger nach Kroatien würde gegen Art. 3 EMRK verstoßen. Zu den Aufnahmekapazitäten in Kroatien wurde vorgetragen, da es sich bei den Klägern wegen der sehr jungen Kinder um besonders vulnerable Flüchtlinge handele, wiege die Gefahr der Obdachlosigkeit sehr schwer, so dass nach den Grundsätzen des EGMR eine individuelle Zusicherung Kroatiens einzuholen sei, dass die Kinder dem Alter entsprechend in Kroatien aufgenommen würden.
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Mit Schreiben vom 2. Februar 2018 legten die Bevollmächtigten im vorliegenden Verfahren zwei ärztlich-psychologische Berichte der Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. med. N. vom 31. Januar 2018 betreffend die Klägerin zu 6), geb. am ... 2015, und die Klägerin zu 4), geboren am ... 2012, vor. Bei dem Mädchen H., der Klägerin zu 4), wird die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung F43.1 gestellt. Sie sei erstmalig am 13. Dezember 2017 in Begleitung ihrer Schwester, ihres Vaters, einer Übersetzerin sowie dem Asylsozialberater vorgestellt worden. Sie habe abends und nachts verschiedenste starke Ängste, habe Angst, im Dunkeln zu schlafen, sie wache jede Nacht auf und schreie. Sie äußere häufig Angst, dass „die Wilden kommen“. Auch vor der Polizei und dem Martinshorn habe sie große Angst. Es würden multiple Belastungsfaktoren geschildert (beengte Wohnsituation in Gemeinschaftsunterkunft, emotional belastete Eltern, wiederholte Fluchterfahrung, drohende Abschiebung, unsichere Zukunft, Vorfälle mit Rebellengruppen). Als erschreckende Ereignisse gibt der Vater (laut dem ärztlich-psychologischen Bericht) im Fragebogen der deutschen Version des UCLA PTSD Index für DSM IV. – Arbeitsgruppe Posttraumatologie KJP Ulm, 2010, an: Flussüberquerung auf dem Rücken des Vaters, Krieg, sie habe die Leiche des Großvaters gesehen, sie wisse, dass ihr Onkel im Gefängnis sitze. Der ärztlich-psychologische Bericht stellt weiter fest, in den erschreckenden Situationen habe H. Todesangst und Hilflosigkeit verspürt. Wiedererleben sei in verschiedenen Formen, insbesondere als starke emotionale Reaktion auf Erinnerung an das Erlebte vorhanden. Vermeidung komme ebenfalls auf unterschiedliche Arten vor. Hyperarousal sei sehr stark ausgeprägt, so achte H. beispielsweise verstärkt auf Gefahren, zeige gereizte Stimmung, sei schreckhaft, könne schwer einschlafen und wache nachts auf. Insgesamt ergebe sich mit 35 ein auffällig hoher Gesamtwert. Die Diagnosekriterien für eine Posttraumatische Belastungsstörung laut ICD-10 sowie DSM-IV seien erfüllt. Unter der Überschrift „Diagnostische Einschätzung und Therapieempfehlung“ heißt es weiter, diagnostisch sei am ehesten von einer Posttraumatischen Belastungsstörung auszugehen. Es würden eine deutlich erhöhte Ängstlichkeit, Hyperarousal, Reizbarkeit, Ablenkbarkeit und Schlafprobleme beschrieben. Verschiedene erschreckende gefährliche und gewaltsame Erlebnisse, Wiedererleben und Vermeidung würden geschildert. Zusätzlich bestünden multiple Belastungsfaktoren. Auf Basis der Schilderungen der Familie sei davon auszugehen, dass die gesamte Familie multiple Fluchterfahrung habe und emotional stark belastet sei. Eine psychotherapeutische Behandlung wäre leitliniengemäß angebracht, erscheine jedoch auf Grund der Sprachbarriere sowie der unsicheren Lebensumstände aktuell zweitrangig. Im Vordergrund solle die Stabilisierung der Lebensumstände stehen. Dazu gehörten unter anderem äußere Sicherheit, ein fester Wohnort sowie die emotionale Stabilisierung der Eltern. Normalität im Alltag, wie der Besuch eines Kindergartens und das Spielen mit anderen Kindern seien förderlich.
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Bei der Klägerin zu 6) wird die Diagnose einer sonstigen Reaktion auf schwere Belastung (F43.8) und den Verdacht auf Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) gestellt. Aufgrund des jungen Alters der Patientin und der somit erschwerten Testbarkeit könne aktuell keine PTBS-Diagnose gestellt werden. Es werde eine deutlich erhöhte Ängstlichkeit, Hyperarousal, Reizbarkeit, Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Schlafprobleme deutlich.
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Mit Schreiben vom 14. Mai 2019 wurden aktuelle Atteste für die Klägerinnen zu 4) und 6) vom 8. und 9. Mai 2019 vorgelegt, die die Diagnosen bestätigten und im Falle einer Abschiebung der Familie von gravierenden und langanhaltenden negativen psychischen Folgen bei den Klägerinnen ausgehen. In dem ärztlich-psychologischem Attest der Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. med. N. vom 9. Mai 2019 werden für die Klägerin zu 4) als traumaauslösende Erlebnisse insbesondere Kriegs- und Fluchterlebnisse sowie die erste Abschiebung nach Kroatien genannt. Zusätzlicher Belastungsfaktor sei weiterhin die instabile Situation als Asylwerbende. Die Symptomatik einer Posttraumatischen Belastungsstörung nach IDC 10 inklusive Hilflosigkeit, Wiedererleben, Vermeidungsverhalten und Hyperarousal sei glaubhaft beschrieben worden und habe sich durch Beobachtungen der Ärztin sowie Schilderungen des Vaters im Behandlungsverlauf bestätigt. Eine praxisinterne Behandlung mit Therapie für die Klägerin zu 4), teilweise zusammen mit ihrer Schwester, der Klägerin zu 6), finde seit Dezember 2017 in Abständen von 1 bis maximal 5 Wochen statt.
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Mit Schreiben vom 20. Oktober 2022 wurde ein Attest der Fachärztin für Neurochirurgie, Frau Dr. med. P. vom Klinikum Traunstein vom 17. Dezember 2021 und ein Attest der Schön Klinik,Voglareuth hinsichtlich der Klägerin zu 2) vorgelegt. In diesen Attesten wird für die Klägerin zu 2) die Diagnose Chiarl-Malformation Typ 1 mit Syringomyelie HWK2 und Myelonödern bis HWK5/6 gestellt. Die Klägerin zu 2) leide unter einer langsam progredienten Symptomatik mit Schulter-Nacken-Schmerzen, einem Steifigkeitsgefühlt der Arme, Kribbelparästhesien der Finger sowie der Fußsohle, zum Teil auch des gesamten Beins. Ferner bestehe intermittierend eine für einige Tage anhaltende Schwindelsymptomatik, die sich dann wieder spontan bessere und vollständig rückläufig sei. Es werde eine OP mit elektiver Dekompression der hinteren Schädelgrube empfohlen.
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Desweiteren wurden erneut ärztlich-psychologische Berichte der Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. med. N. für die Klägerin zu 4) und die Klägerin zu 6) vom 20. Oktober 2022 vorgelegt, die die vorangegangene Diagnosen weiter bestätigen und ausführen, dass aus fachärztlicher Sicht eine Abschiebung absolut kontraproduktiv für die bisher erreichten therapeutischen Erfolge sei und die Stabilisierung massiv bedroht würde.
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Die Beklagte hat mit Schreiben vom 26. Juli 2018 beantragt,
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Nach Erkenntnissen des Bundesamts böten die Gesundheitsdienste in Kroatien die notwendigen ärztlichen Behandlungen und Betreuungen bei psychischen Erkrankungen an. Es könne auch davon ausgegangen werden, dass Erkrankungen in Kroatien in gleicher Weise behandelbar seien wie in Deutschland. Zudem gebe es von NGO`s geführte Projekte, die psychologische und psychiatrische Behandlung anböten. Mit Schreiben vom 28. April 2023 wurde dies nochmals ausgeführt und ein Gebrauch des Selbsteintrittsrechts der Beklagten abgelehnt.
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Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 18. November 2019 wurde die aufschiebende Wirkung der Klage der Kläger gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. November 2017 angeordnet. Auf den Beschluss (Az. M 3 S 17.53547) wird verwiesen.
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Mit Beschluss vom 19. Oktober 2022 wurde der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen.
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Hinsichtlich des vorliegenden Verfahrens fand eine mündliche Verhandlung am 21. Oktober 2022 statt. Die Klagepartei hat mit Schriftsatz vom 26. April 2023, die Beklagte mit Schriftsatz vom 2. Mai 2023 auf (weitere) mündliche Verhandlung verzichtet.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens, des Verfahrens M 3 S 17.53547, des Verfahrens des Kindes K. M 3 K 17.53562 sowie auf die vom Bundesamt übermittelten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
22
Die Klage ist im Hauptantrag als Anfechtungsklage zulässig und begründet. Über den hilfsweise gestellten Antrag ist damit in der Sache nicht zu entscheiden. Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO statthaft. Im Übrigen ist die Klage unzulässig. Bescheide, die einen Asylantrag ohne Prüfung der materiell-rechtlichen Anerkennungsvoraussetzungen, also ohne weitere Sachprüfung, als unzulässig ablehnen, sind mit der Anfechtungsklage anzugreifen (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 –, juris, Rn. 17 ff. und Urt. v. 01.06.2017 – 1 C 9.17 –, juris, Rn. 15). Eine anschließende gerichtliche Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung hat dann zur Folge, dass das Bundesamt das Verfahren fortzuführen und eine Sachentscheidung zu treffen hat.
23
Der Bescheid des Bundesamts ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in eigenen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG).
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1) Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) oder einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29. 6.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
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a) Eine Überstellung nach Kroatien scheitert nicht an Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO. Es sind keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Kläger im Falle einer Abschiebung nach Kroatien infolge systemischer Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen einer hinreichend wahrscheinlichen Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) oder Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ausgesetzt wären.
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Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedsstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der GR-Charta) entspricht. Zwar ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Die nationalen Behörden und Gerichte sind aber nur bei Vorliegen von Anhaltspunkten, die auf ein ernsthaftes Risiko von Verstößen gegen Art. 4 GR-Charta hindeuten, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Diese müssen zudem eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die nur vorliegt, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden des Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass einem Asylbewerber gerade aufgrund seiner besonderen Schutzbedürftigkeit und unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen eine Situation extremer materieller Not drohen würde, die es ihm nicht erlauben würde, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzen würde (EuGH, U. v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 92, 95).
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Daran gemessen ist nicht davon auszugehen, dass die Kläger im Falle einer Abschiebung nach Kroatien infolge systemischer Schwachstellen des dortigen Asylsystems oder der dortigen Aufnahmebedingungen einer hinreichend wahrscheinlichen Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GR-Charta ausgesetzt wären.
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b) Dies entspricht auch der neueren verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, wonach das kroatische Asylsystem aktuell nicht an systemischen Mängeln leidet (vgl. etwa NdsOVG, B.v. 22.2.2023 – 10 LA 12/23 – juris Rn. 8; VG München, B. 12.1.2023 – M 3 S 22.50688 – n.v. Rn. 24 ff.; VG Ansbach, B.v. 21.12.2022 – AN 14 S 22.50376 – juris Rn. 28 ff.; VG Leipzig, B.v. 6.12.2022 – 6 L 678/22.A – juris S. 6 ff.; VG Hannover, B.v. 21.11.2022 – 4 B 4791/22 – juris S. 5 ff.; VG Karlsruhe, B.v. 31.10.2022 – A 1 K 3034/22 – juris S. 11 m.w.N.; VG Stuttgart, U.v. 30.9.2022 – A 13 K 4446/22 – juris S. 5 ff.; VG Aachen, B.v. 28.9.2022 – 6 L 498/22.A – juris S. 5; VG Frankfurt (Oder), B.v. 15.8.2022 – VG 10 L 194/22.A – juris S. 3 ff; VG Göttingen, B.v. 8.7.2022 – 4 B 110/22 – juris S. 4 m.w.N.; VG Trier, B.v. 10.5.2022 – 7 L 1184/22.TR – juris S. 3 f.; U.v. 26.2.2020 – 7 K 2325/19.TR – juris Rn. 39 ff.VG Augsburg, GB v. 15.3.2022 – Au 3 K 22.50042 – juris Rn. 14 ff.; a.A. VG Hannover, B.v. 7.9.2022 – 15 B 3250/22 – juris Rn. 14 ff.; VG Stuttgart, B.v. 2.9.2022 – A 16 K 3603/22 – juris Rn. 21ff.; VG Freiburg, B.v. 2.9.2022 – A 16 K 3603/22 – juris Rn. 21; VG Braunschweig, U.v. 24.5.2022 – 2 A 26/22 – juris Rn. 34 ff., 46).
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c) Was die Aufnahmebedingungen anbelangt, erhalten Asylbewerber in Kroatien Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und finanzielle Unterstützung. Die Unterbringung erfolgt in den Aufnahmezentren in Zagreb („Hotel Porin“) und in Kutina (AIDA, Country Report: Croatia, 2021 Update, 22. April 2022, S. 80). Das Aufnahmezentrum in Kutina ist für vulnerable Personen vorgesehen, zu denen auch Kinder gezählt werden. Familien werden gemeinsam untergebracht (AIDA, Country Report: Croatia, 2021 Update, 22. April 2022, S. 98). Es ist nicht erkennbar, dass das nach Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta zu fordernde Mindestmaß bei einer zu erwartenden Unterbringung in Zagreb oder Kutina unterschritten würde.
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Dies gilt auch in Bezug auf die medizinische (Not-)Versorgung. In den Aufnahmezentren werden Dublin-Rückkehrer einer Gesundheitsuntersuchung und einem Screening unterzogen, das sich auch auf psychische Gesundheitsprobleme bezieht (AIDA, Country Report: Croatia, 2021 Update, 22. April 2022, S. 52). Das Kroatische Rote Kreuz bietet in den Aufnahmezentren psychosoziale und praktische Unterstützung für Asylbewerber und identifiziert vulnerable Kläger (AIDA, Country Report: Croatia, 2021 Update, 22. April 2022, S. 59). In den Aufnahmezentren besteht eine medizinische Versorgung. Für vulnerable Gruppen gibt es eine Spezialambulanz, die unter anderem auch eine pädiatrische Ambulanz umfasst. Weiter werden Kläger auch an die örtlichen Krankenhäuser überwiesen (AIDA, Country Report: Croatia, 2021 Update, 22. April 2022, S. 92). Ergänzend ist ein Team der Médecins du Monde (MdM) in den Aufnahmezentren, das medizinische Versorgung anbietet und den Klägern den Zugang zu Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens, insbesondere auch zu fachärztlichen Behandlungen oder Untersuchungen, erleichtert. MDM führt insbesondere auch Transporte von Kindern zu pädiatrischen Kliniken durch (AIDA, Country Report: Croatia, 2021 Update, 22. April 2022, S. 93 ff.).
31
Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass das kroatische Asylsystem und die Aufnahmebedingungen in Kroatien für Familien und selbst für Kinder mit Erkrankungen keine systemischen Mängel aufweist.
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2) Vorliegend kann jedoch aufgrund der besonderen Umstände dieses Einzelfalls die Abschiebung im Entscheidungszeitpunkt des Gerichtes nicht durchgeführt werden, da die Kläger einen Anspruch auf den humanitären Selbsteintritt gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, (Dublin III-VO) haben.
33
a) Nach Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin-III-VO kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Es kann dahingestellt bleiben, in welchem Maße das in Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO eingeräumte Ermessen gerichtlich überprüfbar ist und diesbezüglich ein subjektives Recht vermittelt (offen gelassen von BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 38; bejahend unter Anwendung von § 40 VwVfG BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22 f.). Sofern jedenfalls die Nichtausübung des Selbsteintrittsrechts zu einer Verletzung der Grundrechtecharta bzw. der EMRK, insbesondere Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta, führt und nur die Ausübung eines Selbsteintritts diese verhindert, ist ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintritts zu bejahen (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C.K., C-578/16 PPU – juris Rn. 88; U.v. 30.5.2013 – Halaf, C-528/11 – juris Rn. 35 ff.).
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Aufgrund der Verdichtung des Selbsteintrittsrechts zu einer Selbsteintrittspflicht, ergibt sich die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für das Asylverfahren der Kläger. In der Gesamtschau unter Hinzuziehung aller Gesichtspunkte gelangt das Gericht zu der Überzeugung, dass im vorliegenden Einzelfall ein Anspruch der Kläger auf den humanitären Selbsteintritt gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO besteht.
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b) Eine solche Selbsteintrittsverpflichtung findet in Fällen statt, in denen von einer unangemessenen Verzögerung des Verfahrens auszugehen ist. Für einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts spricht hierbei das Beschleunigungsgebot aus der Dublin III-VO. Das Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, soll nach diesen Regelungen zügig durchgeführt und möglichst kurzfristig abgeschlossen werden (vgl. die kurzen Fristen von Art. 21, 23, 29 Dublin-VO) (vgl. VG Hannover, U. v. 7.11.2013 – 2 A 4696/12 – juris Rn. 53). Die Kläger haben ein Interesse an einer zeitnahen Klärung der internationalen Zuständigkeit für die Sachentscheidung über den Asylantrag. Das Asylverfahren soll nicht beliebig hinausgezögert werden und insbesondere soll eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglicht werden, um den effektiven Zugang zu dem Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten (VG Ansbach, U.v. 9.7.2014 – AN 4 K 14.30194 – BeckOnline Rn. 10). Deshalb ist der Mitgliedsstaat, in dem sich ein Asylbewerber befindet, verpflichtet, darauf zu achten, dass eine Situation, in der dessen Grundrechte verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats verschlimmert wird; erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 selbst prüfen (EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u.a. juris Rn. 98, 108; U.v. 14.11.2013 – C-4/11, juris Rn. 35; VG Ansbach, U.v. 9.7.2014 – AN 4 K 14.30194 – BeckOnlineRn. 10). Auch wird grundsätzlich vom Bundesverwaltungsgericht anerkannt, dass eine Reduktion des den nationalen Behörden in Art. 17 Dublin III-VO eingeräumten Ermessens zu einem Selbsteintritt wegen unangemessen langer Verfahrensdauer führen kann (BVerwG, U.v. 9.1.2019 – 1 C 26.18 – Rn. 18). Hierbei kann es keinen Unterschied machen, ob die Verfahrensdauer aufgrund des langen Behördenverfahrens oder des gerichtlichen Verfahrens erfolgte. Das Interesse des Klägers an einer zeitnahen Klärung der internationalen Zuständigkeit für die Sachentscheidung über seinen Asylantrag muss dabei auch bei einer langen gerichtlichen Verfahrensdauer berücksichtigt werden. Der Sachverhalt im vorliegenden Verfahren stellt sich insbesondere so dar, dass sich die Verzögerung des Verfahrens nicht durch eine Verhaltensweise der Kläger ergab. Ursächlich hierfür war die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage im Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts vom 18. November 2019 im Rahmen des Dublin-Eilverfahrens, sowie daraufhin die lange gerichtliche Verfahrensdauer des vorliegenden Klageverfahrens, dessen Zuständigkeit innerhalb des Verwaltungsgerichts München mehrfach die Kammer wechselte.
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Die Kläger halten sich dadurch seit Oktober 2017, seit fast sechs Jahren, in der Bundesrepublik Deutschland auf. Die Abschiebung war aus rechtlichen Gründen, aufgrund der angeordneten aufschiebenden Wirkung der Klage durch den Beschluss vom 18. November 2019, nicht möglich. Auf den Beschluss vom 18. November 2019 (Az.: M 3 S 17.53547) wird verwiesen.
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c) Die aufschiebende Wirkung wurde unter anderem im Hinblick auf die Erkrankung der Klägerinnen zu 4) und 6) angeordnet. Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der Familie mit fünf Kindern, mittlerweile im Alter zwischen 5 und 15 Jahren, um vulnerable Personen. Bei der Klägerin zu 4) wurde eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, bei der jüngeren Klägerin zu 6) sonstige Reaktionen auf schwere Belastungen, so dass, wie ärztlich festgestellt wurde, die Rückführung nach Kroatien gravierende und langanhaltende negative psychische Folgen haben würde. Eine für den Fall der Rückführung nach Kroatien bei den Klägerinnen zu 4) und 6) zu erwartende Retraumatisierung und Verschlimmerung der Symptomatik wurden fachärztlich bestätigt. Hierzu wurden im Laufe des Verfahrens immer wieder aktuelle fachärztliche Bestätigungen vorgelegt. Hinzugekommen ist, durch ärztliche Bescheinigungen belegt, im Jahr 2021/2022 eine seltene Erkrankung der Klägerin zu 2) im Rückenmarkskanal, die zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führt und bei der eine Operation im Bereich des Schädels empfohlen wird. Neben der Tatsache, dass in der Familie der Kläger fünf minderjährige Kinder leben, von denen zwei Kinder nach wie vor stark psychisch belastet sind, tritt demnach auch noch der Umstand hinzu, dass ein Elternteil aufgrund gesundheitlicher Probleme in der Belastbarkeit eingeschränkt ist. Die individuelle Situation der Asylbewerber führt daher seit Jahren zu einer besonderen Schutzbedürftigkeit der Kläger, die sich durch die Krankheit der Klägerin zu 2) noch erhöht hat.
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d) Insbesondere die Klägerinnen zu 4) und 6) können sich darüber hinaus im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auf ihre grundrechtlich geschützte Position aus Art. 24 Abs. 1 und 2 der GR-Charta berufen. Danach haben sie u.a. Anspruch auf „… die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig ist“. Zudem muss das Wohl des Kindes bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen eine vorrangige Erwägung sein.
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Die Berücksichtigung des Kindeswohls beschränkt sich nicht darauf sicherzustellen, dass das Kind nicht von den sorgeberechtigten Eltern getrennt wird (Grundsatz der Familieneinheit). Vielmehr umfasst das Kindeswohl gemäß Art. 23 Abs. 2 lit. b) der RL 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (RL 2013/33/EU) explizit auch die Faktoren Wohlergehen und soziale Entwicklung des Minderjährigen unter besonderer Berücksichtigung seines Hintergrunds sowie nach lit. d) der Norm die (eigenen) Ansichten des minderjährigen Kindes entsprechend seinem Alter und seiner Reife (vgl. insgesamt VG Stuttgart, U.v. 14.11.2022 – A 11 K 3342/19 – juris Rn. 41 ff.).
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Ein Herausreißen der Klägerinnen zu 4) und 6) zum jetzigen Zeitpunkt aus ihrem sozialen Umfeld, indem die Klägerinnen nach Kroatien gebracht werden, verbunden mit der Notwendigkeit eines völligen Neuanfangs, würde ihr Wohlergehen und ihre soziale Entwicklung schwer belasten. Unter dem Gesichtspunkt, dass die Klägerin zu 2), die Mutter der Kinder, zudem gesundheitlich ebenfalls belastet ist, wäre ein Neuanfang für die Kinder nochmal schwieriger zu bewerkstelligen.
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Das Selbsteintrittsrecht hinsichtlich dieses Gesichtspunktes ergibt sich für die übrigen Kläger als Familienangehörige im Sinne von Art. 2 lit g) Dublin III-VO aus den unionsrechtlichen Vorschriften zum Schutz der Familie (Art. 7 GR-Charta, Art. 11 Dublin III-VO).
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3) Wird die Unzulässigkeitsentscheidung aufgehoben, kann auch die Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Absatz 5 oder 7 Aufenth hinsichtlich Kroatiens in Ziffer 2 des Bescheides keinen Bestand haben (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 –, juris, Rn. 21). Die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des angegriffenen Bescheides ist ebenfalls rechtswidrig, da die Voraussetzungen für deren Erlass, nämlich die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates für die Durchführung des Asylverfahrens, nicht mehr vorliegen, § 34a AsylG. Mit der Aufhebung der Abschiebungsanordnung entfällt zugleich die Grundlage für die Anordnung eines auf § 11 Absatz 1 AufenthG gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie dessen Befristung in Ziffer 4 des angefochtenen Bescheids.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis ergeben sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.