Inhalt

VG München, Beschluss v. 15.06.2023 – M 10 S 23.50591
Titel:

Dublin-Verfahren (Kroatien)

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 2 S. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2
Leitsatz:
Es bedarf der Klärung in einem Hauptsacheverfahren, ob das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Kroatien systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) mit sich bringen. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Dublin III-VO, Abschiebungsanordnung nach Kroatien, Offene Erfolgsaussichten der Klage, Beweiserhebung der Kammer zur Frage systemischer Mängel im kroatischen Asylverfahren, Abschiebungsanordnung, systemische Mängel, Kettenabschiebung, Pushback, Dublin-Rückkehrer
Fundstelle:
BeckRS 2023, 21882

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 8. Juni 2023 (Az. M 10 K 23.50590) gegen die Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 26. Mai 2023 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
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Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die angeordnete Überstellung nach Kroatien im Rahmen des sogenannten „Dublin-Verfahrens“.
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Der Antragsteller ist kongolesischer Staatsangehöriger. Er reiste am 15. November 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem die Antragsgegnerin am 16. November 2022 Kenntnis erhielt. Der förmliche Asylantrag datiert vom 9. Mai 2023.
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Aufgrund der Eurodac-Treffermeldung vom 16. November 2022, die einen Treffer der Kategorie 1 für Kroatien vom 9. November 2022 enthielt, richtete die Antragsgegnerin am 11. Januar 2023 ein Wiederaufnahmegesuch an die kroatischen Behörden, das am gleichen Tag dort einging. Die kroatischen Behörden erklärten die Übernahme des Antragstellers mit Schreiben vom 25. Januar 2023, das bei der Antragsgegnerin am gleichen Tag einging.
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Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 26. Mai 2023 wurde der Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt, festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz nicht vorliegen, die Abschiebung nach Kroatien angeordnet und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von 19 Monaten ab dem Tag der Abschiebung angeordnet. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Der Antragsteller hat mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 7. Juni 2023, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am 8. Juni 2023, Klage gegen diesen Bescheid erhoben (Az. M 10 K 23.50590). Gleichzeitig wird beantragt,
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Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Ziffer 3 des Bescheids enthaltene Abschiebungsanordnung nach Kroatien wird angeordnet.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass Asylbewerber in Kroatien nicht „Bett, Brot und Seife“ erhalten würden. Die Antragsgegnerin habe im Bescheid nicht offen lassen dürfen, ob die Rechtsgrundlage nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Asylgesetz (AsylG) oder nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG einschlägig sei. Der Antragsteller habe in Kroatien keinen Asylantrag stellen dürfen. Es sei aufgefordert worden, das Land innerhalb von 7 Tagen zu verlassen. Das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Kroatien wiesen systemische Mängel auf. Dem Antragsteller drohe bei Rücküberstellung nach Kroatien eine Kettenabschiebung nach Bosnien-Herzegowina und letztlich in den Kongo.
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Die Antragsgegnerin hat im gerichtlichen Verfahren die Akten vorgelegt, ohne einen Antrag zu stellen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten, auch im Verfahren M 10 K 23.50590, sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
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Der Antrag hat Erfolg.
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1. Der Antrag gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist nach Aktenlage zulässig. Insbesondere ist davon auszugehen, dass der Antrag innerhalb der einwöchigen Frist gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt worden ist. Es befindet sich in der Behördenakte kein Zustellnachweis (Postzustellungsurkunde) für den angefochtenen Bescheid vom 26. Mai 2023, der angesichts des zugehörigen Anschreibens vom 30. Mai 2023 frühestens an diesem Tag zur Post gegeben worden sein kann. Da die Antragsgegnerin beweispflichtig für den Zustellungszeitpunkt ist und der fehlende Nachweis damit zu ihren Lasten geht, ist nach summarischer Prüfung anhand der Aktenlage davon auszugehen, dass die Antragstellung am 8. Juni 2023 noch fristgerecht erfolgt ist.
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2. Der Antrag ist auch begründet.
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Entfaltet ein Rechtsbehelf – wie hier (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) – von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Sofern die Klage dagegen bei summarischer Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein wird, tritt das Interesse an der sofortigen Vollziehung zurück. Bei offenen Erfolgsaussichten kommt es auf eine Interessenabwägung an.
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Gemessen an diesen Maßstäben sind nach summarischer Prüfung die Erfolgsaussichten der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid offen. An der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen bei summarischer Prüfung im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 HS. 2 AsylG) Zweifel. Die daher vorzunehmende Interessenabwägung geht im vorliegenden Fall zugunsten des Antragstellers aus.
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Zwar ist die Antragsgegnerin nach kursorischer Prüfung im Ausgangspunkt zutreffend von einer Zuständigkeit Kroatiens in Bezug auf den in der Bundesrepublik Deutschland gestellten Asylantrag des Antragstellers ausgegangen, da dieser zuerst in Kroatien einen Asylantrag gestellt hat (Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO).
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Aber vorliegend sind die Erfolgsaussichten der Klage in Bezug auf die Frage offen, ob die Zuständigkeit gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen ist, weil eine Überstellung an Kroatien als den zuständigen Mitgliedstaat an Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO scheitern würde. Denn der Aspekt, ob das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Kroatien systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) mit sich bringen, ist in der Rechtsprechung umstritten. Deswegen erhebt die Kammer diesbezüglich in einem anderen Verfahren Beweis; die Beweiserhebung ist noch nicht abgeschlossen.
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Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris).
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Nach diesen Maßstäben lässt es sich im vorliegenden Eilverfahren nicht abschließend beurteilen, ob in Kroatien systemische Mängel vorliegen.
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Zwar verneint die überwiegende Meinung in der Rechtsprechung das Vorliegen systemischer Mängel (vgl.: VGH BW, U.v. 11.5.2023 – A 4 S 2666/22 – juris; NdsOVG, B.v. 22.2.2023 – 10 LA 12/23 – juris; VG Ansbach, B.v. 21.12.2022 – AN 14 S 22.50376 – juris; VG Leipzig, B.v. 6.12.2022 – 6 L 678/22.A – juris; VG Hannover, B.v. 21.11.2022 – 4 B 4791/22 – juris; VG Stuttgart, U.v. 30.9.2022 – A 13 K 4446/22 – juris; VG Aachen, B.v. 12.9.2022 – 6 L 551/22.A – juris; VG Göttingen, B.v. 8.7.2022 – 4 B 110/22 – juris; VG Düsseldorf, B.v. 4.2.2022 – 12 L 59/22.A – juris; VG Chemnitz, B.v. 10.12.2021 – 4 L 519/21.A – juris). Dies wird trotz der von den kroatischen Behörden vorgenommenen Pushbacks und Kettenabschiebungen angenommen. Hauptargument ist hierbei, dass Dublin-Rückkehrer von diesen Maßnahmen nicht betroffen seien.
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Dagegen bejaht aber ein nicht unerheblicher Teil der Rechtsprechung das Vorliegen systemischer Mängel (vgl. VG Braunschweig, U.v. 8.5.2023 – 2 A 269/22 – juris; VG Braunschweig, U.v. 24.5.2022 – 2 A 26/22 – juris; im Anschluss hieran: VG Freiburg, B.v. 26.7.2022 – A 1 K 1805/22 – juris; VG Hannover, B.v. 7.9.2022 – 15 B 3250/22 – juris; VG Stuttgart, B.v. 2.9.2022 – A 16 K 3603/22 – juris). Diese Auffassung beruft sich unter Auswertung aktueller Erkenntnismittel darauf, dass es in Kroatien nicht nur an der EU-Außengrenze seit Langem und in erheblichem Umfang zu gewaltsamen Pushbacks, d.h. irregulären Abschiebungen von Asylsuchenden über die kroatische EU-Außengrenze nach Serbien und Bosnien-Herzegowina, komme. Vielmehr seien auch Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina von Österreich, Italien oder Slowenien hinreichend belegt. Folglich sei nicht sichergestellt, dass im Wege des Dublin-Verfahrens von Deutschland an Kroatien rücküberstellte Asylsuchende nicht ebenfalls Opfer von Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien werden könnten und ihr Recht auf Asylantragstellung dadurch vereitelt würde (vgl. zusammenfassend: VG Freiburg, B.v. 26.7.2022, a.a.O., Rn. 14).
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Das Hauptargument der überwiegenden Rechtsprechung, dass Dublin-Rückkehrer von Pushbacks und Kettenabschiebungen nicht betroffen seien, ist bei summarischer Bewertung und unter Zugrundelegung des gegenwärtigen Erkenntnisstands jedenfalls zweifelhaft: Die Eigenschaft als Dublin-Rückkehrer räumt den Geflüchteten keinen rechtlichen Sonderstatus ein, sondern Dublin-Rückkehrer sind nach Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO zu behandeln wie Erstantragsteller. Wenn sie Kroatien vor Abschluss des Asylverfahrens verlassen, wird ihr Verfahren ausgesetzt, und sie müssen nach ihrer Rückkehr erneut einen Antrag stellen, um das Asylverfahren fortzusetzen oder neu einzuleiten. Eine Differenzierung, wie etwa zwischen anerkannten international Schutzberechtigten und Asylbewerbern, ist damit nicht angezeigt. Die Gruppe der Dublin-Rückkehrer von den sonstigen Asylsuchenden in Kroatien abzuspalten und als eigenständige Kategorie zu betrachten, wäre nur dann gerechtfertigt, wenn es gelänge, positiv zu belegen, dass Dublin-Rückkehrern die Gefahren, denen sämtliche andere Asylbewerber in Kroatien ausgesetzt sind, nicht drohen (vgl. hierzu: VG Braunschweig, U.v. 8.5.2023 – 2 A 269/22 – juris LS 3 und Rn. 54, 56).
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Damit stellt sich die Rechtsprechung zu der Frage, ob Dublin-Rückkehrer von den genannten Pushbacks und Kettenabschiebungen betroffen sein könnten, als uneinheitlich dar (vgl. hierzu und der deswegen angeordneten aufschiebenden Wirkung der Klage: VG Karlsruhe, B.v. 21.2.2023 – A 19 K 304/23 – juris Rn. 27, 38 ff.). Die Kammer erhebt derzeit Beweis u.a. genau zu dieser Frage. Im Verfahren M 10 K 22.50479 holt die Kammer aufgrund der Beweisbeschlüsse vom 15. Dezember 2022 Auskünfte beim Auswärtigen Amt, dem European Center for Constitutional and Human Rights und bei Amnesty International Deutschland ein. Gegenstand der Beweiserhebung ist zum einen die Frage von Polizeigewalt in Kroatien gegenüber Geflüchteten und zum anderen die Frage von Pushbacks und Kettenabschiebungen. Dabei wird gerade der Frage nachgegangen, ob auch Dublin-Rückkehrer nach Kroatien von Pushbacks oder Kettenabschiebungen betroffen sein können. Die diesbezügliche Beweiserhebung ist noch nicht abgeschlossen.
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Angesichts der uneinheitlichen Rechtsprechung zur Frage des Vorliegens systemischer Mängel in Kroatien und der hierzu derzeit durchgeführten Beweiserhebung durch die Kammer sind die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Abschiebungsanordnung derzeit als offen zu bewerten. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung ist anzuordnen, da im Rahmen der Interessenabwägung die Nachteile, die sich für den Antragsteller bei einem Sofortvollzug ergeben würden, gegenüber den Nachteilen, die die Antragsgegnerin aufgrund der Anordnung der aufschiebenden Wirkung erleidet, überwiegen. Denn insbesondere aufgrund der ggf. drohenden Pushbacks oder Kettenabschiebungen könnte eine Abschiebung des Antragstellers für diesen irreparable Folgen haben.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).