Inhalt

VG München, Beschluss v. 13.07.2023 – M 10 S 23.50667
Titel:

Dublin-Verfahren (Bulgarien)

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a
Dublin III-VO Art. 16 Abs. 1, Art. 17 Abs. 2, Art. 18 Abs. 1 lit. b
Rückführungs-RL Art. 5
Leitsätze:
1. Eine Selbsteintrittspflicht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO besteht nur im Falle der Wahrung der Familieneinheit innerhalb der Kernfamilie.  (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Im gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht davon auszugehen, dass ein Asylsuchender in Bulgarien aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat, Bulgarien), Abschiebungsanordnung, Minderjähriger Neffe des Antragstellers im Bundesgebiet, Kindeswohl, Entscheidung des EuGH vom 15.2.2023 (C-484/22), Systemische Mängel (verneint), minderjähriger Neffe, Selbsteintrittspflicht, Kernfamilie, systemische Mängel
Fundstelle:
BeckRS 2023, 21881

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die angeordnete Überstellung nach Bulgarien im Rahmen des sog. „Dublin-Verfahrens“.
2
Der Antragsteller, nach eigenen Angaben ein syrischer Staatsangehöriger, reiste am 8. Juni 2023 in das Bundesgebiet ein und äußerte nach Aufgriff durch die Bundespolizei (indirekt) ein Asylgesuch (vgl. BA S. 31), von dem das Bundesamt durch E-Mail-Mitteilung der Bundespolizei vom 9. Juni 2023 Kenntnis erlangte (Mitteilung durch die Bundespolizei als „Aufgriff OHNE Asylgesuch“). Der förmliche Asylantrag datiert vom 12. Juni 2023.
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Aufgrund der EURODAC-Ergebnismitteilung vom 8. Juni 2023, die eine Treffermeldung der Kategorie 1 hinsichtlich Bulgarien ergab, richtete die Antragsgegnerin am 12. Juni 2023 ein Übernahmeersuchen an Bulgarien, welches von den bulgarischen Behörden am 16. Juni 2023 gem. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) akzeptiert wurde.
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Mit Bescheid vom 22. Juni 2023, zugestellt am 23. Juni 2023, lehnte die Antragsgegnerin den Asylantrag als unzulässig ab und verneinte das Vorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote hinsichtlich Bulgarien (Nrn. 1 und 2). Die Abschiebung nach Bulgarien wurde angeordnet (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 11 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Der Antragsteller hat über seine Bevollmächtigte am 27. Juni 2023 Klage gegen den Bescheid vom 22. Juni 2023 erhoben. Des Weiteren beantragt er,
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die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamts vom 22. Juni 2023 anzuordnen.
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Zur Begründung wird unter Vorlage diverser Nachweise zusammengefasst ausgeführt, dass der Antragsteller der Onkel des ebenfalls geflüchteten Kindes N.A., geb. 7. Oktober 2010, sei. Sein Neffe werde aktuell vom Jugendamt des Landkreises … … … … betreut. Dem Antragsteller sei von den Eltern seines Neffen das Sorgerecht für ihn übertragen worden. Es gebe ein besonderes Näheverhältnis zwischen dem Antragsteller und seinem Neffen. Der Antragsteller habe eine besondere Verantwortung für ihn. Er sei für seinen Neffen bereits seit Jahren die Hauptbezugsperson und sei auch vor der zwangsweisen Trennung in Bulgarien gemeinsam mit ihm auf der Flucht unterwegs gewesen. Die Voraussetzungen des Art. 16, Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO i.V.m. Art. 8 EMRK seien jedenfalls im Eilverfahren ausreichend glaubhaft gemacht. Außerdem werde auf die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15. Februar 2022 (Rs. C-484/22) verwiesen, wonach bei jeglicher Rückkehrentscheidung das Kindeswohl angemessen zu berücksichtigen sei.
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Die Antragsgegnerin legte die Asylakte vor, hat sich aber im gerichtlichen Verfahren (noch) nicht geäußert.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 K 23.50666, sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
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Der zulässige Antrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO bleibt in der Sache ohne Erfolg.
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1. Entfaltet ein Rechtsbehelf – wie hier (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) – von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück.
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2. Gemessen an diesen Maßstäben geht die Interessenabwägung im vorliegenden Fall zu Lasten des Antragstellers aus. Nach summarischer Prüfung sind die Erfolgsaussichten seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid als gering anzusehen. Die Abschiebungsanordnung erweist sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als rechtmäßig, da die Asylanträge zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG als unzulässig abgelehnt worden sind.
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a) Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO ist Bulgarien für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig. In verfahrensrechtlicher Hinsicht wurden die Fristen für das Wiederaufnahmegesuch bzw. deren Beantwortung eingehalten (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 2 Satz 1 bis Satz 3 Dublin III-VO). Die vom Antragsteller vorgebrachten Argumente für eine vorrangige Zuständigkeit der Antragsgegnerin sind rechtlich nicht durchgreifend.
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aa) Eine vorrangige Zuständigkeit der Antragsgegnerin für das Asylverfahren des Antragstellers ergibt sich vorliegend weder aus Art. 16 Abs. 1 noch Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO.
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Ob vom Antragsteller ein Abhängigkeitsverhältnis i.S.v. Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO hinreichend glaubhaft gemacht wurde, kann vorliegend dahinstehen, da die übrigen tatbestandlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. So unterfällt der Neffe des Antragstellers bereits in persönlicher Hinsicht nicht dem Anwendungsbereich des Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO („sein Kind, eines seiner Geschwister oder ein Elternteil“; s. näher dazu Vollrath in BeckOK MigR, Stand 15.4.2023, Art. 16 Dublin III-VO Rn. 1). Im Übrigen fehlt es hinsichtlich des Neffen des Antragstellers am tatbestandlichen Erfordernis der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts, welcher bei einer Aufenthaltsgestattung (§ 55 Abs. 1 AsylG) als lediglich vorübergehendes verfahrensbegleitendes Aufenthaltsrecht nicht vorliegt (VG Würzburg, B.v. 28.6.2017 – W 8 S 17.50344 – juris Rn. 21; VG München, B.v. 30.12.2015 – M 12 S 15.50773 – juris Rn. 28; VG Düsseldorf, B.v. 8.4.2015 – 13 L 914/15.A – juris Rn. 17).
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Der Verweis auf Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ist ebenfalls nicht durchgreifend, da es tatbestandlich an einem entsprechenden mitgliedstaatlichen Ersuchen an die Antragsgegnerin fehlt (vgl. dazu VG Ansbach, B.v. 18.12.2020 – AN 17 E 20.50359 – juris Rn. 44; VG Freiburg, B.v. 5.2.2020 – A 13 K 4642/19 – juris Rn. 47). Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO erfasst diejenigen Fallkonstellationen, in denen sich ein Ausländer nicht in dem Mitgliedstaat befindet, der ein Übernahmeersuchen nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO abgelehnt hat, sodass es auch keine Überstellungsentscheidung geben wird, die angegriffen werden kann (VG Freiburg, a.a.O., Rn. 45). Insofern geht es von
Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO erfassten Konstellationen darum, dass eine Zusammenführung von Familienangehörigen oder Verwandten dadurch möglich gemacht werden soll, dass sich das Bundesamt gegenüber der ersuchenden Behörde des Mitgliedstaats für zuständig erklärt, was ggf. im einstweiligen Anordnungsverfahren gem. § 123 VwGO auch gerichtlich durchgesetzt werden kann (vgl. etwa VG Freiburg, B.v. 5.2.2020 – A 13 K 4642/19 – juris Rn. 20, 44 ff.; VG Ansbach, B.v. 26.11.2019 – AN 18 E 19.50958 – juris Rn. 25; 30 ff.; VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 23). Eine derartige Fallkonstellation ist vorliegend weder materiell- noch verfahrensrechtlich gegeben.
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bb) Nicht durchdringen kann der Antragsteller mit dem Verweis auf die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15. Februar 2023 (Rs. C-484/22 = NVwZ 2023, 743). Soweit sich der Antragsteller auf die vom Gerichtshof aufgestellten Rechtssätze bezieht, Art. 5 RL 2008/115/EG verwehre es einem Mitgliedstaat, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er geltend macht, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern, und dass nach Art. 5 Buchst. a RL 2008/115/EG bzw. Art. 24 Abs. 2 GRCh das Wohl des Kindes in allen Verfahrensstadien zu berücksichtigen sei, sieht sich das Gericht unter rechtssystematischen Gesichtspunkten gehindert, diese Rechtssätze im Rechtskontext der Dublin III-VO 1:1 heranzuziehen. Unabhängig davon, dass die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Kontext einer vom Bundesamt erlassenen Abschiebungsandrohung in den Herkunftsstaat erging und sich der betroffene Ausländer hinsichtlich der Berücksichtigung familiärer Belange nicht auf das nachgelagerte ausländerrechtliche Verfahren verweisen lassen muss (vgl. BayVGH, B.v. 5.6.2023 – 11 ZB 23.30200 – juris Rn. 7), bezieht sie sich rechtlich auf „Rückkehrentscheidungen“ i.S.v. Art. 3
Nr. 4 RL 2008/115/EG, die Überstellungen von Drittstaatsangehörigen zwischen EU-Mitgliedstaaten tatbestandlich nicht erfasst (vgl. Lutz in Thym/Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 3. Aufl. 2022, Art. 3 RL 2008/115/EG Rn. 14). Auch unter Berücksichtigung des jeweiligen Inkrafttretens der RL 2008/115/EG und der Dublin III-VO erscheint es systemwidrig zu schlussfolgern, dass aus der RL 2008/115/EG rechtsverbindliche Vorgaben für die später erlassene Dublin III-VO abgeleitet werden könnten, zumal die Dublin III-VO Fragen des Kindeswohls (Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 Dublin III-VO) bzw. der Familienzusammenführung selbständig und abschließend regelt (vgl. Art. 8-10, Art. 16, Art. 17 Dublin III-VO).
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In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof der Europäischen Union entschieden, dass Art. 6 Dublin III-VO dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat, der nach den in dieser Verordnung genannten Kriterien für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz unzuständig ist, nicht dazu verpflichtet, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen und diesen Antrag in Anwendung von Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO selbst zu prüfen (EuGH, U.v. 23.1.2019 – Rs. C-661/17 – juris Rn. 72 = NVwZ 2019, 297). Hintergrund dieser Rechtsprechung ist, dass der Anwendungsbereich von Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO – anders als Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO – europarechtlich weitgehend undeterminiert ist, da dort kein genauer exakter materieller Rahmen für die Ermessensprüfung normativ fixiert ist (EuGH, U.v. 23.1.2019 – Rs. C-661/17 – juris Rn. 58 f. = NVwZ 2019, 297; vgl. auch VG Freiburg, a.a.O., Rn. 45). Auch wenn in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung allgemein anerkannt ist, dass die Wahrung der von Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GRCh geschützten Familieneinheit ein wichtiger Ermessensaspekt im Rahmen des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sein kann (vgl. statt vieler: VG München, U.v. 8.9.2022 – M 10 K 16.50556 u.a. – juris Rn. 28 ff.) und auch familiäre Beziehungen zwischen Onkel und Neffe dem Schutzbereich von Art. 7 GRCh bzw. Art. 8 EMRK unterfallen können (vgl. Jarass in Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2021, Art. 7 GRCh Rn. 19 m.w.N.), wird aus der Differenzierung des Verordnungsgebers zwischen „Familienangehörigen“ (Art. 2 Buchst. g Dublin III-VO) und „Verwandten“ (Art. 2 Buchst. h Dublin III-VO) einschließlich der jeweiligen Bezugnahmen in den Zuständigkeitsvorschriften deutlich, dass familiären Bindungen zwischen „Familienangehörigen“ ein höheres rechtliches Schutzniveau eingeräumt wird als denjenigen zwischen „Verwandten“ (vgl. etwa unter Berücksichtigung der jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen Art. 9-11 Dublin III-VO einerseits und Art. 8 Abs. 2, Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO andererseits). Diese Überlegung spiegelt sich auch in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wieder, nach der eine Selbsteintrittspflicht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO durchgehend nur in denjenigen Fällen angenommen wurde, in der es um die Wahrung der Familieneinheit innerhalb der Kernfamilie ging (vgl. beispielhaft: VG Wiesbaden, U.v. 26.1.2023 – 1 K 259/21.WI.A – juris Rn. 52; VG Würzburg, U.v. 8.12.2022 – W 2 K 22.50216 – juris Rn. 28 ff.; VG München, U.v. 8.9.2022 – M 10 K 16.50556 u.a. – juris Rn. 28 ff.; VG Magdeburg, U.v. 9.5.2022 – 3 A 5/21 MD – juris Rn. 23). Auch wenn der Antragsteller dargelegt hat, für seinen Neffen eine elternähnliche Bezugsperson zu sein, ist auf der anderen Seite zu berücksichtigen, dass der Neffe durch das Jugendamt in Obhut genommen wurde (§ 42a Abs. 1 SGB VIII) und versorgt wird (vgl. in einem ähnlichen Fall auch VG München, B.v. 30.3.2015 – M 12 S 15.50022 – juris Rn. 52). Eine im Sinne von Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO erforderliche außergewöhnliche humanitäre Situation (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22 ff.) liegt auch unter Berücksichtigung des gerichtlichen Vortrags des Antragstellers nicht vor, da aus der Stellungnahme des Amtsvormunds nicht hervorgeht, dass der minderjährige Neffe zwingend auf seinen Onkel angewiesen ist („Im Sinne des Kindeswohls […] und der psychischen Stabilität […] sehr begrüßenswert“, wenn das Asylverfahren des Antragstellers in Deutschland durchgeführt werde; vgl. auch VG München, B.v. 30.3.2015 – M 12 S 15.50022 – juris Rn. 52). Demnach lässt sich sowohl unter Berücksichtigung der zitierten Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 23. Januar 2019 als auch unter den angeführten systematischen Gesichtspunkten vorliegend eine Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin aus Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO nicht begründen. Unbenommen hiervon bleibt die Möglichkeit des Antragstellers, in Bulgarien über die dortigen Behörden ggf. das rechtsförmige Verfahren nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO anzustoßen.
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b) Die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylverfahrens des Antragstellers ist auch nicht gem. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen.
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aa) Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41; grundlegend EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, „Abdullahi“ – NVwZ 2012, 417, Rn. 80 ff.). Dabei ist nach der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu berücksichtigen, dass der Begriff der systemischen Schwachstellen nicht notwendigerweise gesamtbezogen auf das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im Überstellungsstaat insgesamt zu verstehen ist, sondern auch Teilbereiche hiervon erfasst sein können, die mit individuellen Umständen des Asylbewerbers verknüpft sind (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 70 ff. = NVwZ 2017, 691 ff., im Hinblick auf das Gesundheitssystem in Kroatien). Demnach ist mittlerweile geklärt, dass auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK eine Überstellung i.S.v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen kann, selbst wenn diese Rechtsverletzung nicht die Konsequenz aus der Existenz systemischer Schwachstellen im zuständigen Mitgliedstaat ist (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 91). Erforderlich, aber auch ausreichend ist daher, wenn auf Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben dem Gericht Anhaltspunkte für Schwachstellen vorliegen, welche eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen und den Antragsteller betreffen. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist (auch) erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Bedürfnissen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C 297/17 „Ibrahim“ u.a. – juris Rn. 89 ff. und C-163/17, „Jawo“ – juris Rn. 91 ff.).
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bb) Die neuere, verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung geht überwiegend davon aus, dass das bulgarische Asylsystem aktuell nicht an systemischen Mängeln leidet. Auch wenn in bestimmten Bereichen Schwachstellen bzw. Missstände vorhanden sind und die Lebensbedingungen in Bulgarien für Asylbewerber schwieriger sind als in Deutschland, führen diese Umstände nicht zur Mangelhaftigkeit des Gesamtsystems (OVG NW, B.v. 25.5.2023 – 11 A 1257/22.A – juris Rn. 35 ff.; OVG NW, B.v. 16.12.2022 – 11 A 1397/21.A – juris Rn. 55 ff.; VGH Baden-Württemberg, U.v. 24.2.2022 – A 4 S 162/22 – juris Rn. 32; B.v. 22.10.2019 – A 4 S 2476/19 – juris Rn. 16 ff.; HessVGH, U.v. 26.10.2021 – 8 A 1852/20.A – juris Rn. 35 m.w.N.; OVG Hamburg, B.v. 30.4.2021 – 6 Bf 42/21 – juris; VG Augsburg, U.v. 16.11.2022 – Au 8 K 22.50223 – juris Rn. 20 ff.; VG München, B.v. 2.6.2022 – M 10 S 22.50254 – juris Rn. 22; VG Düsseldorf, B.v. 31.1.2022 – 12 L 2724/21.A – juris Rn. 40 ff.; VG Würzburg, B.v. 27.10.2021 – W 1 S 21.50279 – juris Rn. 19 ff.; a.A. VG Köln, B.v. 31.1.2023 – 5 L 65.23.A – juris Rn. 26 ff.; VG Ansbach, B.v. 31.10.2022 – AN 14 S 22.50126 – juris Rn. 24 ff.; VG Freiburg, U.v. 19.9.2022 – A 14 K 900/22 – juris Rn. 26 ff.). Das Gericht folgt dabei weiterhin der oben genannten obergerichtlichen Rechtsprechung, die sich mit den aktuellen Erkenntnismitteln auseinandersetzt (vgl. insbesondere: AIDA, Country Report Bulgaria, Update 2021, S. 39 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Stand 13. Juni 2022, S. 12 f.). Die Leiterwägungen in den genannten obergerichtlichen Entscheidungen erscheinen auch im Lichte der neueren, gegenläufigen Rechtsprechung nicht durchgreifend erschüttert, gleiches gilt im Hinblick auf den (mittlerweile veralteten) Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Februar 2018 (13a ZB 17.50030), dem, soweit ersichtlich, auch keine Sachentscheidung im Berufungsverfahren nachfolgte. Auch der Antragsteller hat in der Hinsicht nichts Gegenteiliges vorgetragen.
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3. Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung ist rechtmäßig, da die Abschiebung nach Bulgarien nach den obigen Ausführungen rechtlich zulässig und auch im Übrigen tatsächlich möglich ist; es liegen weder inlands- noch zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse vor (vgl. dazu zur Prüfungskonzentration des Bundesamts: BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – AuAS 2014, 244). Insofern wird gem. § 77 Abs. 3 AsylG auf die Gründe des streitbefangenen Bescheids Bezug genommen. Die Befristung des angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 11 Monate begegnet nach summarischer Prüfung ebenso keinen ernsthaften rechtlichen Bedenken (§ 114 Satz 1 VwGO).
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).