Titel:
Unzulässige Klage, Kein fristgerechter Widerspruch, Auslegung eines Schreibens als Widerspruch (verneint), Bestandskraft der Ausgangsbescheide
Normenketten:
VwGO § 69, § 70
BGB analog § 133, § 157
Schlagworte:
Unzulässige Klage, Kein fristgerechter Widerspruch, Auslegung eines Schreibens als Widerspruch (verneint), Bestandskraft der Ausgangsbescheide
Fundstelle:
BeckRS 2023, 21875
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen die Heranziehung zu Vorauszahlungen auf Verbesserungsbeiträge für die Entwässerungseinrichtung der Beklagten betreffend zwei Grundstücke.
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Der Kläger ist Miteigentümer der Grundstücke … Straße 5 (Fl.Nr. …, Gemarkung …) und …platz 1 (Fl.Nr. …, Gemarkung …) im Gemeindegebiet der Beklagten.
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Die Beklagte erhebt auf Grundlage ihrer Beitragssatzung für die Verbesserung und Erneuerung der Entwässerungseinrichtung vom 17. September 2019 Verbesserungsbeiträge zur Finanzierung der Kläranlagensanierung.
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Mit Schreiben der Beklagten vom 18. März 2021 wurde der Kläger betreffend das Grundstück … Straße 5 zur Berechnung des „vorläufigen“ Verbesserungsbeitrags angehört. Mit Bescheid der Beklagten vom 26. April 2021 wurde er für dieses Grundstück zu einer Vorauszahlung auf den Verbesserungsbeitrag für die Entwässerungseinrichtung in Höhe von 15.145,50 EUR herangezogen.
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Mit Schreiben der Beklagten vom 6. Mai 2021 wurde der Kläger betreffend das weitere Grundstück …platz 1 ebenso angehört (angegebenes Aktenzeichen der Gemeinde: …). Für dieses Grundstück wurde ihm gegenüber mit Bescheid vom 1. Juni 2021 eine Vorauszahlung auf den Verbesserungsbeitrag für die Entwässerungseinrichtung in Höhe von 7.050,71 EUR festgesetzt.
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Mit Schreiben vom 19. Mai 2021, das am 25. Mai 2021 bei der Beklagten eingegangen ist und im Betreff das Zeichen „…“ enthält, nahm der Kläger zu dem Schreiben der Beklagten vom 6. Mai 2021 Stellung. Weitere Stellungnahmen zur Beitragserhebung erfolgten mit E-Mails von Gesellschaftern der … Ltd., die Miteigentumsanteile an den Grundstücken hält, vom 14. und 21. Juni 2021.
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Mit Schriftsatz vom 28. Juli 2021, eingegangen bei der Beklagten am 29. Juli 2021, führte der Bevollmächtigte des Klägers aus, dass der Kläger auf alle Bescheide reagiert und sich gegen die Beitreibung der Beiträge gewehrt habe. Diese Schreiben seien inhaltlich als Widerspruch gegen den jeweiligen Bescheid zu werten, so dass die Bescheide nicht in Bestandskraft erwachsen seien. Die Bescheide seien bei verständiger Würdigung des klägerischen Schriftverkehrs mit Widerspruch angefochten.
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Mit Schreiben vom 30. Juli 2021 bestätigte die Beklagte dem Klägerbevollmächtigten den form- und fristgerechten Eingang des Widerspruchs vom 28. Juli 2021. Mit weiterem Schreiben vom 13. Juli 2022 wies die Beklagte auf die Unzulässigkeit des Widerspruchs vom 28. Juli 2021 wegen Nichteinhaltung der Widerspruchsfrist hin. Der Klägerbevollmächtigte verwies mit Schriftsatz vom 16. Juli 2022 auf das anderslautende Schreiben der Beklagten vom 30. Juli 2021 und stellte richtig, dass er im Schreiben vom 28. Juli 2021 nicht Widerspruch eingelegt, sondern auf den zuvor vom Kläger erhobenen Widerspruch Bezug genommen habe.
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Die Beklagte half dem Widerspruch nicht ab und legte diesen mit Schreiben vom 2. August 2022 unter Verweis auf dessen Unzulässigkeit wegen Verfristung dem Landratsamt … vor. Mit Bescheid vom 15. September 2022, dem Klägerbevollmächtigten zugestellt am 17. September 2022, wies das Landratsamt … den Widerspruch zurück, da dieser wegen Nichteinhaltung der Widerspruchsfrist unzulässig sei.
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Der Kläger hat mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 14. Oktober 2022, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am gleichen Tag, Klage erhoben. Er beantragt,
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1. Der Bescheid der Beklagten vom 26. April 2021 für das Grundstück Fl.Nr. …, Gemarkung … über die Erhebung einer Vorauszahlung auf den Verbesserungsbeitrag für die Erneuerung der Kläranlage in Höhe von 15.145,50 EUR in der Fassung des Widerspruchsbescheids des Landratsamts … vom 15. September 2022 wird aufgehoben.
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2. Der Bescheid der Beklagten vom 1. Juni 2021 für das Grundstück Fl.Nr. …, Gemarkung … über die Erhebung einer Vorauszahlung auf den Verbesserungsbeitrag für die Erneuerung der Kläranlage in Höhe von 7.050,71 EUR in der Fassung des Widerspruchsbescheids des Landratsamts … vom 15. September 2022 wird aufgehoben.
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Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 8. November 2022:
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Die Klage wird abgewiesen.
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Mit gerichtlichem Schreiben vom 24. Februar 2023 wurde auf die Unzulässigkeit der Klage hingewiesen, da gegen die streitgegenständlichen Bescheide weder fristgerecht Widerspruch noch Klage erhoben worden sei. Hierzu nahm der Klägerbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 29. März 2023 Stellung. Die Beklagte habe mit Schreiben vom 30. Juli 2021 den fristgerechten Eingang des Widerspruchs ausdrücklich bestätigt. Die Beklagte habe daher zu erkennen gegeben, dass sie eine etwaige Verfristung nicht für sich wirken, sondern vielmehr den Widerspruch sachlich verbescheiden lassen wolle. Nach der Rechtsprechung stehe es der Behörde aufgrund ihrer Sachherrschaft frei, den Widerspruch wegen Fristversäumnis als unzulässig zurückzuweisen oder trotz des Fristablaufs in der Sache zu entscheiden. Im Übrigen sei die Klage auch begründet, was im Einzelnen dargelegt wird.
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Mit Schriftsatz vom 24. Mai 2023 verwiesen die Bevollmächtigten der Beklagten darauf, dass die Beklagte selbst die Unzulässigkeit der Widersprüche erkannt und dies dem Landratsamt … im Vorlageschreiben vom 2. August 2022 mitgeteilt habe.
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Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 24. Mai und 31. Mai 2023 auf mündliche Verhandlung verzichtet.
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Mit Beschluss vom 5. Juni 2023 hat das Gericht den Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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1. Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
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2. Die Klage hat keinen Erfolg, da sie unzulässig ist. Gegen die streitgegenständlichen Bescheide vom 26. April und 1. Juni 2021 (in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Landratsamts … vom 15.9.2022) ist weder fristgerecht Widerspruch noch Klage erhoben worden. Ein im vorliegenden Fall der Erhebung kommunaler Abgaben nach § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung fakultativ statthafter Widerspruch ist nicht ordnungsgemäß nach §§ 69, 70 VwGO eingelegt worden. Die Klage vom 14. Oktober 2022 wahrt die Klagefrist nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO bezogen auf die Ausgangsbescheide vom 26. April und 1. Juni 2021 nicht.
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a) Das Schreiben des Klägers vom 19. Mai 2021, das bei der Beklagten am 25. Mai 2021 eingegangen ist, ist nicht als Widerspruch gegen den Bescheid vom 26. April 2021 (betreffend … Straße 5, Fl.Nr. …, Gemarkung …*) zu verstehen. Es kann – da zeitlich früher – auch offensichtlich nicht als Widerspruch gegen den Bescheid vom 1. Juni 2021 (betreffend M.platz 1, Fl.Nr. …, Gemarkung …*) interpretiert werden.
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Ein Widerspruch setzt zwar nicht voraus, dass das Widerspruchsschreiben ausdrücklich als „Widerspruch“ bezeichnet ist. Es braucht auch keinen bestimmten Antrag zu enthalten. Es muss aber erkennen lassen, dass sich der Absender gegen eine bestimmte Verwaltungsmaßnahme wendet, die er beseitigt oder geändert haben möchte (vgl. hierzu: Wöckel in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2022, § 70 Rn. 3 m.w.N.).
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Diesen Anforderungen genügt das Schreiben vom 19. Mai 2021 nicht. Der Kläger gibt in seinem Schreiben nicht zu erkennen, dass er sich gegen einen Bescheid wendet. Vielmehr ist das Schreiben so zu verstehen, dass der Kläger auf das Anhörungsschreiben der Beklagten vom 6. Mai 2021 betreffend die Festsetzung eines „vorläufigen“ Verbesserungsbeitrags für das Anwesen …platz 1, Fl.Nr. …, Gemarkung …, reagiert. Denn das im Schreiben vom 19. Mai 2021 im Betreff in Bezug genommene Aktenzeichen der Beklagten korrespondiert (nur) mit dem Aktenzeichen des Anhörungsschreibens der Beklagten vom 6. Mai 2021. Auch inhaltlich nimmt der Kläger Bezug auf dieses Anhörungsschreiben, indem er aus dem Anhörungsschreiben zitiert sowie auf das konkrete Datum „6. Mai 2021“ rekurriert.
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Das Schreiben vom 19. Mai 2021 ist somit als inhaltliche Stellungnahme zum Anhörungsschreiben der Beklagten vom 6. Mai 2021 betreffend das Anwesen …platz 1, Fl.Nr. …, Gemarkung …, zu verstehen. Es ist nicht als Widerspruch gegen den ein anderes Grundstück, nämlich … Straße 5, Fl.Nr. …, Gemarkung …, betreffenden Bescheid vom 26. April 2021 anzusehen.
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b) Auch die E-Mails vom 14. Juni und 21. Juni 2021 stellen keinen formgerechten Widerspruch gegen die verfahrensgegenständlichen Bescheide dar. Abgesehen davon, dass die E-Mails schon nicht vom Kläger herrühren und wohl auch inhaltlich nicht als Widerspruch gegen einen Bescheid verstanden werden können, genügen sie jedenfalls nicht der elektronischen Form nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 3a Abs. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz.
27
c) Schließlich ist das Schreiben des Klägerbevollmächtigten vom 28. Juli 2021 bei einer Bewertung aus dem objektiven Empfängerhorizont nach §§ 133, 157 BGB analog nicht als Widerspruchsschreiben zu verstehen. Weder im Betreff noch im Fließtext des Schreibens wird erkennbar, dass mit diesem Schreiben Widerspruch gegen die streitgegenständlichen Bescheide erhoben werden soll. Vielmehr wird auf den aus Sicht des Bevollmächtigten bereits durch den Kläger eingelegten Widerspruch verwiesen. Dass der Bevollmächtigte mit dem Schreiben vom 28. Juli 2021 auch keinen Widerspruch erheben wollte, hat er selbst mit Schreiben vom 16. Juli 2022 bestätigt. Denn in diesem Schreiben hat er gegenüber der Beklagten richtiggestellt, dass er selbst im Schreiben vom 28. Juli 2021 nicht Widerspruch eingelegt habe, sondern dass der Kläger bereits mit seinen vorangegangenen Schreiben Widerspruch erhoben habe.
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Jedenfalls hätte das Schreiben vom 28. Juli 2021 die Widerspruchsfrist des § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO, die aufgrund der ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrungen jeweils einen Monat beträgt, nicht gewahrt. Die streitgegenständlichen Bescheide vom 26. April und 1. Juni 2021 sind nach Angaben der Beklagten (vgl. den Widerspruchsbescheid) jeweils am Ausfertigungstag zur Post gegeben worden. Sie gelten damit gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 Abgabenordnung i.V.m. Art. 13 Abs. 1 Nr. 3b Kommunalabgabengesetz am 29. April und 4. Juni 2021 als zugestellt, so dass das am 29. Juli 2021 eingegangene Schreiben vom 28. Juli 2021 jeweils die einmonatige Widerspruchsfrist offensichtlich nicht einhält.
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d) Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers kann der Verfristung und damit der Bestandskraft der Ausgangsbescheide nicht entgegengehalten werden, dass sich die Beklagte in der Sache auf den Widerspruch eingelassen habe.
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Zwar kann die Widerspruchsbehörde nach der überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur als „Herrin des Verfahrens“ auch eine neue Sachentscheidung treffen, wenn sie sich in der Sache auf den Widerspruch eingelassen hat. Sie habe ein Ermessen darüber, ob sie den Widerspruch als verfristet zurückweisen oder zur Sache entscheiden wolle. Aber diese Auffassung überzeugt nicht, da sie sich über die im Interesse der Rechtssicherheit bestehende Wirkung der Bestandskraft hinwegsetzt und zu Ungleichbehandlung in der Rechtsanwendung führt (s. zum Meinungsstand und zur Kritik an der h.M.: Geis in Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 2018, § 68, Rn. 41 ff.).
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Unabhängig davon kann diese Auffassung jedenfalls nur greifen, wenn – wie hier nicht – überhaupt eine inhaltlich als Widerspruch zu wertende Willenserklärung vorliegt. Zudem haben sich vorliegend weder die Beklagte noch die Widerspruchsbehörde im Sinne dieser h.M. sachlich auf den Widerspruch eingelassen. Zwar teilte die Beklagte der Klagepartei mit Schreiben vom 30. Juli 2021 mit, dass der Widerspruch fristgerecht eingegangen sei. Aber die Beklagte korrigierte ihre Rechtsmeinung in der Folgezeit. Mit Schreiben vom 13. Juli 2022 verwies sie den Kläger auf die Unzulässigkeit der Klage wegen Verfristung. Ausweislich des Auszugs aus der Niederschrift der Sitzung des Gemeinderats der Beklagten vom 13. September 2022 (TOP 18) beschloss der Gemeinderat, dem Widerspruch aufgrund der Unzulässigkeit nicht abzuhelfen. Im Vorlageschreiben an das Landratsamt vom 2. August 2022 verwies die Beklagte auch ausdrücklich auf die Unzulässigkeit der Klage; die Bestätigung über die fristgerechte Erhebung des Widerspruchs mit Schreiben vom 30. Juli 2021 sei irrtümlich erfolgt. Die Widerspruchsbehörde selbst wies in ihrem Bescheid vom 15. September 2022 den Widerspruch als unzulässig zurück.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung fußt auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.