Inhalt

ArbG Würzburg, Endurteil v. 13.07.2023 – 9 Ga 5/23
Titel:

Einstweiliges Verfügungsverfahren - Keine Untersagung der Aufforderung zur Arbeitsniederlegung

Normenketten:
ArbGG § 62 Abs. 2
GG Art. 9 Abs. 3
TVG § 5 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Ein Streikverbot durch eine einstweilige Verfügung ist nur dann zu erlassen, wenn die Arbeitsniederlegung offensichtlich rechtswidrig ist. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Streikziel „Erreichen der Allgemeinverbindlichkeit der Entgelttarifverträge in einer gemeinsamen Initiative“ ist ein mögliches Verhandlungsziel und nicht offensichtlich rechtswidrig, weshalb es nicht durch eine einstweilige Verfügung untersagt werden kann. (Rn. 36 – 37) (redaktioneller Leitsatz)
3. Arbeitskampfmaßnahmen sind nicht erst dann zulässig, wenn das die Tarifvertragsverhandlungen offiziell gescheitert sind und die Arbeitgeberseite die Forderungen ausdrücklich zurückgewiesen hat. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einstweiliges Verfügungsverfahren, Aufforderung zur Arbeitsniederlegung, Offensichtliche Rechtswidrigkeit, Streik, Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags, Unterlassungsantrag, Gewerkschaft
Rechtsmittelinstanz:
LArbG Nürnberg, Urteil vom 20.07.2023 – 3 SaGa 9/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 21719

Tenor

1. Die Verfügungsklage wird abgewiesen.
2. Die Verfügungsklägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 200.000,-- € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes um den Abbruch eines Warnstreiks im Betrieb G.
2
Die Verfügungsklägerin mit Sitz in R. (im Folgenden: Klägerin) unterhält in Nordbayern Großhandelsbetriebe, unter anderem den Betrieb in G./Unterfranken. Sie ist Mitglied des Arbeitgeberverbandes des Bayerischen Großhandels. Die Verfügungsbeklagte (im Folgenden: Beklagte) ist die für den Handel zuständige Gewerkschaft.
3
Mit Beginn 23.5.2023 bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor der Kammer (12.6.2023) wird im Betrieb G. eine als Warnstreik bezeichnete Streikmaßnahme von der Beklagten durchgeführt. Die Maßnahme ist nach Aufruf der Beklagten derzeit bis 16.7. 2023 vorgesehen (vgl. Streikaufrufe der Beklagten, Anlage AGS2). Die laufenden Verhandlungen der Tarifparteien werden voraussichtlich am 18.7.2023 fortgeführt.
4
Die Forderungen der Tarifrunde wurden mit Schreiben vom 14.3.2023 (Anlage AGS1) von der Beklagten an den Arbeitgeberverband kommuniziert. Sie lauten im Einzelnen:
- Tabellenwirksame Erhöhung der Entgelte um 13%
- Erhöhung der Ausbildungsvergütungen um 250 €
- Die Laufzeit der Tarifverträge muss 12 Monate betragen
- In einer gemeinsamen Initiative soll die Allgemeinverbindlichkeit der Entgelttarifverträge erreicht werden Letztgenannte Forderung ist in den Streikaufrufen an die Belegschaft nicht enthalten (Anlage AGS2).
5
Mit Aushang vom 3.7.2023 (Anlage B3 zur Antragserwiderung vom 11.7.2023) teilte die Klägerin den Beschäftigten mit:
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Da wir nicht wissen, wann endlich eine Einigung erreicht wird, haben wir uns entschlossen, Sie freiwillig finanziell zu unterstützen.
7
Wir werden als freiwillige Leistung der Edeka Nordbayem-Thüringen beginnend mit dem 1.7.2023 monatlich eine Inflationsausgleichsprämie von 200 EUR für Vollzeitkräfte (Teilzeit anteilig) auszahlen.
8
Wir planen derzeit, dies jeden Monat zu tun, bis der Flächentarifabschluss endlich steht – egal wie lange dies dauern wird, Mit Schreiben vom 5.7.2023 (Anlage AGS7) forderte die Klägerin die Beklagte auf, sofort die Streikmaßnahmen zu beenden, da diese rechtswidrig seien. Ein Abbruch oder eine Aussetzung der Streikmaßnahmen ist nicht erfolgt.
9
Die Klägerin trägt zur Begründung ihrer Forderung vor:
10
Das Streikziel der Erreichung einer Allgemeinverbindlichkeit durch gemeinsame Initiative sei rechtswidrig. Das Bestreiken bereits tarifgebundener Unternehmen könne nicht mit dem Ziel rechtmäßig erfolgen, dass bereits gewerkschaftlich organisierte und gebundenen Unternehmen zusätzlich die Allgemeinverbindlicherklärung anstreben und entsprechende Erklärungen abgeben. Dieses Ziel diene auch nicht der Verbesserung der tariflichen Situation der Mitarbeiter der Klägerin. Die Beklagte wende auch bei Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern in allen Betrieben in Nordbayern den Gehaltstarifvertrag des Bayerischen Großhandels an. Das Streikziel sei nicht nur rechtswidrig, sondern auch ein Missbrauch von Streikmaßnahmen für ein nicht im Hinblick zwischen den Parteien gedecktes Streikziel.
11
Auch wenn dieses Ziel in die Streikaufrufe der Beklagten nicht aufgenommen wurde, sei es jedoch vorhanden und werde weiterverfolgt. Aufgrund dieses rechtswidrigen Streikziels seien alle Streikmaßnahmen rechtswidrig.
12
Entgegen der Auffassung der Beklagten liege keine komplizierte Rechtsfrage vor, die eine offensichtliche Unwirksamkeit des Streiks ausschließe. Die Allgemeinverbindlichkeit sei nicht Inhalt des Tarifvertrages. Die gemeinsame Erklärung sei wieder Bestandteil der Allgemeinverbindlicherklärung, noch werde sie in Tarifverträgen fixiert. Die Erklärung sei allenfalls öffentlich-rechtliche Voraussetzungen für das Anlaufen des Verfahrens gemäß § 5 TVG. Die Allgemeinverbindlicherklärung sei ein Rechtsetzungsakt eigener Art. Dies bereits schließe aus, dass eine gemeinsame Erklärung Gegenstand tariflicher Regelungen sein kann.
13
Da der Gehaltstarifvertrag ausgelaufen ist, bestehe derzeit allenfalls eine Nachwirkung. Die Nachwirkung erfülle allerdings nicht die Voraussetzung für eine Allgemeinverbindlicherklärung. Sei die zeitliche Geltungsdauer abgelaufen, könne der durch Nachwirkung gültige Tarifvertrag nicht mehr Grundlage einer entsprechenden Erklärung sein.
14
Da keine Verpflichtung des Staates bestehe, den Geltungsbereich von Tarifverträgen durch Allgemeinverbindlichkeitserklärung auszuweiten, sei ein Anspruch der Koalitionen auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung ausgeschlossen. Damit könne – trotz fehlender obergerichtlicher Entscheidung in dieser Hinsicht – die Abgabe einer Erklärung zwecks Allgemeinverbindlichkeit nicht durch Arbeitskampfmaßnahmen erstritten werden.
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Die Rechtswidrigkeit ergebe sich auch daraus, dass die Beklagte selbst nicht von einem Scheitern der Verhandlungen ausgeht. Es werde lediglich darauf hingewiesen, man habe bislang kein Ergebnis erzielt. Von einem Abbruch der Verhandlungen Seiten des Arbeitgebers sei keine Rede.
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Der Umfang der Streikmaßnahmen können nicht mehr als Warnstreik qualifiziert werden. Es liege ein klassischer Erzwingungsstreik vor, die eine Urabstimmung erfordere. An dieser fehle es jedoch. Auch sei zu bestreiten, dass der Bundesvorstand und die zuständige Tarifkommission über die Durchführung von Arbeitskampfmaßnahmen Nordbayern eine Entscheidung getroffen hat.
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Aufgrund der bisherigen Dauer hätten die Streikmaßnahmen bereits zu erheblichen Schäden der Klägerin geführt. Nach überschlägiger Berechnung betrage der Umsatzausfall für die bislang zu verzeichnen 123 Streiktage 25 Mio € im Einzel- und Großhandel. Der Schaden beim Ertrag belaufe sich auf etwa 8,1 Mio €.
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In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer ergänzte der Klägervertreter, dass aufgrund der Streikmaßnahmen in einer konservativen Schätzung von einem Tagesverlust von etwa 66.000,-€ ausgegangen werden muss.
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Die Klägerin beantragt daher zuletzt:
1. Der Beklagten wird untersagt, ab sofort und für die Dauer der Gehaltstarifvertragsverhandlungen bezüglich des Gehaltstarifvertrages im bayerischen Großhandel Arbeitnehmer der Klägerin im Betrieb G., I. straße 9, 9... G., zur Arbeitsniederlegung aufzufordern.
2. Der Verfügungsbeklagten/Beklagten wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die Unterlassungsverpflichtung gemäß vorstehender Ziffer 1 ein Ordnungsgeld bis zur Höhe von 250.000,00 €, ersatzweise Ordnungshaft bis zu sechs Monaten angedroht.
20
Die Beklagte beantragt,
Klageabweisung.
21
Die Beklagte trägt vor:
22
Es bestehe keine tarifvertragliche Friedenspflicht. Nur die Regelungsgegenstände eines nicht beendeten Tarifvertrages seien der Friedenspflicht unterworfen, die erkennbar im Tarifvertrag umfassend und abschließend geregelt sind. Auch seien vor Einleitung des Arbeitskampfes erfolglose Verhandlungen geführt worden. Ein Scheitern sei dagegen keine Voraussetzung.
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Die in Rede stehenden Tarifforderungen seien ausnahmslos zulässig. Dies gelte gerade auch für die Tarifforderung der gemeinsamen Beantragung der Allgemeinverbindlicherklärung, die ausdrücklich aufrechterhalten werde. Diese sei im obligatorischen bzw. schuldrechtlichen Teile eines Tarifvertrages regelbar und damit auch erstreikbar.
24
In diesem Umfang könnten auch andere Gegenstände als im normativen Teil geregelt werden. Insbesondere seien auch Abreden über die Stellung eines Antrags auf Allgemeinverbindlicherklärung zulässig. Das gemeinsame Beantragen betreffe die autonome Regelungsbefugnis der Tarifparteien. Auch ein Arbeitskampf zur Durchsetzung schuldrechtlicher Kollektivverträge sei rechtmäßig.
25
Dieses Ergebnis stütze auch die Rechtsprechung des EGMR. Ein Streik werde nicht durch einzelne möglicherweise tarifwidrige Forderungen unzulässig.
26
Zutreffend sei, dass Warnstreiks verhältnismäßig sein müssen. Handlungsbedarf betreffend eine Entgeltentwicklung für die Beschäftigten werde auch bei Teilen der Arbeitgeberseite anerkannt, sei jedoch nicht hinreichend umgesetzt worden. Vorsorglich sei der behauptete Schaden zu bestreiten. Ein Arbeitskampf wird nicht dadurch unangemessen, dass hohe Tarifforderungen verfolgt werden. Auch die Dauer eines Warnstreiks sei durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht begrenzt.
27
Da eine einstweilige Verfügung in den meisten Fällen endgültigen Charakter hat, jedoch zumindest zu einer gravierenden Schwächung der Verhandlungsposition führt, sei beim Erlass einer einstweiligen Verfügung auf Untersagung von Arbeitskampfmaßnahmen besondere Zurückhaltung geboten. Die einstweilige Verfügung sei daher nur zulässig, wenn der Arbeitskampf offensichtlich rechtswidrig ist.
28
Die Beklagtenseite bestätigte darüber hinaus auf Nachfrage des stellvertretenden Vorsitzenden, dass die Forderung einer gemeinsamen Initiative für die Allgemeinverbindlichkeit der Entgelttarifverträge ausdrücklich als Ziel der Tarifverhandlungen an die Arbeitgeberseite aufrecht erhalten bleibt.
29
Übereinstimmend bestätigten die Parteien im Rahmen der mündlichen Verhandlung, dass bereits in früheren Tarifrunden das Ansinnen des Erreichens der Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages Forderung der Beklagten war und auch Streikmaßnahmen hinsichtlich des Entgelttarifvertrages in der Vergangenheit erfolgten. Bei einer Einigung sei dieser Punkt jedoch in keinem Fall aufgenommen worden.Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die entsprechenden schriftsätzlichen Ausführungen Bezug genommen.
30
Bezug genommen wird im Übrigen auf den Inhalt der Verhandlungsniederschriften, sowie auf die gesamte Gerichtsakte.

Entscheidungsgründe

I.
31
Die Verfügungsklage ist zulässig, aber unbegründet.
32
Das Arbeitsgericht Würzburg – Kammer Schweinfurt – ist zur Entscheidung über den Rechtsstreit gemäß §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 32, 35 ZPO örtlich zuständig.
33
Die Zulässigkeit eines Antrags auf einstweilige Verfügung im Bereich des Arbeitskampfes ergibt sich aus § 62 Abs. 2 ArbGG.
II.
34
Für den Erlass einer einstweiligen Verfügung sind Verfügungsgrund und Verfügungsanspruch erforderlich. Hierbei ist die bloße Wahrscheinlichkeit der Rechtswidrigkeit einer Streikmaßnahmen für den Erlass einer einstweiligen Verfügung nicht ausreichend. Vielmehr erfordert der Abbruch eine offensichtliche Rechtswidrigkeit (ebenso: ArbG Köln vom 6.6.2023, 17 Ga 27/23; ArbG Stuttgart vom 9.6.2023, 15 Ga 41/23 – jeweils m.w.N.; LAG Baden-Württemberg vom 3.8.2018, 16 SaGa 8/22 Rn. 41; Däubler/Kloppenburg Arbeitskampfrecht § 24 Rn. 43). Dies ergibt sich bereits daraus, dass der auf Untersagung gerichtete Antrag eine Befriedigungswirkung innehat und infolge Zeitablaufs regelmäßig zu einer Vorwegnahme der Hauptsache führt. Zu beachten ist, dass die vollständige Untersagung einer Arbeitskampfmaßnahme am stärksten in das Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG eingreift. Die Untersagung der Aufforderung zur Arbeitsniederlegung bis zum Abschluss des Gehaltstarifvertrages ist eine derartig gravierende Maßnahme.
35
Die offensichtliche Rechtswidrigkeit der Tarifforderungen ist nicht gegeben. Hierbei ist offensichtlich, dass die Forderungen der Erhöhung der Entgelte und Ausbildungsvergütungen und der Laufzeit des Entgelttarifvertrages zulässige Tarifforderungen darstellen.
36
Auch die Forderung einer gemeinsamen Initiative der Allgemeinverbindlichkeit ist zu Überzeugung der erkennenden Kammer nicht offensichtlich rechtswidrig. Eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts oder eine rechtskräftige Entscheidung der Landesarbeitsgerichte in dieser Frage ist nicht ersichtlich. In Teilen der Literatur werden schuldrechtliche Vereinbarungen über die Beantragung einer Allgemeinverbindlichkeit als zulässige Tarifforderung betrachtet (Däubler/Ahrendt, TVG, § 1 TVG Rn. 1193), während an anderer Stelle die Unzulässigkeit vertreten wird (Löwisch/Rieble, TVG, § 5 TVG Rn. 258). Bereits aufgrund dieser offenen und nicht verfestigten rechtlichen Einschätzung verbietet sich die Annahme einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit aufgrund der Forderung, eine Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages anzustreben.
37
Inhaltlich sieht die erkennende Kammer jedoch die Aufnahme schuldrechtlicher Forderungen – auch der Aufforderung zur Abgabe entsprechender Erklärungen zum Erreichen der Allgemeinverbindlichkeit – in die Tarifziele im vorliegenden Fall auch als zulässig und damit rechtmäßig an. Hierbei ist aus Sicht des Gerichts insbesondere zu berücksichtigen, dass die streitbefangene Tarifforderung unstreitig bereits in vergangenen Tarifrunden Inhalt der Forderungen der Gewerkschaft war. Auch diesbezüglich wurden Arbeitskampfmaßnahmen durchgeführt, ohne dass die Beklagte die Rechtswidrigkeit entsprechender Maßnahmen gerichtlich angegriffen hat. Lässt sich die Arbeitgeberseite jedoch auf Tarifforderungen der Gewerkschaft ein, ohne deren Rechtswidrigkeit geltend zu machen, erzeugt sie bei der Gegenseite einen Vertrauenstatbestand dahingehend, dass die Geltendmachung – unabhängig von der abschließenden Umsetzung im Tarifabschluss – als dem Grunde nach zulässige Forderung angesehen wird.
38
Selbst wenn, was durch die erkennende Kammer – wie bereits ausgeführt – nicht geteilt wird, von einer Rechtswidrigkeit der entsprechenden Tarifforderung auszugehen wäre, würde dies nicht zu einer Rechtsunwirksamkeit des Arbeitskampfes führen. Zutreffend führt die Klägerseite aus, dass nach der von der Literatur gebildeten und durch das Bundesarbeitsgericht bestätigten sogenannten „Rührei-Theorie“ die Rechtswidrigkeit einer Tarifforderung zur Rechtswidrigkeit des gesamten Forderungsbündels führt (BAG vom 26.7.2016, 1 AZR 160/14). In der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts geht es jedoch offensichtlich um einen Verstoß gegen die tarifliche Friedenspflicht. Dass das der Versuch der Durchsetzung von Tarifforderungen, die dieser Friedenspflicht unterliegen offensichtlich rechtswidrig ist, liegt auf der Hand. Gleichfalls ist dem BAG zuzustimmen, dass bei einem derartig gravierenden und offensichtlichen Eingriff eine Arbeitskampfmaßnahme insgesamt unzulässig ist. Dies ist nach Auffassung des erkennenden Gerichts jedoch dann anders zu betrachten, wenn es sich um untergeordnete Forderungen handelt. Die Bemessung, ob eine Forderung untergeordnet ist, ist unter anderem dem historischen Verhandlungsverlauf zu entnehmen. Wird eine Tarifforderung mehrfach erhoben, findet sie jedoch über mehrere Tarifrunden hinweg keinen Eingang in das Tarifwerk, ist offensichtlich keine Kernforderung der Tarifverhandlungen betroffen. Wäre dies anders zu beurteilen, erscheint ein entsprechender Tarifabschluss über Jahre hinweg ohne Aufnahme der Forderung als widersinnig. Bloße Rechtswidrigkeiten von Randforderungen können jedoch zu Überzeugung des Gerichts solange nicht zur Rechtswidrigkeit der gesamten Tarifforderungen und damit eines Arbeitskampfes führen, solange in weit überwiegendem Umfang offensichtlich rechtmäßige Forderungen Gegenstand der Auseinandersetzung sind.
39
Aus vorgenannten Erwägungen führt das Begehren nach der Abgabe von Erklärungen zu Allgemeinverbindlichkeit nicht zur Rechtswidrigkeit der Arbeitskampfmaßnahme.
40
Dahingestellt bleiben kann, ob die Beklagte satzungsmäßig im vorgesehenen Verfahren den Arbeitskampf eingeleitet und durchgeführt hat. Selbst wenn eine vorherige Urabstimmung oder sonstige Formalien innergewerkschaftlich vorgeschrieben sind, führt dies im Außenverhältnis nicht zu Rechtsunwirksamkeit von Streiks (Däubler/Rödl, Arbeitskampfrecht, § 17 Rn. 63).Ebenso ist eine zeitliche Beschränkung eines Streiks – auch in Form des Warnstreiks – nicht geboten. Eine arbeitskampfrechtliche Beschränkung auf kurzfristige Warnstreiks besteht nicht mehr. Diese können wie normale Erzwingungsstreiks arbeitskampfrechtlich gesehen beliebig lang sein und beliebig oft wiederholt werden (Däubler/Rödl, a.a.O.).
41
Schließlich führt auch nicht die wirtschaftliche Betrachtung zu einer Unverhältnismäßigkeit des Streiks. Unterstellt, der Umsatzausfall stellt sich wie von der Klägerseite beschrieben dar, ist nicht auf die wirtschaftliche Belastung des gesamten Warnstreiks abzustellen. Die Unterlassungsverfügung im Rahmen der einstweiligen Verfügung ist rein zukunftsbezogen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind daher nur für die Zeit ab der Antragstellung beachtlich. Da derzeit eine Fortführung des Warnstreiks nur bis 16.7.2023 beschlossen ist, ist allein die wirtschaftliche Tragweite des noch verbleibenden Zeitraums relevant. Im Verhältnis zur bereits abgelaufenen Zeit seit dem 23.5.2023 ist dieser Restzeitraum jedoch untergeordnet. Jedenfalls ergibt sich kein offensichtlicher zukunftsbezogener Regelungsbedarf, der zu Unverhältnismäßigkeit der Fortführung der Streikmaßnahmen führt.
42
Schließlich ist ein Scheitern der Verhandlungen und eine ausdrückliche Zurückweisung der Forderungen durch die Arbeitgeberseite nicht erforderlich (BAG AP Nr .108 zu Art. 9 GG Arbeitskampf).
43
Zusammenfassend ergibt sich daher, dass aus keinem Gesichtspunkt die offensichtliche Rechtswidrigkeit der Streikmaßnahmen erkannt werden kann. Folgerichtig waren die Anträge zurückzuweisen.
III.
44
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 46 Abs. 2 ArbGG iVm § 91 ZPO.
45
Der Streitwert wurde gemäß §§ 61 Abs. 1, § 46 Abs. 2 ArbGG; 2, 3 ZPO festgesetzt. Er richtet sich nach dem wirtschaftlichen Interesse der Antragstellerseite am Abbruch des Warnstreiks, dass in der mündlichen Verhandlung mit täglich 66.000,- € Verlust bezeichnet wurde. Für die Zeit zwischen der letzten mündlichen Verhandlung und dem derzeitig bezeichneten Ende des Warnstreiks ist daher bei zurückhaltender Schätzung eine wirtschaftliche Belastung von mindestens 200.000,- € angemessen und ausreichend.