Titel:
Einstweilige Verfügung gegen Streik während laufender Gehaltstarifverhandlungen - Streik zur gemeinsamen Beantragung einer AVE
Normenketten:
ZPO § 940
BGB § 823, § 1004
TVG § 5
GG Art. 9 Abs. 3
Leitsätze:
1. Der Erlass einer Unterlassungsverfügung gegen einen Arbeitskampf kommt nicht nur bei dessen "offensichtlicher" Rechtswidrigkeit in Betracht. Vielmehr muss das Gericht, ebenso wie bei allen anderen einstweiligen Verfügungen, auch die Frage der Rechtswidrigkeit nach den allgemein gültigen Kriterien prüfen. Auch angesichts des summarischen Charakters des einstweiligen Verfügungsverfahrens und des beschränkten Instanzenzuges können schwierige und ungeklärte Rechtsfragen nicht ohne weiteres ungeprüft bleiben (Anschluss an LAG Nürnberg BeckRS 2010, 74305; LAG München BeckRS 2009, 67788; entgegen LAG Baden-Württemberg BeckRS 2016, 71965; BeckRS 2016, 68197; LAG Sachsen BeckRS 2007, 52118; ArbG BeckRS 2023, 13866; offenlassend BVerfG BeckRS 2020, 7868). (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein gemeinsamer Antrag nach § 5 Abs. 1 S. 1 TVG ist kein zulässiges Streikziel (entgegen ArbG Köln BeckRS 2023, 13866). (Rn. 22 – 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
einstweilige Verfügung, Streik, Gehaltstarifvertrag, Verhandlungen, Allgemeinverbindlichkeit, Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, Koalitionsbetätigungsfreiheit
Rechtsmittelinstanz:
LArbG Nürnberg, Urteil vom 20.07.2023 – 3 SaGa 7/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 21705
Tenor
1. Der Beklagten wird untersagt, ab sofort und für die Dauer der Entgelttarifvertragsverhandlungen bezüglich des Entgelttarifvertrages im Bayerischen Großhandel Arbeitnehmer der Klägerin im Betrieb H, H-straße, H-Stadt, mit dem Streikziel, dass in einer gemeinsamen Initiative die Allgemeinverbindlichkeit der Entgelttarifverträge erreicht werden soll, zur Arbeitsniederlegung aufzufordern.
2. Der Beklagten wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die Unterlassungsverpflichtung gemäß vorstehender Ziffer 1 ein Ordnungsgeld bis zur Höhe von 250.000,00 Euro, ersatzweise Ordnungshaft bis zu sechs Monaten angedroht.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
5. Der Streitwert wird auf 200.000,- Euro festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Rechtmäßigkeit eines Streiks und dessen Untersagung.
2
Die Verfügungsklägerin ist ein Großhandelsunternehmen und beliefert aus insgesamt vier Betrieben in Nordbayern A-Einzelhändler. Sie ist Mitglied im Arbeitgeberverband des Bayerischen Großhandels und wendet den Manteltarifvertrag sowie den Gehaltstarifvertrag des Bayerischen Großhandels an. Der Gehaltstarifvertrag ist derzeit abgelaufen, wobei die Tarifvertragsparteien, also die Verfügungsbeklagte und der Arbeitgeberverband Großhandel Bayern, derzeit über den Abschluss eines en Gehaltstarifvertrages verhandeln.
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Die Verfügungsbeklagte ist die zuständige Gewerkschaft für den Handel.
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Ein Schreiben der Verfügungsbeklagten vom 14.03.2023 an den Arbeitgeberverband Großhandel Bayern lautet auszugsweise wie folgt (Anlage AGS 1, Bl. 12 d.A.):
„unsere Große Tarifkommission für den Groß- und Außenhandel in Bayern hat am 14. März 2023, nach Diskussion und der Auswertung einer digitalen/schriftlichen Befragung der Beschäftigten in den Betrieben, für die anstehende Tarifrunde 2023 folgende Forderung zum Entgelttarifvertrag einstimmig beschlossen.
- Tabellenwirksame Erhöhung der Entgelte um 13%
- Erhöhung der Ausbildungsvergütungen um 250 €
- Die Laufzeit der Tarifverträge muss 12 Monate betragen.
- In einer gemeinsamen Initiative soll die Allgemeinverbindlichkelt der Entgelttarifverträge erreicht werden“.
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Nach Erfolglosigkeit der ersten Verhandlungen führte die Verfügungsbeklagte im Betrieb H-Stadt der Verfügungsklägerin ab 16.05.2023 Streiks durch, zunächst für einzelne Tage, seit dem 19.06.2023 durchgehend mit Ausnahme der Sonntage. Auf den Inhalt des „Aufrufs zum Streik“ wird Bezug genommen (Anlage AGS 4, Bl. 24 d.A.). Als nächster Verhandlungstermin der Tarifvertragsparteien ist der 18.07.2023 vorgesehen.
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Mit ihrem am 07.07.2023 beim Arbeitsgericht Nürnberg eingegangenen Antrag begehrt die Verfügungsklägerin die gerichtliche Untersagung der Streikmaßnahmen.
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Sie ist der Auffassung, der gemeinsame Antrag zur Erreichung einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung als rein öffentlich-rechtliche Voraussetzung nach § 5 TVG sei tariflich nicht regelbar, jedenfalls nicht erstreikbar. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung als Rechtssetzungsakt eigener Art diene nicht der Verbesserung der tariflichen Situation der Mitarbeiter der Verfügungsklägerin, zumal es derzeit noch kein Tarifwerk gebe, welches für allgemeinverbindlich erklärt werden könnte. Ohnehin wende sie die geltenden Tarifverträge auf alle ihre Arbeitnehmer ohne Rücksicht auf deren Gewerkschaftsmitgliedschaft an. Wenn es schon keinen Anspruch auf eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung gebe, müsse dies erst recht für den darauf gerichteten Antrag gelten. Der Normzweck des § 5 TVG verlange eine freie und unbeeinflusste Willensbekundung, welche eine Erzwingung durch Arbeitskampfmaßnahmen ausschließe. Aus der Rechtswidrigkeit auch nur eines Streikziels müsse die Untersagung des Streiks insgesamt folgen.
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Die Streiks seien im Übrigen unverhältnismäßig. Warnstreiks ohne Urabstimmung und ohne gescheiterte Verhandlungen von mittlerweile fast vierwöchiger Dauer seien mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht vereinbar. Tatsächlich handele es sich um einen „wilden“ Erzwingungsstreik, zumal auch die eigenen Satzungsbestimmungen und Arbeitskampfrichtlinien der Verfügungsbeklagten offensichtlich nicht eingehalten seien.
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Die wirtschaftlichen Nachteile für die Verfügungsklägerin seien erheblich und würden sich bei 123 Streiktagen auf insgesamt mindestens 8,1 Mio. Euro belaufen, je bestreiktem Lager und Tag auf durchschnittlich 66.000,- Euro. Zudem sei zu befürchten, dass die Kunden der A-Einzelhändler zu anderen Händlern abwandern würden.
- 1.
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Der Beklagten wird untersagt, ab sofort und für die Dauer der Gehaltstarifvertragsverhandlungen bezüglich des Gehaltstarifvertrages im Bayerischen Großhandel Arbeitnehmer der Klägerin im Betrieb H-Stadt, Hstraße, H-Stadt, zur Arbeitsniederlegung aufzufordern.
- 2.
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Der Verfügungsbeklagten/Beklagten wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die Unterlassungsverpflichtung gemäß vorstehender Ziffer 1 ein Ordnungsgeld bis zur Höhe von € 250.000,00, ersatzweise Ordnungshaft bis zu sechs Monaten angedroht.
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Die Verfügungsbeklagte beantragt,
die Klage abzuweisen, und trägt hierzu vor, die Tarifforderung der gemeinsamen Beantragung der Allgemeinverbindlichkeit sei ein zulässiges Tarif- und Streikziel. Grundsätzlich seien alle tarifvertraglich regelbaren Ziele auch erstreikbar, wobei eine Kontrolle der Tarifforderungen auf Angemessenheit nicht erfolge. Es handle sich vorliegend um eine zulässige schuldrechtliche Tarifnorm zur Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Rahmen von Art. 9 Abs. 3 GG. Der Antrag nach § 5 TVG betreffe die autonome Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien und könne im schuldrechtlichen Teil eines Tarifvertrags vereinbart werden. Dabei komme es für die Frage der Erstreikbarkeit nicht darauf an, ob die begehrte tarifliche Regelung aus dem normativen oder dem schuldrechtlichen Teil eines Tarifvertrags komme. Die negative Koalitionsfreiheit von außenstehenden Arbeitgebern stehe dem nicht entgegen.
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Im Übrigen würde selbst eine einzelne rechtswidrige Tarifforderung nicht den Streik insgesamt unzulässig machen. Dies folge aus Art. 11 EMRK und der Rechtsprechung des EGMR.
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Die Streikmaßnahmen seien auch nicht unverhältnismäßig, sondern angesichts des ausbleibenden Verhandlungserfolgs erforderlich. Wegen der zahlreichen erfolglosen Verhandlungsrunden sei der Streik auch Ultima Ratio. Ausreichend sei die nicht nachprüfbare Einschätzung einer Tarifvertragspartei, die Verhandlungsmöglichkeiten ohne Ausübung von Druck seien ausgeschöpft. Die Dauer der Streiks oder eine Ankündigungsfrist seien gerichtlich nicht überprüfbar. Im Übrigen trüge der Streik die Vermutung der Rechtmäßigkeit in sich und sei im Eilverfahren allenfalls bei – hier jedenfalls nicht gegebener – offensichtlicher Rechtswidrigkeit zu untersagen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 13.07.2023 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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A. Der Antrag ist zulässig. Die örtliche Zuständigkeit des Arbeitsgerichts Nürnberg folgt aus § 46 Abs. 2 ArbGG iVm. § 32 ZPO. Der Erlass einer einstweiligen Verfügung im Arbeitskampf ist nach allgemeiner Ansicht grundsätzlich statthaft (BAG 17.05.2011 – 1 AZR 473/09).
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B. Der Antrag ist teilweise begründet. Die Verfügungsklägerin hat einen Anspruch auf Untersagung der streitgegenständlichen Streikmaßnahme, jedoch nur soweit diese dem Streikziel dient, dass in einer gemeinsamen Initiative die Allgemeinverbindlichkeit der Entgelttarifverträge erreicht werden soll. Im Übrigen war der Antrag zurückzuweisen.
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I. Der Verfügungsanspruch besteht bei Arbeitskämpfen in Unterlassungs- und Handlungsansprüchen, die sich entweder aus der tarifvertraglichen Friedenspflicht, dem Recht auf Durchführung eines Arbeitskampfes aus Art. 9 Abs. 3 GG unter Berücksichtigung der durch die Rechtsprechung gezogenen Grenzen oder den Regelungen der §§ 823 Abs. 1 BGB und 1004 BGB (Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb) ergeben können.
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II. Danach ist der Antrag begründet, soweit er auf eine Untersagung des Streiks mit dem Ziel des gemeinsamen Antrags auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung nach § 5 TVG gerichtet ist.
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1. Der notwendige Verfügungsanspruch liegt insoweit vor. Die Verfügungsklägerin hat gem. § 1004 Abs. 1 i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB einen Anspruch darauf, dass der Streik mit dem Ziel eines gemeinsamen Antrags nach § 5 TVG untersagt wird.
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a) Das erkennende Gericht geht zunächst davon aus, dass der Erlass einer Unterlassungsverfügung gegen einen Arbeitskampf nicht nur bei dessen „offensichtlicher“ Rechtswidrigkeit in Betracht kommt (dafür ua.: ArbG Köln 06.06.2023 – 17 Ga 27/23; LAG Baden-Württemberg 03.08.2016 – 4 SaGa 2/16; LAG Sachsen 02.11.2007 – 7 SaGa 19/07; dagegen ua.: LAG Nürnberg 30.09.2010 – 5 Ta 135/10; LAG München 28.08.2007 – 5 Sa 735/07; Frieling/Jacobs/Krois, Arbeitskampfrecht, 1. Aufl. 2021, § 11 Rn. 34 ff.; offengelassen von BVerfG 07.04.2020 – 1 BvR 2674/15; weitere Nachweise zum Meinungsstand Höpfner/Schneck, RdA 2022, 206, 215 f.). Ein besonderes Recht der Einstweiligen Verfügung im Arbeitskampf ist nicht anzuerkennen. Vielmehr muss das Gericht, ebenso wie bei allen anderen einstweiligen Verfügungen, auch die Frage der Rechtswidrigkeit nach den allgemein gültigen Kriterien prüfen (Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG,10. Aufl. 2022, § 62 Rn. 113). Auch angesichts des summarischen Charakters des einstweiligen Verfügungsverfahrens und des beschränkten Instanzenzuges können schwierige und ungeklärte Rechtsfragen nicht ohne weiteres ungeprüft bleiben.
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b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze geht das Gericht davon aus, dass ein gemeinsamer Antrag nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG kein zulässiges Streikziel ist. Insoweit ist angesichts der Bekräftigung der Verfügungsbeklagten in der mündlichen Verhandlung zunächst anzunehmen, dass es sich tatsächlich um ein unmittelbares Streikziel handelt, auch wenn es in den Streikaufrufen nicht ausdrücklich aufgeführt ist.
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aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts können Arbeitskämpfe nur zur Durchsetzung tarifvertraglich regelbarer Ziele geführt werden. Dies folgt aus der Hilfsfunktion des Arbeitskampfes zur Sicherung der Tarifautonomie (BAG 10.12.2002 – 1 AZR 96/02 mwN.).
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bb) Sollte die Antragstellung nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG im schuldrechtlichen Teil eines Tarifvertrags vereinbart werden können, so ist sie jedenfalls nicht erstreikbar (in diese Richtung eines nicht zwingenden Gleichlaufs zwischen tariflicher Regelbarkeit und Erkämpfbarkeit BAG 14.02.1978 – 1 AZR 76/76, Rz. 27).
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(1) Das Streikziel eines Antrags nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG ist rechtswidrig, weil damit vom Arbeitgeberverband verlangt würde, von einem gesetzlich vorgesehenen Verfahren abzulassen und über den Antrag nicht mehr frei zu entscheiden (vgl. BAG 07.06.1988 – 1 AZR 372/86 zur Rücknahme eines Antrags nach § 103 BetrVG als unzulässigem Streikziel wegen der Forderung nach einem Ablassen von einem gesetzlich vorgesehenen Verfahren).
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Ausweislich der Gesetzesbegründung dient das Erfordernis des „gemeinsamen Antrags“ der tarifschließenden Parteien nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG dazu, „dass die Abstützung der tariflichen Ordnung aus Sicht sämtlicher Parteien des Tarifvertrages erforderlich erscheint“ (BT-Drs. 18/1558, 48). Daraus wird deutlich, dass es um eine zweiseitige Einschätzungsprärogative geht, deren Ausübung der Gesetzgeber als materielle Sachentscheidungsvoraussetzung für die Einleitung des Verfahrens über die Allgemeinverbindlichkeitserklärung ansieht, wobei das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von Amts wegen nicht tätig werden darf (Däubler/Lakies/Rödl, TVG, 5. Aufl. 2022, § 5 Rn. 81). Könnte diese Erklärung durch (insbesondere wirtschaftlichen) Druck im Wege von Arbeitskampfmaßnahmen gegenüber einem Mitgliedsunternehmen im Arbeitgeberverband herbeigeführt werden, wäre diesem Erfordernis nicht genügt.
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Dabei stellt das beiderseitige Antragserfordernis nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG der Sache nach ein Vetorecht dar, dessen eigenverantwortliche Ausübung durch einen Arbeitskampf nicht verhindert werden darf. Letztlich würde durch die zwangsweise Durchsetzung des Antrags nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG von einer Tarifvertragspartei verlangt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Anwendbarkeit des Tarifvertrags über die tarifschließenden Parteien hinaus zu erreichen und damit etwa auch für die eigenen OT-Mitglieder (Löwisch/Rieble, TVG, 4. Aufl. 2017, § 5 Rn. 258). Dabei kann die Allgemeinverbindlichkeitserklärung einschließlich des darauf gerichteten Antrags durchaus als Arbeits- und Wirtschaftsbedingung iSv. Art. 9 Abs. 3 GG gesehen werden, jedoch nicht als solche, welche das Verhältnis von bestreiktem Arbeitgeber und den bei diesem beschäftigten Arbeitnehmern betrifft.
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(2) Zu berücksichtigen ist dabei auch die gesetzgeberische Wertentscheidung, dass bislang nicht von Tarifverträgen erfasste Arbeitsverhältnisse grundsätzlich auf zwei Wegen der Tarifbindung unterworfen werden können: Einerseits durch einen erstmaligen Abschluss eines (Firmen-)Tarifvertrags, welcher auch durch Arbeitskampfmaßnahmen der organisierten Arbeitnehmer gegenüber dem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber erzwungen werden kann; andererseits im Wege der Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines bestehenden (und möglicherweise zuvor erstreikten) Tarifwerks nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG. Könnte der tarifgebundene Arbeitgeber mit dem Ziel bestreikt werden, die Voraussetzung für die Allgemeinverbindlichkeit herzustellen, würden diese beiden Ebenen – und damit der Adressat der Kampfmaßnahme sowie der eigentliche Kampfgegner – unzulässig vermengt werden.
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Dabei verkennt das erkennende Gericht nicht, dass das Bundesarbeitsgericht im Bereich der sog. Unterstützungsstreiks Arbeitskampfmaßnahmen grundsätzlich dem Schutz von Art. 9 Abs. 3 GG unterfallen lässt und nicht als von vornherein unzulässig erachtet, welche nicht unmittelbar auf (normative) Forderungen im Verhältnis zum bestreikten Arbeitgeber gerichtet sind. Die Einbeziehung von Personen, die von der eigentlichen Forderung nicht unmittelbar betroffen sind, ist dem Arbeitskampfrecht nicht fremd. Allerdings ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeit insbesondere die Nähe bzw. Ferne des Unterstützungsstreiks zu einem Hauptarbeitskampf zu beurteilen (BAG 19.06.2007 – 1 AZR 396/06, Frieling/Jacobs/Krois, aaO., § 4 Rn. 194 ff.).
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In diesem Sinne können die tariflich nicht organisierten Unternehmen und deren Arbeitnehmer als „Hauptbetroffene“ angesehen werden, zu deren (mittelbarer) Unterstützung der tarifgebundene Arbeitgeber bestreikt wird. Dabei fallen der eigentliche, auf die Abgabe des Antrags nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG in Anspruch genommene Verhandlungspartner und der eigentliche Kampfgegner – die nicht tarifgebundenen Arbeitgeber – auseinander. Allerdings entfernt sich damit das Kampfziel, die Wirkung eines zwischen den handelnden, von der Koalitionsfreiheit geschützten Tarifvertragsparteien bereits abgeschlossenen oder noch auszuhandelnden Tarifwerks auf Dritte auszuweiten, so weit vom Kampfadressaten, dass von einem rechtswidrigen Streikziel auszugehen ist.
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c) Die Rechtswidrigkeit des genannten Streikziels führt zur Rechtswidrigkeit des Arbeitskampfes (sog. „Rührei-Theorie“, BAG 26.07.2016 – 1 AZR 160/14, vgl. auch Frieling/Jacobs/Krois, aaO., § 4 Rn. 28 ff.). Für das Gericht ist es rechtlich und praktisch nicht möglich, die Bedeutung einer einzelnen Forderung im Verhältnis zu anderen Forderungen zu bewerten. Die Auswirkung einer bestimmten Forderung auf die Verhandlungsmacht kann allein von der Gewerkschaft selbst eingeschätzt werden. Dem steht auch nicht die Rechtsprechung des EGMR entgegen (EGMR 27.11.2014 – 36701/09; s. auch ArbG Stuttgart 09.06.2023 – 15 Ga 41/23). Mit dem BAG folgt aus den Vorgaben des EGMR nicht die Notwendigkeit, die „Illegitimität kampfweise durchzusetzender Forderungen bei der Bewertung der Rechtmäßigkeit eines Arbeitskampfes zu ignorieren“ (BAG 26.07.2016 – 1 AZR 160/14).
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d) Der Verfügungsanspruch ist hingegen nicht auf die Untersagung des Streiks insgesamt gerichtet, weshalb die Klage teilweise abzuweisen war. Insbesondere ist der Streik nicht schon aufgrund seiner Dauer, seines Charakters als Warnstreik und seiner wirtschaftlichen Auswirkungen als unverhältnismäßig und damit rechtswidrig anzusehen. Die Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen drückt hinreichend aus, dass die kampfführende Partei „die Verhandlungsmöglichkeiten ohne begleitende Arbeitskampfmaßnahmen als ausgeschöpft ansieht“ (BAG 21.06.1988 – 1 AZR 651/86). Dem Arbeitskampf steht nicht entgegen, dass ein er Verhandlungstermin vereinbart worden ist oder die Verhandlungen fortgesetzt werden (Frieling/Jacobs/Krois, aaO., § 4 Rn. 179). Außerhalb des Falls der gezielten Existenzvernichtung, für welche hier keine Anhaltspunkte bestehen, werden auch Dauer und wirtschaftliche Nachteile eines Streiks grundsätzlich nicht gerichtlich auf Angemessenheit überprüft (Frieling/Jacobs/Krois, aaO., § 4 Rn. 190 mwN.).
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Auch formelle Fragen wie die Durchführung einer Urabstimmung und die Einhaltung sonstiger (Satzungs-)Regelungen sind keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen des Arbeitskampfes, sondern verbandsinterne Maßnahmen ohne Außenwirkung (LAG Hessen 06.11.2019 – 16 SaGa 1304/19; Frieling/Jacobs/Krois, aaO., § 4 Rn. 185).
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e) Schließlich steht dem Verfügungsanspruch auch nicht entgegen, dass die Forderung nach einem Antrag gem. § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG auch schon in vergangenen Tarifrunden erhoben worden sein mag. Angesichts der komplexen und vielschichtigen Verhandlungssituation zwischen Tarifvertragsparteien ist es nicht als widersprüchlich zu beanstanden, ein als rechtswidrig angesehenes Streikziel nunmehr erstmalig geltend zu machen.
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2. Der notwendige Verfügungsgrund liegt vor.
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a) Notwendig ist hierfür, dass die Gefahr des endgültigen Rechtsverlustes besteht. Hier ist eine Interessenabwägung der beteiligten Parteien vorzunehmen, in die sämtliche in Betracht kommenden materiell-rechtlichen und vollstreckungsrechtlichen Erwägungen sowie die wirtschaftlichen Auswirkungen für beide Parteien einzubeziehen sind. Hierbei kann auch von Bedeutung sein, dass ein Schadenersatzanspruch gemäß § 945 ZPO bei einem Erfolg des Verfügungsgegners im Hauptprozess nicht in der Lage ist, die entstandenen Nachteile auszugleichen. Auch muss bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden, welchen Umfang die gestellten Anträge haben. Anträge, die den Arbeitskampf insgesamt verhindern sollen, greifen in die grundgesetzlich geschützten Rechtspositionen des Verfügungsgegners so stark ein, dass der Kernbereich des Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 GG gefährdet sein kann. Weniger stark wird eingegriffen, wenn lediglich die Rechtswidrigkeit einzelner Kampfhandlungen im Rahmen der einstweiligen Verfügung geltend gemacht wird (vgl. LAG Baden-Württemberg 24.02.2016 – 2 SaGa 1/15 mwN.).
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b) Diesen Anforderungen ist hier genügt. Die Verfügungsklägerin hat erhebliche wirtschaftliche Nachteile substantiiert dargelegt und glaubhaft gemacht, während der Verfügungsbeklagten lediglich Arbeitskampfmaßnahmen im Hinblick auf eines von mehreren Streikzielen untersagt werden.
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C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
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D. Der Streitwert wurde gemäß §§ 61 Abs. 1, 46 Abs. 2 ArbGG, 2, 3 ZPO festgesetzt. Er richtet sich nach dem wirtschaftlichen Interesse der Verfügungsklägerin am Abbruch des Warnstreiks, das in der mündlichen Verhandlung mit täglich 66.000,- Euro Verlust bezeichnet wurde. Für die Zeit zwischen der letzten mündlichen Verhandlung und dem derzeitig bezeichneten Ende des Warnstreiks ist daher bei zurückhaltender Schätzung eine wirtschaftliche Belastung von 200.000,- Euro angemessen und ausreichend.