Titel:
Rügelose Einlassung im Anwendungsbereich des Art. 24 LugÜ
Normenketten:
LuGÜ Art. 24
ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6, § 281 Abs. 2 S. 4
GG Art. 103 Abs. 1
Leitsätze:
Die durch wirksame Prozesshandlung in das Verfahren eingeführte ausdrückliche Erklärung der beklagten Partei, sich vor dem angerufenen Gericht rügelos einzulassen, führt im Anwendungsbereich des Art. 24 LugÜ II zur Zuständigkeit des angerufenen Gerichts, die einer Verweisung an das an sich zuständige Gericht entgegensteht. (Rn. 24)
Ein Verweisungsbeschluss ist ausnahmsweise dann nicht bindend, wenn das verweisende Gericht die rügelose Einlassung des Beklagten nicht zur Kenntnis genommen hat. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Gerichtsstandsbestimmung, Kompetenzkonflikt, rügelose Einlassung, Bindung, Willkür, rechtliches Gehör, Luganer Übereinkommen
Fundstellen:
LSK 2023, 2166
BeckRS 2023, 2166
EuZW 2023, 629
Tenor
Örtlich zuständig ist das Amtsgericht München.
Gründe
1
Mit seiner zum Amtsgericht München eingereichten Klage verlangt der Kläger aus eigenem und abgetretenem Recht von der Beklagten, einer Aktiengesellschaft mit Hauptsitz in G., Zahlung eines Betrags in Höhe von 4.636,00 € zuzüglich Zinsen und vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten. Zur Begründung trägt er vor: Er habe bei der Beklagten für sich und drei weitere Personen eine Kreuzfahrt für den Zeitraum vom 9. bis 26. März 2020 gebucht und das hierfür vereinbarte Entgelt bezahlt. Wegen erheblicher Leistungseinschränkungen bei der Durchführung der zudem vorzeitig abgebrochenen Reise habe die Beklagte Gutscheine über 1.159,00 € pro Person mit einer Gültigkeitsdauer bis Dezember 2021 erteilt. Nachdem die Beklagte die bei ihr sodann gebuchte Kreuzfahrt, für die die Gutscheine eingesetzt worden seien, storniert habe, habe sie lediglich den Aufpreis erstattet, trotz mehrfacher Mahnungen und Fristsetzungen jedoch nicht den Wert der Gutscheine in Höhe von insgesamt 4.636,00 €.
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Der Kläger und zwei Zedenten sind im Bezirk des Amtsgerichts Nauen, der weitere Zedent ist im Bezirk des Amtsgerichts Charlottenburg wohnhaft.
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Mit Verfügung vom 27. September 2022 ordnete das Amtsgericht die Durchführung eines schriftlichen Vorverfahrens an und wies auf seine örtliche Unzuständigkeit hin. Die Zuständigkeit bestimme sich nach dem Luganer Übereinkommen 2007. Gemäß Art. 16 Abs. 1 des Übereinkommens könne ein Verbraucher am Ort seines Wohnsitzes („hier: Landshut“) Klage gegen den Vertragspartner erheben. Das hiesige Gericht werde jedoch nach Art. 24 des Übereinkommens zuständig, wenn sich die Beklagte zur Sache einlasse, ohne die Unzuständigkeit geltend zu machen. Das Amtsgericht gab Gelegenheit zur Stellungnahme und fragte an, ob der Kläger Verweisungsantrag stelle.
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Nach Klagezustellung am 30. September 2022 zeigte die Beklagte mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 4. Oktober 2022 an, sie wolle sich gegen die Klage verteidigen und lasse sich vor dem Amtsgericht München rügelos ein.
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Nachdem der Kläger auf seinen Wohnsitz hingewiesen und einen Verweisungsantrag an das Amtsgericht Nauen angekündigt hatte, teilte das Gericht mit Verfügung vom 10. Oktober 2022 mit, eine rügelose Einlassung liege bislang nicht vor und eine Verweisung auf Antrag sei noch möglich. Daraufhin beantragte der Kläger mit Schriftsatz vom 11. Oktober 2022 Verweisung an das Amtsgericht Nauen. Die Beklagte erklärte mit Schriftsatz ebenfalls vom 11. Oktober 2022, sie beantrage, die Klage kostenpflichtig abzuweisen; die Begründung erfolge innerhalb der Klageerwiderungsfrist in einem gesonderten Schriftsatz; sie lasse sich rügelos vor dem Amtsgericht München ein.
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Mit Beschluss vom 12. Oktober 2022 erklärte sich das Amtsgericht München für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das Amtsgericht Nauen. Für den Rechtsstreit sei gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. c), Art. 16 Abs. 1 Luganer Übereinkommen das Gericht am Wohnsitz des Verbrauchers örtlich zuständig; es sei gerichtsbekannt, dass die Beklagte ihre Tätigkeit auf den Wohnsitzmitgliedstaat des (klagenden) Verbrauchers ausrichte. Eine rügelose Einlassung sei nach der maßgeblichen lex fori noch nicht erfolgt. Als Einlassung sei jedes Verteidigungsvorbringen zu werten, das unmittelbar auf die Abweisung der Klage ziele und erfolge, ohne zugleich „die fehlende internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts“ zu rügen. Keine rügelose Einlassung stellten Handlungen dar, die eine Verteidigung gegen die Klage nur vorbereiteten oder ihr vorgelagert seien, so etwa die Anzeige der Verteidigungsbereitschaft.
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Die Beklagte äußerte gegenüber dem Amtsgericht Nauen, sie halte die Verweisung für nicht wirksam. Da sie bereits einen Antrag auf Klageabweisung „gestellt“ habe, habe sie sich rügelos eingelassen.
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Mit Beschluss vom 6. Dezember 2022 lehnte das Amtsgericht Nauen die Übernahme des Rechtsstreits ab und legte die Sache dem Bayerischen Obersten Landesgericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vor. Das Amtsgericht Nauen sei unzuständig. Der Verweisungsbeschluss missachte den Akteninhalt und binde wegen Willkür nicht, denn die Beklagte habe in zwei Schriftsätzen erklärt, sich vor dem Amtsgericht München rügelos einzulassen, und sich jedenfalls mit ihrem Schriftsatz vom 11. Oktober 2022 auch tatsächlich rügelos eingelassen.
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Die Parteien haben im Bestimmungsverfahren Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Die Beklagte hat ihre Ansicht wiederholt, wonach sie sich bereits bei dem Amtsgericht München rügelos auf das Verfahren eingelassen habe. Der Kläger hat sich nicht geäußert.
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Auf die zulässige Vorlage ist auszusprechen, dass das Amtsgericht München für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits örtlich zuständig ist.
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1. Die Voraussetzungen für die Bestimmung der (örtlichen) Zuständigkeit gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO durch das Bayerische Oberste Landesgericht liegen vor.
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Das Amtsgericht München hat sich nach Rechtshängigkeit der Streitsache durch unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 12. Oktober 2022 für örtlich unzuständig erklärt, das Amtsgericht Nauen durch die zuständigkeitsverneinende Entscheidung vom 6. Dezember 2022. Beide Beschlüsse sind den Parteien bekanntgegeben worden. Die jeweils ausdrücklich ausgesprochene Leugnung der eigenen Zuständigkeit erfüllt das Tatbestandsmerkmal „rechtskräftig“ im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 15. August 2017, X ARZ 204/17, NJW-RR 2017, 1213 Rn. 12 m. w. N.; Schultzky in Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 36 Rn. 34 f. m. w. N.).
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Die Bestimmung des zuständigen Gerichts obliegt gemäß § 36 Abs. 2 ZPO i.V. m. § 9 EGZPO dem Bayerischen Obersten Landesgericht, weil das im Instanzenzug nächsthöhere gemeinschaftliche Gericht über den in unterschiedlichen Landgerichtsbezirken gelegenen Amtsgerichten in der hier vorliegenden bürgerlichen Rechtsstreitigkeit der Bundesgerichtshof ist (vgl. BayObLG, Beschluss vom 24. September 2019, 1 AR 83/19, juris Rn. 6 m. w. N.). An dessen Stelle entscheidet das Bayerische Oberste Landesgericht, da das mit der Sache zuerst befasste Gericht in Bayern liegt.
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2. Örtlich zuständig zur Entscheidung über das Klagebegehren ist das Amtsgericht München, weil dessen Zuständigkeit durch die Prozesserklärungen der Beklagten, sich vor diesem Gericht rügelos einzulassen, zuständig geworden ist und der Verweisungsbeschluss wegen Verletzung rechtlichen Gehörs keine Bindungswirkung entfaltet.
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a) Im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO ist der Kompetenzstreit in der Weise zu entscheiden, dass das für den Rechtsstreit tatsächlich zuständige Gericht bestimmt wird; eine Auswahlmöglichkeit oder ein Ermessen bestehen nicht (BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 1970, 2 BvR 48/70, BVerfGE 29, 45 [49, juris Rn. 19]; BGH, Beschluss vom 14. Februar 1995, X ARZ 35/95, juris Rn. 3; BayObLG, Beschluss vom 15. September 2020, 101 AR 101/20, juris Rn. 21; Roth in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 36 Rn. 47).
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Bei der Entscheidung sind nicht nur die gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen, sondern auch verfahrensrechtliche Bindungswirkungen zu beachten (BayObLG, Beschluss vom 13. September 1999, 4Z AR 27/99, NJW-RR 2000, 1734 [juris Rn. 16]; OLG Stuttgart, Beschluss vom 30. Januar 2019, 15 AR 2/19, FamRZ 2019, 1941 [juris Rn. 7]; Schultzky in Zöller, ZPO, § 36 Rn. 38; Toussaint in BeckOK ZPO, 47. Ed. Stand: 1. Dezember 2022, § 36 Rn. 43).
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b) Die Zuständigkeit des Amtsgerichts München ist durch die Prozesserklärung der Beklagten, sich bei diesem Gericht auf den Rechtsstreit rügelos einzulassen, begründet worden.
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aa) Allerdings ist nicht ersichtlich, dass nach den Bestimmungen des auf den Streitfall anwendbaren Luganer Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007 (LugÜ II) eine anfängliche (internationale und örtliche) Zuständigkeit des Amtsgerichts München bestanden hätte.
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Die Gerichtsstandsklausel in Ziffer 17.2 der von der Beklagten gestellten Allgemeinen Geschäftsbedingungen, wonach Klagen gegen die beklagte Veranstalterin bei dem für den Sitz ihrer Zustellungsbevollmächtigten in München örtlich und sachlich zuständigen Gericht zu erheben sind, „sofern keine zwingenden gesetzlichen Vorschriften oder internationale Übereinkommen etwas anderes vorschreiben“, ist nach dem in Ziffer 17.1 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbarten materiellen deutschen Recht wegen des salvatorischen Zusatzes unwirksam (vgl. BayObLG, Beschluss vom 26. Oktober 2021, 101 AR 148/21, MDR 2022, 86 [juris Rn. 30]); auf die Beschränkungen, denen Gerichtsstandsvereinbarungen in Verbrauchersachen gemäß Art. 17 Nr. 2 LugÜ II unterworfen sind, kommt es deshalb nicht mehr an.
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Dafür, dass am Sitz der Zustellungsbevollmächtigten in München der Gerichtsstand der Niederlassung nach Art. 5 Nr. 5 LugÜ II für den vorliegenden Rechtsstreit eröffnet sein könnte, fehlt es an Anhaltspunkten im Klägervortrag, zumal die Buchungen nach den vorgelegten Reiseunterlagen und vorgerichtlichen Schreiben über das Internet unter Vermittlung eines im Bezirk des Amtsgerichts Altötting sowie eines im Bezirk des Amtsgerichts Spandau ansässigen Reisebüros vollzogen worden sein dürften.
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Ein inländischer Verbrauchergerichtsstand nach Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 LugÜ II liegt jedenfalls nicht in München. Da der Kläger im Bezirk des Amtsgerichts Nauen wohnt, war bei diesem Gericht nach der genannten Vorschrift die internationale und örtliche Zuständigkeit für die Klage eröffnet, soweit sie auf ein eigenes Recht des Klägers gestützt wird. Ob bei dem Amtsgericht Nauen eine Zuständigkeit für den gesamten Rechtsstreit, also auch für die abgetretenen Ansprüche und insbesondere für den zedierten Anspruch des im Bezirk des Amtsgerichts Charlottenburg wohnhaften Verbrauchers, eröffnet war, ist zwar mit Blick auf die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 25. Januar 2018, C-498/16 – Schrems ./. Facebook Ireland Ltd. (NJW 2018, 1003 Rn. 44 – 49) fraglich, denn auf den besonderen Verbrauchergerichtsstand an seinem Wohnort kann sich der Kläger insoweit nicht berufen; gleichermaßen fraglich erscheint danach, ob für die Klage aus abgetretenem Recht überhaupt eine internationale Zuständigkeit in Deutschland bestanden hat. Eine Zuständigkeit des Amtsgerichts München kommt aber jedenfalls insoweit nicht in Betracht.
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bb) Die Erklärungen der Beklagten, sie lasse sich auf das Verfahren vor dem Amtsgericht München ein, haben gemäß Art. 24 LugÜ II die örtliche und hinsichtlich der zedierten Ansprüche gegebenenfalls auch die internationale Zuständigkeit dieses Gerichts bewirkt.
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(1) Art. 24 LugÜ II ist in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden auf die örtliche Zuständigkeit und hinsichtlich der zedierten Ansprüche gegebenenfalls auch auf die internationale Zuständigkeit anwendbar.
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Da die Klage keine Rechtsstreitigkeit betrifft, für die nach Art. 22 LugÜ II eine ausschließliche Zuständigkeit besteht, wird nach Art. 24 LugÜ II das konkret angerufene Gericht des Mitgliedstaats durch rügelose Einlassung der beklagten Partei international und örtlich zuständig, sofern seine Zuständigkeit nicht bereits nach anderen Normen gegeben ist (vgl. auch BayObLG, Beschluss vom 6. Februar 2023, 101 AR 141/22 – zu Art. 26 Brüssel-Ia-VO, juris Rn. 22 ff.).
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Eine Zuständigkeitsbegründung kraft rügeloser Einlassung nach Art. 24 LugÜ II kann auch die dem Schutz der typischerweise schwächeren Vertragspartei dienenden Zuständigkeitsvorschriften des Titels II Abschnitt 4 LugÜ II verdrängen (vgl. EuGH, Urt. v. 20. Mai 2010, C-111/09 – ČPP Vienna Insurance Group ./. Bilas, IPRax 2011, 580 Rn. 30 in Bezug auf die Bestimmungen des Titels II Abschnitt 3 der Brüssel-I-VO; E. Peiffer/M. Peiffer in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Werksstand: Mai 2022, VO [EG] 1215/2012 Art. 26 Rn. 9 zur entsprechenden Bestimmung der Brüssel-Ia-VO).
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(2) Im Anwendungsbereich des Art. 24 LugÜ II ist für die nationalen Vorschriften zur rügelosen Einlassung kein Raum (vgl. BGH, Urt. v. 14. Juli 2015, VI ZR 463/14, WM 2015, 2112 Rn. 19; Beschluss vom 27. Juni 2007, X ZR 15/05, BGHZ 173, 40 [juris Rn. 16] – zu Art. 18 LugÜ I; Gottwald in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2022, Brüssel Ia-VO Art. 26 Rn. 5).
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(3) Bereits aus dem Wortlaut des Art. 24 Satz 1 LugÜ II ergibt sich, dass eine – autonom ohne Rückgriff auf Begriffsbildungen in den nationalen Rechtsordnungen auszulegende – Einlassung im Sinne dieser Bestimmung nicht zwingend eine Stellungnahme zur Hauptsache voraussetzt. Im Gegensatz zu § 39 ZPO genügt eine Einlassung auf das Verfahren, also eine Teilnahme der beklagten Partei am Verfahren durch eine unmittelbar auf Klageabweisung gerichtete Verteidigungshandlung ohne gleichzeitige oder zeitlich vorgelagerte Rüge der gerichtlichen Zuständigkeit (vgl. auch EuGH, Urt. v. 11. April 2019, C-464/18 – Ryanair, IPRax 2020, 560 Rn. 38 ff.; BGH, Urt. v. 19. Mai 2015, XI ZR 27/14, NJW 2015, 2667 Rn. 17; Urt. v. 31. Mai 2011, VI ZR 154/10, BGHZ 190, 28 Rn. 35; KG, Urt. v. 21. Oktober 2011, 5 U 56/10, juris Rn. 26 f.; E. Pfeiffer/M. Pfeiffer in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, VO [EG] 1215/2012 Art. 26 Rn. 21; Schlosser in Schlosser/Heß, Europäisches Zivilprozessrecht, 5. Aufl. 2021, Brüssel Ia-VO Art. 26 Rn. 2; Stürner GPR 2013, 305 ). Solche Prozesshandlungen können als stillschweigende Anerkennung der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts betrachtet werden (vgl. EuGH, Urt. v. 11. September 2014, C-112/13 – A ./. B u. a., EuZW 2014, 950 Rn. 53 – zu Art. 24 Satz 1 Brüssel-I-VO) und schließen daher eine spätere Rüge der Unzuständigkeit aus.
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Erst recht ist die ausdrücklich rügelose Einlassung im Sinne einer ausdrücklichen Unterwerfung unter die Entscheidungszuständigkeit des angerufenen Gerichts durch wirksame Prozesshandlung möglich; sie bewirkt die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts (Weller in Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl. 2022, Brüssel Ia VO Art. 26 Rn. 5; Staudinger in Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, 5. Aufl. 2021, Art. 26 Brüssel Ia-VO Rn. 4; Geimer in Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 4. Aufl. 2020, EuGVVO Art. 26 Rn. 3; ebenso zu einem a priori erklärten Verzicht auf die Rüge der Unzuständigkeit: Geimer in Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, EuGVVO Art. 26 Rn. 1; von Hein in Kropholler/ von Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl. 2011, EuGVO Art. 24 Rn. 14).
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Auch wenn dies im Wortlaut des Art. 24 LugÜ II nicht explizit zum Ausdruck kommt, liegt die Richtigkeit dieses Normverständnisses aufgrund Erst-Recht-Schlusses im Sinne eines „acte clair“ auf der Hand, weshalb sich klärungsbedürftige Fragen zum richtigen Verständnis von Unionsrecht nicht stellen und eine Anfrage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV nicht erforderlich ist.
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Im vorliegenden Rechtsstreit hat die Beklagte nicht nur ihre Verteidigungsbereitschaft erklärt, im schriftlichen Vorverfahren einen inhaltlich nicht näher begründeten Klageabweisungsantrag kundgetan und ihre Klageerwiderung innerhalb der im schriftlichen Vorverfahren gesetzten Frist angekündigt, was für sich genommen eine Zuständigkeit kraft rügeloser Einlassung nicht begründet hätte, denn damit hat die Beklagte lediglich notwendige Schritte unternommen, um sich alle Verteidigungsmöglichkeiten zu erhalten (vgl. auch KG, Beschluss vom 21. März 2019, 22 U 209/16, juris Rn. 2 und Beschluss vom 14. Januar 2019, 22 U 209/16, juris Rn. 3). Sie hat vielmehr außerdem eine Prozesserklärung des Inhalts abgegeben, sich auf das Verfahren vor dem Amtsgericht München einzulassen. Vor dem Hintergrund des zuvor ergangenen Hinweises auf die Unzuständigkeit des Gerichts und der Anfrage an die Klagepartei, ob Verweisung beantragt werde, ist diese Erklärung, zumal sie auf den gerichtlichen Hinweis vom 10. Oktober 2022 ausdrücklich wiederholt wurde, zweifelsfrei als explizit erklärte Anerkennung der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts und Unterwerfung unter dessen Entscheidungsgewalt zu verstehen, denn Ziel und Zweck der Erklärung bestanden offensichtlich darin, durch verbindliche Prozesshandlung die Zuständigkeit des Gerichts zu begründen und in der Folge eine Entscheidung durch das vom Kläger angerufene Gericht zu erreichen.
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Vor diesem Hintergrund beinhaltet die ausdrückliche Erklärung, sich auf das Verfahren vor dem angerufenen Gericht einzulassen, zugleich einen Verzicht auf die Rüge der Unzuständigkeit.
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Da eine Zustimmung zur Unterwerfungserklärung durch die klagende Partei, die das Gericht angerufen hat, nicht erforderlich ist (Geimer in Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, EuGVVO Art. 26 Rn. 1), steht der Verweisungsantrag vom 11. Oktober 2022 der Zuständigkeitsbegründung nach Art. 24 LugÜ II nicht entgegen.
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c) Die auf Art. 24 LugÜ II beruhende Zuständigkeit des Amtsgerichts München ist nicht durch die Verweisung des Rechtsstreits an das Amtsgericht Nauen entfallen, weil der Verweisungsbeschluss vom 12. Oktober 2022 ausnahmsweise nicht bindet.
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aa) Die in § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO angeordnete Bindungswirkung von Verweisungsbeschlüssen tritt dann nicht ein, wenn die Verweisung schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen anzusehen ist, etwa weil der Beschluss unter Versagung des rechtlichen Gehörs zustande gekommen oder nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen worden ist oder weil er jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als objektiv willkürlich betrachtet werden muss (st. Rspr.; BGH NJW-RR 2017, 1213 Rn. 15; Beschluss vom 9. Juni 2015, X ARZ 115/15, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 9; Beschluss vom 10. September 2002, X ARZ 217/02, NJW 2002, 3634 [juris Rn. 13 f.]; Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 16).
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bb) Ein solcher Fall liegt hier vor, weil die Verweisung unter Verletzung rechtlichen Gehörs ergangen ist.
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Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, die tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen. In einem rechtsstaatlichen Verfahren muss jeder Verfahrensbeteiligte die Möglichkeit haben, seine Rechte wirksam wahrzunehmen. Dies setzt voraus, dass das Gericht das tatsächliche und rechtliche Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis nimmt und auf seine sachlichrechtliche und verfahrensrechtliche Entscheidungserheblichkeit prüft (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juni 2007, X ZR 15/05, BGHZ 173, 40 Rn. 7). Art. 103 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn im Einzelfall deutlich wird, dass Vorbringen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (st. Rspr.; BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992, 1 BvR 986/91, BVerfGE 86, 133 [145 f., juris Rn. 39]; Beschluss vom 8. Oktober 1985, 1 BvR 33/83, BVerfGE 70, 288 [293, juris Rn. 16]; Beschluss vom 22. November 1983, 2 BvR 399/81, BVerfGE 65, 293 [295, juris Rn. 11]). Ein Schweigen zu den wesentlichen Tatsachen- oder Rechtsausführungen, die den Kern des Parteivorbringens darstellen und eindeutig von entscheidender Bedeutung sind, lässt den Schluss zu, dass der Vortrag der Prozesspartei nicht oder zumindest nicht hinreichend beachtet worden ist (st. Rspr.; BVerfG, Beschluss vom 20. Mai 2022, 2 BvR 1982/20, juris Rn. 41; BGH, Beschluss vom 12. Oktober 2021, VIII ZR 91/20, NJW-RR 2022, 86 Rn. 15; Beschluss vom 11. Mai 2021, VI ZR 1206/20, juris Rn. 13). Damit gleichzusetzen ist es, wenn die Begründung der Entscheidung den Schluss zulässt, dass sie auf einer nur den äußeren Wortlaut, aber nicht den Sinn des Parteivortrags erfassenden Wahrnehmung beruht (BGH, Beschluss vom 13. April 2021, VI ZR 493/19, NJW 2021, 1886 Rn. 8; Beschluss vom 21. Januar 2020, VI ZR 165/19, NJW 2020, 934 Rn. 7 m. w. N.).
37
Den verfassungsrechtlichen Anforderungen wird der Verweisungsbeschluss nicht gerecht. Das Amtsgericht hat allein darauf abgestellt, dass noch kein Verteidigungsvorbringen der Beklagten vorliege, das als Einlassung auf das Verfahren gewertet werden könne. Die Prozesserklärungen vom 4. und 11. Oktober 2022 aber, mit denen die Beklagte explizit geäußert hat, sich auf das Verfahren vor dem Amtsgericht München einzulassen, hat das Gericht weder erwähnt noch einer erkennbaren rechtlichen Würdigung unterzogen. Dies lässt angesichts der eindeutigen Entscheidungsrelevanz der Prozesserklärungen und des Umstands, dass diese Erklärungen angesichts der anstehenden Entscheidung über eine Verweisung des Rechtsstreits den Kern des Beklagtenvorbringens darstellten, nur den Schluss zu, dass das Gericht den Sinn des Vorbringens verkannt und die Prozesserklärungen der Beklagten bei seiner Entscheidung unbeachtet gelassen hat.
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Die Verletzung des in Art. 103 Abs. 1 GG verankerten Gebots stellt einen so schwerwiegenden Mangel des Verweisungsbeschlusses dar, dass ihm die Bindungswirkung im Verfahren der Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO abzuerkennen ist (BGH, Beschluss vom 15. März 1978, IV ARZ 17/78, BGHZ 71, 69 [72 f., juris Rn. 4]; BayObLG, Beschluss vom 17. Oktober 2022, 101 AR 80/22, NJW-RR 2023, 68 [juris Rn. 18]).