Inhalt

VG Bayreuth, Urteil v. 22.05.2023 – B 7 K 22.30094
Titel:

Erfolglose Asylklage einer unverheirateten, kinderlosen Frau aus Eritrea

Normenketten:
GG Art. 16a
AsylG § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 5, § 4 Abs. 1, § 26
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Anerkennungs-RL Erwägungsgrund 35
Leitsätze:
1. Gem. Erwägungsgrund 35 der QLR (RL 2011/95/EU) stellen  Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre, weshalb nur in extremen Ausnahmefällen und nur bei konkretem Risiko für den Betroffenen nach den Umständen des Einzelfalls von einer weit verbreiteten, allgemeinen Gefahr auf eine unmenschliche Behandlung dieser Person iSd Art. 3 EMRK und § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG geschlossen werden kann. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die drohende Einziehung zum (zivilen) Nationaldienst an sich begründet noch nicht die konkrete Gefahr einer unmenschlichen Behandlung. (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Eritrea, Vollablehnung, Heranziehung zum Nationaldienst, Illegale Ausreise, FGM, Möglichkeit einer Beschneidung, Flüchtlingseigenschaft (verneint), Subsidiärer Schutzstatus (verneint), Ziviler Bereich des eritreischen Nationaldienstes, Schulabbrecherin, Extremer Ausnahmefall (verneint), Gefahrenerhöhende Umstände (verneint), Volljährige, unverheiratete, kinderlose Frau, Abschiebungsverbote (verneint), Asylklage, Frau, unverheiratet, Diaspora Status, Nationaldienst, Wehrdienstentziehung, illegale Ausreise, Regimegegner, Beschneidung, REAG-/GARP-Programm, Starthilfe, Rückkehrhilfe
Fundstelle:
BeckRS 2023, 21650

Tenor

1. Soweit die Beteiligten das Verwaltungsstreitverfahren übereinstimmend für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
4. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.  

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 26.01.2022 und begehrt die Anerkennung von Asyl und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus bzw. die Feststellung, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
2
1. Die Klägerin ist eritreische Staatsangehörige von der Volksgruppe der Tigrinya und christlich-orthodoxen Glaubens. Sie reiste im Familiennachzug von A* … am 24.02.2021 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 08.03.2021 einen Asylantrag, den sie nicht auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkte.
3
Am 09.06.2021 erfolgte ihre persönliche Anhörung beim Bundesamt. Dort gab die Klägerin im Wesentlichen an, dass sie Eritrea Ende 2017 als Minderjährige verlassen habe. Sie habe sich nach ihrer Ausreise aus Eritrea mit ihrer Familie in Äthiopien aufgehalten und dort bei der deutschen Botschaft Familiennachzug zu ihrem Vater nach Deutschland beantragt. In Eritrea habe die Klägerin keine persönliche Bedrohung erlebt. Bei einer Rückkehr nach Eritrea fürchte sie, zum Nationaldienst zu müssen. Wäre sie in Eritrea geblieben, hätte sie nach einem Jahr dann auch den Nationaldienst ableisten müssen. Deshalb habe sie auch Eritrea gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren drei jüngeren Schwestern verlassen. Sie befürchte bei einer Rückkehr zudem ihre Beschneidung. Die Klägerin wisse aber nicht, von wem eine konkrete Bedrohung hinsichtlich einer Beschneidung ausgehen würde. Sie vermute, dass dies dann die älteren entfernteren Mitglieder ihrer Familie, die noch in Eritrea seien, vielleicht verlangen würden.
4
Das Bundesamt hat dem Vater der Klägerin, der sich seit 2014 in der Bundesrepublik Deutschland befindet, am 20.07.2016 den Flüchtlingsstatus zuerkannt (dortiges Az.: …).
5
Das Bundesamt hat mit Bescheid vom 26.01.2022 folgende Entscheidung getroffen:
1. Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt.
2. Der Antrag auf Asylanerkennung wird abgelehnt.
3. Der subsidiäre Schutzstatus wird nicht zuerkannt.
4. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes liegen nicht vor.
5. Die Antragstellerin wird aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen; im Falle einer Klageerhebung endet die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Sollte die Antragstellerin die Ausreisefrist nicht einhalten, wird sie nach Eritrea abgeschoben. Die Antragstellerin kann auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den sie einreisen darf oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist. Die durch die Bekanntgabe dieser Entscheidung in Lauf gesetzte Ausreisefrist wird bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt.
6. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes angeordnet und auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
6
Die Beklagte hat den Bescheid im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Furcht der Klägerin, zum Nationaldienst einberufen zu werden und ihre Flucht davor, um diesen nicht weiter ableisten zu müssen, führe nicht zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft. Eritreer, die ihr Heimatland verlassen hätten, bevor sie von den Behörden aufgefordert worden seien, sich wegen der Registrierung zum Nationaldienst bei den entsprechenden Behörden zu melden bzw. die noch nicht ihren Einberufungsbefehl erhalten hätten, würden bereits den eritreischen Bestrafungstatbestand im Falle der Desertion nicht erfüllen, sodass sie schon unter diesem Aspekt keine asyl- oder flüchtlingsschutzrelevanten Maßnahmen befürchten müssten. Zudem knüpften weder die Entziehung vom Nationaldienst noch Desertion an ein flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal an. Gegen eine generelle politische Verfolgung aller Personen, die Eritrea illegal verlassen haben, spreche auch der derzeitige Umgang der eritreischen Regierung mit freiwilligen – zumindest vorübergehenden – Rückkehrern. Die Klägerin habe angegeben, bis zu ihrer Ausreise von Seiten der eritreischen Behörden keine Aufforderung zur Ableistung des Militärdienstes erhalten zu haben. Darauf wäre eine zu stützende individuelle und konkrete Bedrohungslage der Klägerin für die Zukunft nicht abzuleiten. Eine illegale Ausreise begründe noch nicht die Annahme einer staatlichen Verfolgung. Die Klägerin könne sich auch nicht auf eine drohende Genitalverstümmelung berufen, zumal ihre Angaben von einer diesbezüglich konkret drohenden Gefahr nicht überzeugten.
7
Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor. Eine Gefährdungslage sei nur für Eritreer anzunehmen, die sich im Ausland oppositionell bzw. regimekritisch betätigt hätten oder für Menschenrechtsorganisationen aktiv gewesen seien bzw. sich, abgesehen von Dienstverweigerung oder Desertion, vor der Ausreise in den Augen der Regierung etwas zu Schulden hätten kommen lassen. Eine menschenrechtswidrige Behandlung könne auch nicht allein aus dem Umstand abgeleitet werden, dass der Nationaldienst in Eritrea oft über Jahre andauere. Es könne während des eritreischen Nationaldienstes zwar bei Vorliegen von Verfehlungen zu körperlichen Strafen kommen, die aber nicht die für § 4 AsylG schutzrelevante Schwelle erreichten.
8
Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. In Eritrea herrschten keine sehr schlechten humanitären Bedingungen. Die Klägerin habe zudem keine individuellen Gefahren geltend gemacht, die die Voraussetzungen des Art. 3 EMRK erfüllen würden. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin als gesunde und arbeitsfähige Frau, gegebenenfalls auch durch ungelernte Hilfstätigkeiten, sich im Herkunftsland eine das Existenzminimum für sich sichernde Lebensgrundlage selbst erwirtschaften könne. Eine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde, habe die Klägerin weder vorgetragen noch ist diese anderweitig ersichtlich.
9
Laut Zustellungsurkunde ist das Datum der Zustellung des Bescheids vom 26.01.2022 der 28.01.2022.
10
2. Die Klägerin hat durch ihren Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 08.02.2022 Klage erhoben und beantragt,
I. die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26.01.2022 zu verpflichten, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen und ihr die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 I AsylG zuzuerkennen;
II. hilfsweise der Klägerin subsidiären Schutz im Sinne des § 4 AsylG zuzuerkennen;
III. weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 V, VII 1 AufenthG vorliegen.
11
Das Bundesamt hat für die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen und sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung bezogen.
12
Das Gericht hat mit Schriftsatz vom 12.10.2022 das Bundesamt angefragt, wie sich die „neue Entscheidungspraxis“ des Bundesamts in Widerrufsangelegenheiten (Widerrufsgrund: Möglichkeit, den Diaspora-Status zu erlangen) auf die hiesige Konstellation und das konkrete Verfahren der Klägerin auswirke. Das Bundesamt hat mit Schriftsatz vom 17.10.2022 mitgeteilt, dass der (hilfsweise) Verweis auf den „Diaspora-Status“ für die streitgegenständliche Entscheidung nicht entscheidungstragend gewesen sei und daher keine Auswirkungen auf die streitgegenständliche Entscheidung habe.
13
Mit Beschluss vom 31.03.2023 hat das Gericht den Verwaltungsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
14
Mit Schriftsatz vom 08.05.2023 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Klage begründet. Der Argumentation der Beklagten mit dem „Diaspora-Status“ sei entgegenzuhalten, dass die Beklagte an dieser Argumentation (auch in anderen Verfahren) nicht mehr festhalte. Zudem sei der Klägerin die Unterzeichnung eines Reueformulars nicht zumutbar. Die Erfüllung der Bedingungen für den „Diaspora-Status“ seien keine Garantie gegen Verfolgung bei einer Rückkehr nach Eritrea. Die Klägerin könne sich auch auf eine drohende Genitalverstümmelung berufen. In Eritrea sei die Verbreitung weiblicher Genitalverstümmelung sehr hoch. Insgesamt seien 83 Prozent der Mädchen und Frauen (15 bis 49 Jahre) betroffen. Die Klägerin sei volljährig und somit verpflichtet, den Nationaldienst anzutreten bzw. nachzuholen. Da Dienstpflichtige dem Risiko unmenschlicher und erniedrigender Behandlung ausgesetzt seien, sei der Klägerin der subsidiäre Schutz zu gewähren. Hierzu hat der Prozessbevollmächtigte auf einen Bericht des Sonderberichterstatters für die Lage der Menschenrechte in Eritrea vom 06.05.2022 verwiesen. Nach der bestehenden Erkenntnislage bestehe eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes von sexuellen Übergriffen betroffen seien. Vor diesem Hintergrund sei der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen. Hierzu hat der Prozessbevollmächtigte auf eine Entscheidung des OVG Bremen verwiesen (OVG Bremen, B.v. 24.1.2023 – 1 LA 200/21). Im Hinblick auf die Einberufung der Klägerin in den Nationaldienst Eritreas sei davon auszugehen, dass ihr ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG drohe. Bei dem eritreischen Nationaldienst handle es sich um einen unbefristeten Arbeitsdienst unter menschenrechtsverachtenden Bedingungen, welcher als Zwangsarbeit und unmenschlicher oder erniedrigende Behandlung zu qualifizieren sei. Hierzu hat der Prozessbevollmächtigte eine Entscheidung des VG Bayreuth zitiert (VG Bayreuth, U.v. 24.8.2018 – B 8 K 17.31818). Die Abschiebungsandrohung sei aufzuheben. Die Klägerin sei vom 31.05.2021 bis 02.08.2022 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 34 Abs. 2 AufenthG gewesen. Am 22.06.2022 sei diese Aufenthaltserlaubnis bis zum 02.08.2023 verlängert worden.
15
Mit Schriftsatz vom 09.05.2023 hat das Bundesamt die Nummern 5 und 6 des Bescheids vom 26.01.2022 aufgehoben. Es hat der zu erwartenden Erledigungserklärung bereits vorab zugestimmt. Hinsichtlich der Kosten hat das Bundesamt ausgeführt, dass der Bescheid bis zur Vorlage der neuen Beweismittel auch insgesamt rechtmäßig gewesen sei.
16
In der mündlichen Verhandlung am 10.05.2023 hat die Klägerin vorgetragen, dass ihre Mutter und anderen Geschwister die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt bekommen hätten und diesen Status nach wie vor haben. Der Prozessbevollmächtigte hat in der mündlichen Verhandlung das Verwaltungsstreitverfahren, soweit er die Aufhebung der Nr. 5 und 6 des Bescheids vom 26.01.2022 beantragt hat, für erledigt erklärt. Hinsichtlich des erledigten Teils der Klage habe die Beklagte die Kosten zu tragen, da ihr der Aufenthaltstitel der Klägerin habe bekannt sein müssen.
17
Gem. § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO verweist das Gericht hinsichtlich der Einzelheiten auf die Gerichts- und Behördenakte, sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10.05.2023. Das Gericht hat die Bundesamtsakten des Vaters der Klägerin (Az. …*) sowie die u.a. ihrer Mutter (Az. …*) beigezogen.
18
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat zuletzt beantragt,
1.
Die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26.01.2022 in den Nrn. 1 bis 4 zu verpflichten, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen und ihr die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.
2.
Hilfsweise der Klägerin subsidiären Schutz im Sinne des § 4 AsylG zuzuerkennen.
3.
Weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Entscheidungsgründe

19
A. Das Gericht stellt das Verfahren ein, soweit sich die Klägerin mit ihrer Klage gegen Nr. 5 und 6 des streitgegenständlichen Bescheids vom 26.01.2022 gewendet und mit ihrer Klage deren Aufhebung begehrt hat. Insoweit haben die Beteiligten die Hauptsache mit der bei Gericht eingegangenen bzw. in der mündlichen Verhandlung abgegebenen Erklärung für erledigt erklärt. Das Verfahren ist daher in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
20
B. Im Übrigen hat die zulässige Klage in der Sache keinen Erfolg. Der insoweit angegriffene Bescheid vom 26.01.2022 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Sie hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG noch einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a GG. Die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG kommt ebenfalls nicht in Betracht. Es liegen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.
21
In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab (§ 77 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG). In der Sache selbst schließt sich das Gericht zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen zunächst im Wesentlichen – ohne, dass es auf die Ausführungen zum Diaspora-Status der Klägerin ankäme – den Gründen des angegriffenen Bescheides an und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 3 AsylG). Ergänzend ist zur Sache sowie zur Klage das Folgende auszuführen:
22
I. Für die Klägerin ergibt sich ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 1 AsylG weder aus einer drohenden Heranziehung ihrer Person zum Nationaldienst (unter 1.) noch aufgrund ihrer illegalen Ausreise aus Eritrea (unter 2.) oder der von ihr angeführten Möglichkeit einer Beschneidung (unter 3.).
23
1. Der Nationaldienst in Eritrea erfüllt bereits deshalb nicht das Merkmal einer drohenden, flüchtlingsrelevanten Verfolgung, weil er nicht an ein Fluchtmerkmal i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG anknüpft, sondern grundsätzlich alle Staatsangehörigen Eritreas ohne Ansehen der Persönlichkeitsmerkmale gleichermaßen trifft (vgl. hierzu etwa BayVGH, U.v. 05.02.2020 – 23 B 18. 31593; OVG Hamburg, U.v. 21.09.2018 – 4 Bf 186/18.A; HessVGH, U.v. 30.07.2019 – 10 A 797/18.A; VG Würzburg, U.v.15.02.2018 – W 3 K 17.31285, U.v. 22.05.2017 – W 3 K 16.31747; VG Potsdam, U.v. 17.02.2016 – 6 K 1995/15.A; VG München, U.v. 13.07.2016 – M 12 K 16.31184; VG Regensburg, U.v. 27.10.2016 – RN 2 K 16.31289 – alle juris). Überdies hat grundsätzlich jeder souveräne Staat das Recht, seine Staatsangehörigen zum Wehr- bzw. Militärdienst heranzuziehen. Es besteht (bislang) kein Grundrecht auf eine Wehr- bzw. Militärdienstverweigerung (vgl. Treiber in: GK-AufenthG, Stand: März 2016, § 60 Rn. 167 f.). Die Heranziehung zum Militärdienst unterfällt daher flüchtlingsschutzrechtlich schon grundsätzlich nicht dem Schutzversprechen des § 3 AsylG.
24
2. Auch aus der illegalen Ausreise der Klägerin, durch die sie sich zugleich der zeitlich späteren Wehrpflicht entzogen hat, ergibt sich keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgefahr. Zwar ist die Wehrdienstentziehung in Eritrea grundsätzlich strafbewehrt. Jedoch müsste die Strafverfolgung, um einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu begründen, entweder i.S.v. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt erfolgen, in welchem der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (Kriegsverbrechen, schwere nichtpolitische Straftaten, Zuwiderhandlungen gegen die Grundsätze der Vereinten Nationen), oder sie müsste zielgerichtet gegenüber bestimmten Personen eingesetzt werden, die durch die Maßnahmen in einem der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten flüchtlingsschutzrechtlich relevanten Persönlichkeitsmerkmale getroffen werden sollen.
25
Die o.g. Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG liegen nicht vor. So ist bereits der persönliche Anwendungsbereich der Vorschrift nicht eröffnet. Notwendige Voraussetzung hierfür ist, dass der Schutzsuchende im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung Militärangehöriger ist oder dies vor seiner Flucht war, und er sich dem Militärdienst durch Flucht entzogen hat oder entzieht. Dies setzt jedenfalls seine Einberufung zum Militärdienst voraus (OVG Hamburg, U.v. 1.12.2020 – 4 Bf 205/18.A – juris Rn. 72). Hieran fehlt es aber. Die Klägerin ist aus Eritrea ausgereist, als sie fünfzehn Jahre alt war, d.h., bevor sie überhaupt die Pflicht hatte, den Nationaldienst zu absolvieren (vgl. Art. 6 und Art. 8 ff. der Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst). Die Klägerin ist vor dem Abschluss der zehnten Klasse ausgereist. Wenn sie in Eritrea geblieben wäre, hätte sie nach einem Jahr den Nationaldienst absolvieren müssen. Ein ausschlaggebendes Ereignis für ihre Flucht habe es nicht gegeben (vgl. Anhörungsniederschrift S. 3 f.). Die Klägerin glaubt, dass ihre Oma ihren Einberufungsbefehl bekommen habe. Der Einberufungsbefehl liege der Klägerin jedoch so nicht vor (Protokoll der mündlichen Verhandlung, S. 4). Das Gericht schließt aus diesem Vortrag, dass die Klägerin aus Eritrea noch vor ihrer Einberufung zum Nationaldienst ausgereist ist, weshalb der persönliche Anwendungsbereich des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG nicht eröffnet ist.
26
Zudem handelt es sich bei den Konsequenzen für Wehrdienstentziehung und illegale Ausreise um eine Strafverfolgung nach den allgemein in Eritrea geltenden Strafvorschriften, die jeden Eritreer gleichermaßen trifft. Korrelierend mit der allgemeinen Pflicht zur Ableistung des Nationaldienstes knüpft auch die strafrechtliche Verfolgung der Nationaldienstentziehung nicht an eine bestimmte politische Haltung oder bestimmte Persönlichkeitsmerkmale an, sondern ausschließlich an den Umstand, dass sich die Betroffenen dem Wehr- oder Nationaldienst entzogen haben.
27
Hinweise darauf, dass allein aus dem Umstand der illegalen Ausreise zum Zweck der Wehr- oder Nationaldienstentziehung auf eine politische Gegnerschaft – also eine oppositionelle Stellung – geschlossen wird, die zu einer verschärften strafrechtlichen Ahndung führt, so dass der Bestrafung ein politischer Sanktionscharakter zukäme, sind nicht ersichtlich. Misshandlungen, Folter und Willkür treffen in Eritrea weite Kreise der Bevölkerung. Rechtsstaatliche Verhältnisse und eine militärische oder zivile Rechtsordnung sind nicht vorhanden. Verhaftungen ohne Haftbefehl und ohne Angabe von Gründen sind üblich (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Eritrea, Stand November 2021 vom 3.1.2022 [im Folgenden: AA, Lagebericht v. 3.1.2022], S. 14). Die aktuellen Erkenntnisse lassen aber nicht den Schluss auf eine grundsätzlich politisch motivierte Verfolgung im Falle der illegalen Ausreise und der Verweigerung des National- oder Wehrdienstes zu (vgl. VG Bayreuth, U.v. 14.4.2021 – B 7 K 19.30247 – juris). Gerade die große Bandbreite möglicher Folgen bei der Rückkehr von Personen, die illegal ausgereist sind, um sich dem Nationaldienst zu entziehen (von einer bloßen Belehrung und Ableistung des Nationaldienstes bis zu Haftstrafen; vgl. AA, Lagebericht v. 3.1.2022, S. 22 f.) spricht dagegen, dass diese Personen automatisch als Regimegegner eingestuft werden und damit generell einer politischen Verfolgung unterliegen (vgl. zur Behandlung von Rückkehrern: EASO Country of Origin Information Report, Eritrea, National Service, Exit and Return, September 2019, S. 59 ff.).
28
Nicht zuletzt spricht auch die schiere Anzahl an Personen, die Eritrea illegal verlassen und sich dadurch dem Nationaldienst entziehen, massiv gegen die pauschale Einordnung als politische Gegner durch das Regime. Je nach Quelle leben bis zu 50% der Eritreer im Ausland (vgl. AA, Lagebericht vom 3.1.2022, S. 28); jährlich verlassen zahlreiche Flüchtlinge das Land. Dass das Regime diesen enormen Anteil der Staatsbürger durch die Bank als Staatsfeinde ansehen und behandeln würde, ist schon aufgrund der Anzahl kaum vorstellbar und der Quellenlage – wie ausgeführt – auch nicht zu entnehmen.
29
Überdies scheint die Klägerin hinsichtlich der Ausreise ihres Vaters aus Eritrea keine weiteren Konsequenzen erfahren zu haben. Das eritreische Militär hätte die Klägerin persönlich nicht bedroht, sondern lediglich ihre Mutter. Die eritreischen Soldaten hätten die Mutter der Klägerin nach dem Verbleib des Vaters gefragt (vgl. Anhörungsniederschrift, S. 4). Das legt nahe, dass die Klägerin durch die eritreische Regierung, aufgrund ihrer Ausreise aus Eritrea, selbst wohl nicht behelligt werden würde.
30
Es liegen auch keine weiteren besonderen Umstände vor, die eine Gefahr der Bestrafung gerade wegen politischer Gesinnung der Klägerin rechtfertigen. Insbesondere die bloße Stellung eines Asylantrags und eine ggf. daran anknüpfende Anerkennung als Flüchtling ziehen keine Bestrafung nach sich (AA, Lagebericht vom 3.1.2022, S. 21). Auch gab es nach den Angaben der Klägerin vor bzw. während der Ausreise aus Eritrea keine Zwischenfälle (vgl. Protokoll der mündlichen Verhandlung, S. 5), die die eritreische Regierung veranlassen würden, die Klägerin besonders in ihren Fokus zu nehmen.
31
Das Gericht hält nach alledem fest, dass nicht ohne weiteres davon auszugehen ist, dass die eritreische Regierung der Klägerin, aufgrund ihrer Ausreise, beachtlich wahrscheinlich eine oppositionelle Stellung zuschreibt, zumal in ihrer Person keine gefahrerhöhenden Umstände vorliegen.
32
3. Soweit die Klägerin eine (weitere) Beschneidung (im Folgenden: FGM) für möglich erachtet, schließt sich das Gericht den Ausführungen des streitgegenständlichen Bescheids an und führt ergänzend das Folgende aus:
33
Die Klägerin hat auf die Möglichkeit hingewiesen, dass sie in Eritrea, nach einer Rückkehr, vielleicht noch einmal beschnitten werde. Sie sei bereits beschnitten, möglicherweise mit der niedrigsten Stufe, die Gefahr einer weiteren Beschneidung würde aber von ihren Großeltern ausgehen (Protokoll der mündlichen Verhandlung, S. 2 f.).
34
Laut einer Auskunft des Auswärtigen Amtes waren im Jahr 2010 83 Prozent der eritreischen Frauen zwischen 15 und 49 Jahren beschnitten. Der Anteil der betroffenen Frauen ist seit der letzten Erhebung im Jahr 2002 um 6 Prozent zurückgegangen (AA, Lagebericht vom 3.1.2022, S. 16; Terre de Femmes, Genitalverstümmelung in Eritrea, Stand 12/2019, S. 5). Die Praktik der FGM wird in Eritrea bei sehr jungen Mädchen durchgeführt. Knapp 60 Prozent der Frauen haben den Eingriff bereits vor ihrem fünften Geburtstag erlebt (vgl. Terre de Femmes, Genitalverstümmelung in Eritrea, Stand 12/2019, S. 1).
35
Diese Erkenntnisse zu Grunde gelegt, erachtet es das Gericht bereits nicht als beachtlich wahrscheinlich, dass die bereits beschnittene und zudem volljährige Klägerin erneut – ggf. durch ihre Großeltern – beschnitten wird. Die Klägerin hat sich erst auf Nachfrage zu einer weiteren Beschneidung in Eritrea geäußert. Eine weitere Beschneidung halte die Klägerin lediglich für möglich. Zudem hat die Klägerin die Frage, ob sie befürchtet, noch weiter beschnitten zu werden, mit nein beantwortet (vgl. Protokoll der mündlichen Verhandlung, S. 2 f.). All dies deutet darauf hin, dass die Klägerin lediglich Mutmaßungen hinsichtlich einer FGM anstellt, zumal sie nicht mehr in dem Alter ist, in dem Mädchen bzw. Frauen hauptsächlich Opfer einer FGM werden. Sie hat es als Volljährige in der Hand, selbst eine Entscheidung darüber zu treffen, ob sie einer (weiteren) Beschneidung zustimmt.
36
II. Ein Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus im Wege des sog. Familienasyls im Sinne des § 26 AsylG – abgeleitet vom Vater bzw. den anderen Familienmitgliedern der Klägerin – liegt ebenfalls nicht vor. Denn die Klägerin war im Zeitpunkt ihrer Asylantragstellung am 08.03.2021 mit neunzehn Jahren bereits volljährig im Sinne des § 26 Abs. 2 bzw. Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 5 AsylG.
37
III. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung von Asyl gem. Art. 16a Abs. 1 GG. Die gegenüber § 3 AsylG engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigte liegen nach Ablehnung der Voraussetzungen des Flüchtlingsstatus (s.o.) nicht vor.
38
IV. Auch ein Anspruch auf Zuerkennung als subsidiär Schutzberechtigte i.S.d. § 4 AsylG, aufgrund einer zu erwartenden Heranziehung zum Nationaldienst in Eritrea, besteht nicht. Es liegen keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vor, dass der Klägerin in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden – hier: Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG – droht.
39
1. Für den Fall, dass die eritreische Regierung die Klägerin zum Nationaldienst einzieht, geht das Gericht davon aus, dass sie beachtlich wahrscheinlich im zivilen Bereich des Nationaldienstes ihren Nationaldienst leisten wird.
40
Eritreische Staatsangehörige müssen mit Vollendung ihres achtzehnten Lebensjahres den Nationaldienst absolvieren, der aus einem militärischen und einem zivilen Bereich besteht. Im Wesentlichen müssen hierfür, vor Antritt des Nationaldienstes, ein Großteil der Schüler in Eritrea das zwölfte Schuljahr in einem zentralen Ausbildungslager in Sawa ableisten, wo sie eine dreimonatige paramilitärische Ausbildung erhalten. Die besten Absolventen werden zum Studium zugelassen, die Übrigen erhalten eine Berufsschulausbildung oder werden zum Militärdienst oder zur zivilen Dienstleistung herangezogen (AA, Lagebericht vom 3.1.2022, S. 14 f.). Der Nationaldienst wird als Mittel zur Arbeitskraftbeschaffung für das ganze Wirtschafssystem in Eritrea benutzt. Angesichts der Abhängigkeit der eritreischen Ökonomie vom Nationaldienst ist deshalb davon auszugehen, dass die überwiegende Zahl der dienstpflichtigen Personen in zivilen Bereichen arbeitet (vgl. BVerG der Schweiz, U.v. 10.7.2018 – E-5022/2017, S. 17 m.w.N.). Weitere Quellen gehen davon aus, dass die meisten Wehrpflichtigen dem Bereich der zivilen Verwaltung, Infrastrukturprojekte, Bildung dem Bau und der Erfüllung anderer Pflichten zugewiesen sind (vgl. EASO, COI QUERY, Conditions regarding the civilian branch oft he national service, including for women, between 31 Januar 2021 – 1 March 2022, S. 5 m.w.N.). All dies deutet darauf hin, dass es beachtlich wahrscheinlich ist, dass die Klägerin, nach ihrer Rückkehr, den Nationaldienst im zivilen - d. h. nicht im militärischen – Bereich absolvieren wird.
41
An der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin ihren Nationaldienst in dessen zivilen Bereich absolvieren wird, ändert nach der Auffassung des Gerichts der Umstand nichts, dass die Klägerin die Schule nach der zehnten Klasse abgebrochen und die zwölfte Klasse sowie die Grundausbildung in Sawa nicht absolviert hat. Die Mehrheit der Schüler jeder Alterskohorte bricht den Schulbesuch vor dem Erreichen der zwölften Klasse ab und damit auch vor der „regulären“ Rekrutierung. In ländlichen Gebieten ist der Anteil der Schulabbrecher deutlich höher als in den Städten. Diese Gruppe wird entweder von der Lokalverwaltung aufgeboten, von der Armee eingezogen oder vom Nationaldienst freigestellt. Einem Teil der Jugendlichen gelingt es auch, dem Aufgebot zu entgehen oder vor einem Aufgebot ins Ausland zu fliehen. Da die Regierung üblicherweise von der „regulären“ Rekrutierung spricht, gibt es keine offiziellen Angaben zur Rekrutierung von Schulabbrechern. Die Lokalverwaltung (mimihdar kebabi auf Tigrinya) ist zuständig für das Aufgebot von Schulabbrechern. Es gibt keine einheitliche Praxis für diese Art der Rekrutierung in ganz Eritrea. Im Allgemeinen behalten die Lokalverwaltungen einen Überblick über die Schulabbrecher und ihr Alter. Die Informationen stammen meist von den Schulen. Die Armee beauftragt die Lokalverwaltungen periodisch, Schulabbrecher zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu versammeln, von wo sie in die militärische Ausbildung gebracht werden. Teils fordert die Armee auch nur Listen der betroffenen Jugendlichen. Eine Quelle erwähnt, dass die Lokalverwaltungen jeweils eine gewisse Quote an Aufgeboten zu erfüllen haben. Die Lokalverwaltungen teilen die Aufgebote auf verschiedene Arten mit, darunter Mitteilungsbretter, Briefe, Hausbesuche und Radioverlautbarungen. Die Volksarmee oder die lokale Miliz hilft der Verwaltung häufig bei der Rekrutierung der Dienstpflichtigen. Von der Lokalverwaltung aufgebotene Personen werden meist dem militärischen Teil des Nationaldiensts zugeteilt – allerdings nicht ausschließlich. Die Ausbildung findet üblicherweise nicht in Sawa statt, sondern in kleineren militärischen Ausbildungslagern. Die Quellen nennen Lager in Gergera, Hashenkit, Gahtelay, Kiloma, May Seraw, May Dima, Himberti, Nakfa, Wia und Afabet. Eine Quelle erwähnt, dass Frauen, die von der Lokalverwaltung aufgeboten wurden, häufig in den zivilen Nationaldienst gehen. Einer Quelle zufolge werden jährlich 5 000 bis 8 000 Personen auf diese Weise rekrutiert (EASO – Eritrea: National service, exit and return, September 2019, S. 29 f. m.w.N.; SFH, Eritrea: Situation von Schulabbrecher*innen vom 16.2.2023, S. 8). Diese Quellen untermauern die Auffassung des Gerichts, dass die Klägerin nicht beachtlich wahrscheinlich im militärischen Teil des Nationaldienstes ihrer Dienstpflicht nachkommen wird.
42
2. Beim Nationaldienst handelt es sich um eine Gefahr, der die gesamte, im dienstfähigen Alter befindliche Bevölkerung Eritreas ausgesetzt ist, für die kein Ausnahmetatbestand hinsichtlich der Dienstpflicht greift (z.B. schwangere Frauen, Frauen mit Kind, behinderte, sehbehinderte und psychisch kranke Personen, vgl. EASO – Eritrea: National service, exit and return, September 2019, S. 33). Gem. Erwägungsgrund 35 der Qualifikationsrichtlinie RL 2011/95/EU stellen jedoch Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre. Deshalb kann nur in extremen Ausnahmefällen und nur bei konkretem Risiko für den Betroffenen nach den Umständen des Einzelfalls von einer weit verbreiteten, allgemeinen Gefahr auf eine unmenschliche Behandlung dieser Person i.S.d. Art. 3 EMRK und § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG geschlossen werden (vgl. EGMR, U.v. 20.6.2017 – 41282/16 – BeckRS 2017, 123577 Rn. 70). Ein „extremer Ausnahmefall“, der eine Abweichung von der ansonsten auf die Einzelperson bezogenen Prüfung im Rahmen des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde, ist im Hinblick auf den Nationaldienst in Eritrea – jedenfalls im Hinblick auf den hier allenfalls in Rede stehenden zivilen Teil – nicht gegeben. Denn der Nationaldienst umfasst – gerade im zivilen Sektor – eine schier unübersehbare Vielfalt an Einsatzmöglichkeiten und -orten sowie Arbeitsbedingungen und unterscheidet sich auch in der Dauer von Einzelfall zu Einzelfall enorm. So ist eine gesetzliche Dauer des Nationaldienstes von 18 Monaten vorgeschrieben, üblich ist jedoch eine Ableistung von mehreren Jahren. Die durchschnittliche Dauer wird je nach Quelle mit fünf bis zehn Jahren angegeben; auch die Angaben zum dienstfähigen Alter variieren (vgl. umfassend zur Ausgestaltung des Nationaldienstes BVerG der Schweiz, U.v. 10.7.2018 – E-5022/2017 mit den dort benannten Auskunftsmitteln). Angesichts dieser höchst unterschiedlichen möglichen Ausprägungen des Nationaldienstes (bspw. von einer nur wenige Jahre andauernden Tätigkeit auf einem gewöhnlichen Arbeitsplatz in der öffentlichen Verwaltung bis zu jahrzehntelanger Schwerstarbeit unter prekären Bedingungen) kann von „dem Nationaldienst“ als einheitlicher Gefahr für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, aus der sich für den Einzelnen konkrete Gefahren ableiten ließen, nicht ausgegangen werden.
43
3. Selbst für den Fall, dass man entgegen den Ausführungen unter Nr. IV. 2. den § 4 AsylG für grundsätzlich anwendbar halten möchte, ist der Klägerin der subsidiäre Schutzstatus aufgrund folgender Erwägungen gleichwohl nicht zuzuerkennen:
44
a. Allein die zu erwartende Dauer einer möglichen Einziehung genügt ohne Hinzutreten weiterer Aspekte für die konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens ebenfalls nicht. Denn selbst, wenn man die Heranziehung zu mehrjährigem Nationaldienst, ausgehend von einer durchschnittlichen Dienstzeit von fünf bis zehn Jahren, als Zwangsarbeit i.S.d. Art. 4 Abs. 2 EMRK ansehen wollte, wäre für die Annahme einer unmenschlichen Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG eine erhebliche Verletzung des Zwangsarbeitsverbots erforderlich (vgl. BVerG der Schweiz, U.v. 10.7.2018 – E-5022/2017 – das von einer „flagranten“ Verletzung spricht). An entsprechenden, zur reinen Dienstzeit hinzutretenden Anhaltspunkten fehlt es jedoch.
45
b. Der vom Prozessbevollmächtigten angeführte Bericht des Sonderberichterstatters für die Lage der Menschenrechte in Eritrea vom 06.05.2022 ändert an der Auffassung des Gerichts nichts. In diesem Bericht ist der Sonderberichterstatter unter den Nrn. 21 ff. auf die unmenschliche und erniedrigende Behandlung der Nationaldienstpflichtigen eingegangen. Der Nationaldienst sei nach wie vor eine der Hauptursachen für Menschenrechtsverletzungen im Land und die vom Sonderberichterstatter gesammelten Informationen würden auf eine deutliche Verschlechterung der Situation hindeuten. Der Sonderberichterstatter habe weiterhin Berichte über schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem National- bzw. Militärdienst erhalten, einschließlich missbräuchlicher Bedingungen, schwerer Strafen und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, sexueller Belästigung und Gewalt gegen weibliche Wehrpflichtige sowie des Einsatzes von Wehrpflichtigen zur Zwangsarbeit (vgl. Nr. 22 des Berichts). Namentlich ist der Quellenlage allerdings nicht zu entnehmen, dass es im (insbesondere zivilen) Nationaldienst systematisch zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen käme (EASO – Eritrea: National service, exit and return, September 2019, S. 39 ff. m.w.N.). Zwar wird über entsprechende Vorkommnisse immer wieder berichtet, jedoch existieren keine hinreichenden Belege dafür, dass jede und jeder Nationaldienstleistende flächendeckend dem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, selbst solche Übergriffe in erheblichem Maße zu erleiden.
46
c. Auch die Entscheidung des OVG Bremen (B.v. 24.1.2023 – 1 LA 200/21), die sich mit einer Entscheidung des VG Bremen (U.v. 23.2.2021 – 7 K 436/19 – juris) befasst, ändert nichts an der Auffassung des Gerichts. Das OVG Bremen hat in seiner Entscheidung lediglich festgehalten, dass die rechtliche Bewertung des VG Bremen, dass der Klägerin eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Falle der Rückkehr nicht drohe, der einhelligen Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung entspreche (OVG Bremen, B.v. 24.1.2023 – 1 LA 200/21 – juris Rn. 20 f.). Es hat sich zu den Feststellungen des VG Bremen hinsichtlich des subsidiären Schutzstatus nicht ausgelassen.
47
d. Der Klägerin ist der subsidiäre Schutzstatus aufgrund individueller Umstände des Einzelfalls ebenfalls nicht zuzuerkennen. Demgemäß bräuchte es zumindest erhebliche gefahrerhöhende Umstände in der Person der Klägerin, um im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung von der allgemeinen Heranziehung zum Nationaldienst zur konkreten Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne der Norm zu kommen.
48
Nachdem nicht absehbar ist, in welchen Bereich und für wie lange die Klägerin zum zivilen Teil des Nationaldienstes herangezogen würde, ist eine konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens jedenfalls nicht ersichtlich. Bei der Klägerin handelt es sich um eine volljährige, unverheiratete, kinderlose Frau, die nach ihren Angaben die Schule in Eritrea in der zehnten Klasse abgebrochen hat und vor ihrer Einberufung in den Nationaldienst ausgereist ist. Sie ist demnach eine Dienstverweigerin. Die Ausreise aus Eritrea selbst sei ohne Zwischenfälle verlaufen (Protokoll der mündlichen Verhandlung, S. 5). Aus den Gesamtumständen kann das Gericht eine eklatante Gefahrerhöhung in der Person der Klägerin nicht erkennen. Überdies spricht sogar einiges dafür, dass die Klägerin im zivilen Bereich des Nationaldienstes einer vergleichsweise moderaten Tätigkeit nachgehen könnte. Die Klägerin hat vorgetragen, in A* …einen Lehrgang zu dem Thema Kosmetik bzw. zur Friseurin durchgeführt zu haben (Anhörungsniederschrift S. 3). In der mündlichen Verhandlung hat sie angegeben, dass sie sich für eine Ausbildung in der Pflege interessiere (Protokoll der mündlichen Verhandlung, S. 6). Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass eritreische Behörden ein Interesse daran haben dürften, dass Potential der Klägerin nicht ungenutzt zu lassen und sie in entsprechenden Sparten des zivilen Bereichs des Nationaldienstes einzusetzen. Es ist nach alledem nicht beachtlich wahrscheinlich von einer konkreten Gefahr eines ernsthaften Schadens für die Klägerin auszugehen.
49
e. Das vom Prozessbevollmächtigten erwähnte Urteil der achten Kammer des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth (U.v. 24.8.2017 – B 8 K 17.31818) ändert die Auffassung des Gerichts nicht. Seinerzeit hat das Gericht in der o.g. Verwaltungsstreitsache einer Klägerin den subsidiären Schutzstatus zugesprochen, weil es sich bei dem eritreischen Nationaldienst um einen unbefristeten Arbeitsdienst unter menschenrechtsverachtenden Bedingungen handle, der als Zwangsarbeit und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu qualifizieren sei. Wie bereits oben genannt, ist die Ableistung des Nationaldienstes nicht pauschal als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu qualifizieren, sondern es bedarf einer differenzierten Betrachtung (vgl. hierzu VG Bayreuth, U.v. 14.4.2021 – B 7 K 19.30247 – juris), die das Gericht im vorliegenden Fall dahingehend vornimmt, dass es eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nicht zu prognostizieren vermag.
50
f. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die drohende Einziehung zum (zivilen) Nationaldienst an sich bereits nicht die konkrete Gefahr einer unmenschlichen Behandlung der Klägerin begründen würde, weshalb die Anspruchsvoraussetzungen auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus in der Person der Klägerin nicht erfüllt sind.
51
5. Auch aus der illegalen Ausreise der Klägerin und der Asylantragstellung in Deutschland ergibt sich kein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. In Anbetracht des oben zu § 3 AsylG Ausgeführten ist nicht davon auszugehen, dass gegen Rückkehrer rigoros vorgegangen wird. Wenn die Strafbestimmungen zur illegalen Ausreise überhaupt zur Anwendung kommen, hängt die Reaktion der eritreischen Behörden ausweislich der eingeführten Auskünfte maßgeblich von den Umständen der Ausreise, der Nationaldienstpflicht und etwaigen exilpolitischen Aktivitäten ab (vgl. EASO – Eritrea: National service, exit and return, September 2019, S. 59 ff.). In Bezug auf die Klägerin, die als Schülerin vor ihrer Einberufung ohne Verursachung eines Zwischenfalls ausgereist ist und die nicht vorgetragen hat, exilpolitisch aktiv gewesen zu sein, ist eine § 4 AsylG zuwiderlaufende Strafverfolgung nicht anzunehmen.
52
V. Die Klägerin hat nach den Umständen des Einzelfalls auch keinen Anspruch auf Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG.
53
1. Insbesondere ergibt sich kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG im Hinblick auf Art. 3 EMRK bezüglich einer etwaigen Heranziehung der Klägerin zum Nationaldienst oder wegen drohender Konsequenzen aus ihrer illegalen Ausreise. Insoweit nimmt das Gericht vollständig Bezug auf die Ausführungen zu § 4 AsylG. Der sachliche Regelungsbereich des § 60 Abs. 5 und des (mit § 4 AsylG korrelierenden) § 60 Abs. 2 AufenthG ist in Bezug auf
54
Art. 3 EMRK identisch, sodass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegend aus denselben rechtlichen und tatsächlichen Gründen ausscheidet, wie die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (vgl. BVerwG, U.v. 31.3.2013 – 10 C 15/12 – NVwZ 2013, 1167 Rn. 36).
55
2. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG sind im Falle der Klägerin auch im Übrigen nicht erfüllt.
56
Es ist davon auszugehen, dass es der Klägerin möglich sein wird, in Eritrea Fuß zu fassen und eine Existenzgrundlage zu erwirtschaften. Es ist der Klägerin zuzutrauen, in Eritrea einer existenzsichernden Berufstätigkeit – z.B. als Friseurin oder Kosmetikerin, ggf. als Pflegerin – nachzugehen. Die Klägerin ist gesund und arbeitsfähig und hat vor Gericht den Eindruck erweckt, dass sie selbstständig ihre beruflichen Interessen verfolgt. All dies spricht dafür, dass die Klägerin in Eritrea wird Fuß fassen können.
57
Ferner stünden der Klägerin im Bedarfsfall ihre Eltern in Deutschland sowie ihre weiteren Verwandten in Eritrea bzw. ihr Onkel aus I. … (vgl. Anhörungsniederschrift S. 3) zur finanziellen Unterstützung zur Seite.
58
Nicht zuletzt ist ergänzend zu würdigen, dass – worauf das Bundesamt bereits mit der Zuleitung des streitgegenständlichen Bescheids an die Klägerin hingewiesen hatte – bei freiwilliger Ausreise umfangreiche Rückkehrhilfen beansprucht werden können. Aus dem sog. REAG-/GARP-Programm kann u.a. eine Reisebeihilfe i.H.v. 200,00 EUR sowie eine Starthilfe von 1.000,00 EUR in Anspruch genommen werden. Ferner wird medizinische Unterstützung angeboten, nicht nur während der Reise, sondern auch im Zielland (maximal 2.000,00 EUR für bis zu drei Monate nach Ankunft). Darüber hinaus bestehen weitere Reintegrationsprogramme. Die Hilfen aus diesen Programmen umfassen Beratung nach der Ankunft, berufliche Qualifizierungsmaßnahmen, Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche, Unterstützung bei einer Existenzgründung, Grundausstattung für die Wohnung sowie die Beratung und Begleitung zu behördlichen, medizinischen und caritativen Einrichtungen. Die Unterstützung wird als Sachleistung gewährt. Der Leistungsrahmen für rückkehrende Einzelpersonen beträgt dabei bis zu 2.000,00 EUR und für jedes weitere Familienmitglied 1.000,00 EUR.
59
Es liegt auf der Hand, dass die genannten Rückkehrhilfen und Leistungen aus den Reintegrationsprogrammen gerade in der Anfangszeit nach einer Rückkehr mit dazu beitragen, dass die Klägerin in Eritrea wiederum wird Fuß fassen können. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich die Klägerin nicht darauf berufen kann, dass die genannten Start- und Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht vom Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96). Dementsprechend ist es der Klägerin möglich und zumutbar, gerade zur Überbrückung der ersten Zeit nach einer Rückkehr nach Eritrea freiwillig Zurückkehrenden gewährte Reisehilfen sowie Reintegrationsleistungen in Anspruch zu nehmen.
60
3. Anhaltspunkte für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen nicht.
61
C. Nach alledem ist die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO – unter Berücksichtigung von § 161 Abs. 2 VwGO für den übereinstimmend erledigt erklärten Teil -abzuweisen. Die Kostenentscheidung trägt dem Umstand Rechnung, dass es der Klägerin oblag, das Bundesamt gem. § 15 Abs. 2 Nr. 2 AsylG unverzüglich über die Erteilung ihres Aufenthaltstitels zu unterrichten und sie dieser Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen ist. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.