Inhalt

VG Bayreuth, Beschluss v. 06.07.2023 – B 7 K 23.50057
Titel:

Dublin-Verfahren (Kostenentscheidung Bescheidaufhebung nach Ablauf der Überstellungsfrist)

Normenkette:
VwGO § 92 Abs. 3, § 161 Abs. 2
Leitsatz:
Reagiert die Behörde mit der Aufhebung des Verwaltungsakts wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf eine Veränderung der Sach- und Rechtslage, beruht das erledigende Ereignis nicht ausschließlich auf dem Willensentschluss der Behörde; sie hat sich mithin nicht freiwillig in die Position der Unterlegenen begeben. (Rn. 3 – 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufhebung eines Dublin-Bescheids nach Ablauf der Überstellungsfrist durch das Bundesamt, Kostenentscheidung nach Billigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2023, 21647

Tenor

1. Das Verfahren wird eingestellt.
2. Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens als Gesamtschuldner.
3. Die Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Rechtsanwaltsbeiordnung werden abgelehnt.

Gründe

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1. Die Beteiligten haben die Hauptsache mit den am 29.06.2023 bzw. 30.06.2023 bei Gericht eingegangenen Erklärungen für erledigt erklärt. Das Verfahren ist daher in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Nach § 161 Abs. 2 VwGO ist über die Kosten des Verfahrens unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden.
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In der Regel entspricht es billigem Ermessen, demjenigen Beteiligten die Kosten aufzuerlegen, der – nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage – ohne die Erledigung im Verfahren voraussichtlich unterlegen wäre. Nach Teilen der Rechtsprechung sei als erledigendes Ereignis die Aufhebung des angefochtenen Dublin-Bescheids durch die Beklagte infolge des Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist anzusehen. Der Ablauf der Überstellungsfrist führe dagegen für sich genommen nicht zur Erledigung des Bescheids nach § 43 Abs. 2 VwVfG und werde deshalb nicht (mehr) als zeitlicher Bezugspunkt der summarischen Prüfung des hypothetischen Ausgangs des Rechtsstreits herangezogen (vgl. BayVGH, B.v. 18.5.2020 – 3 ZB 20.50004; VG Ansbach, B.v. 4.6.2021 – AN 17 K 19.50816; VG München, B.v. 1.9.2022 – M 19 K 22.50002 – juris; a.A. BayVGH, B.v. 30.3.2015 - 21 ZB 15.50026 – juris; BayVGH, B.v. 22.11.2017 – 9 ZB 17.50037 – juris). Dies zugrunde gelegt, wären die Kosten des Verfahrens der Beklagten aufzuerlegen, weil diese ohne die Aufhebung unterlegen wäre, da nach Ablauf der Überstellungsfrist die Zuständigkeit für das Asylverfahren der Kläger auf die Beklagte überging und folglich die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG und die damit zusammenhängenden Folgeentscheidungen rechtswidrig geworden sind.
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Allerdings hat das Gericht bei der Kostenentscheidung neben dem bisherigen Sach- und Streitstand auch andere Gründe zu berücksichtigen, wenn dies nach dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden sachgerecht erscheint. So ist bei der Entscheidung über die Kosten auch zu berücksichtigen, inwieweit das erledigende Ereignis auf den Willensentschluss eines Beteiligten zurückzuführen ist. Es wird dann regelmäßig billig sein, ihm die Kostenlast aufzubürden (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2007 – 23 N 07.3168 – juris). Die Aufhebung des streitgegenständlichen Verwaltungsakts ist nur dann als die Erledigung herbeiführendes Ereignis in der Willenssphäre der Beklagten anzusehen, wenn die Behörde trotz im Wesentlichen unveränderter Sach- und Rechtslage erkennbar ihren Rechtsstandpunkt aufgibt und sich durch Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsaktes in die Rolle der Unterlegenen begibt. Reagiert die Behörde hingegen mit der Aufhebung des Verwaltungsaktes auf eine Veränderung der Sach- und Rechtslage, beruht das erledigende Ereignis nicht ausschließlich auf dem Willensentschluss der Behörde.
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Auch das Bundesverfassungsgericht hat in einem Beschluss vom 10.01.2022, der gerade die hier vorliegende Konstellation der Aufhebung des Dublin-Bescheids nach Ablauf der Überstellungsfrist zum Gegenstand hatte, ausgeführt, dass bei der zu treffenden Billigkeitsentscheidung – dort: im Rahmen des § 34a Abs. 3 BVerfGG – dem Grund, der zur Erledigung geführt hat, wesentliche Bedeutung zukomme. Maßgeblich ist, ob die öffentliche Gewalt von sich aus den angegriffenen Verwaltungsakt beseitigt hat (vgl. BVerfG, B.v. 10.1.2022 – 2 BvR 679/21 – juris).
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Ausgehend von diesen Grundsätzen entspricht es vorliegend billigem Ermessen, die Kosten des nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahrens den Klägern gesamtschuldnerisch aufzuerlegen. Die Beklagte hat sich nicht freiwillig in die Position der Unterlegenen begeben, sondern allein auf den Ablauf der Überstellungsfrist reagiert (vgl. auch VG Ansbach, B.v. 10.5.2022 – AN 17 K 21.50290 – juris; VG München, B.v. 23.6.2022 – M 22 K 20.50313 – juris). Vor Ablauf der Überstellungsfrist wären die Klagen aller Voraussicht nach nicht erfolgreich gewesen. Legt man dies zugrunde, sind in der hier gegebenen besonderen prozessualen Konstellation, die sich eben dadurch auszeichnet, dass sich die rechtliche Lage allein mit dem Ablauf der Überstellungsfrist und ohne jegliches Zutun der Beteiligten quasi „über Nacht“ ändert, die Kosten des in der Hauptsache erledigten Verfahrens jedenfalls dann der Klagepartei aufzuerlegen, wenn das Bundesamt den streitgegenständlichen Bescheid in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Ablauf der Überstellungsfrist aufhebt. Dies ist hier zu bejahen (Ablauf der Überstellungsfrist am 28.06.2023, 24:00 Uhr und Aufhebung des Bescheids mit Schriftsatz vom 29.06.2023).
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Das Bundesamt war – um die Kostenlast des gerichtlichen Verfahrens abzuwenden – auch nicht gehalten, die Aufhebung des Dublin-Bescheids noch gleichsam „in letzter Minute“ vor dem Ablauf der Überstellungsfrist am 28.06.2023, 24:00 Uhr zu bewirken.
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Eine solche verengte Sichtweise würde der Billigkeitsentscheidung, die das Gericht im Rahmen von § 161 Abs. 2 VwGO zu treffen hat, nicht gerecht, zumal sich die Behörde in diesem Fall der argumentativen „Gefahr“ aussetzen würde, sie habe den Dublin-Bescheid zu einem Zeitpunkt aufgehoben, als dieser (noch) rechtmäßig war und vollzogen hätte werden können, so dass die gedankliche Schlussfolgerung, das Bundesamt habe sich freiwillig in die Rolle des Unterlegenen begeben, jedenfalls nicht ganz fernliegend wäre.
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Unabhängig von diesen Erwägungen ist, soweit die Klägerseite geltend gemacht hat, dass es vorliegend keinen „Abschiebungsversuch“ gegeben habe, festzustellen, dass die vollziehbar ausreisepflichtigen Kläger ebenso keine Anstalten dahingehend unternommen haben, freiwillig nach Italien zurückzukehren. Denn obwohl die Überstellung regelmäßig in Gestalt der Abschiebung vollzogen wird, ist ausnahmsweise durchaus die Möglichkeit einer Überstellung ohne Verwaltungszwang eröffnet (vgl. Art. 7 Abs. 1 lit. a Dublin-DVO und hierzu BVerwG, U.v. 17.9.2015 – 1 C 26.14 – juris).
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2. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe kommt vorliegend bereits deshalb nicht in Betracht, weil die nach § 166 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 2 ZPO erforderlichen Erklärungen über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht vorgelegt bzw. nachgereicht wurden.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).