Inhalt

VG Bayreuth, Beschluss v. 05.06.2023 – B 7 E 23.438
Titel:

Auslegung des Antragsbegehrens, Verhältnismäßigkeit (verneint), Erforderlichkeit, generelles Verbot des Mitführens sowie des Einsatzes von Trommeln während der, gesamten Dauer einer Versammlung

Normenketten:
VwGO § 88
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1
BayVersG Art. 15 Abs. 1
VwGO § 114 S. 1
Schlagworte:
Auslegung des Antragsbegehrens, Verhältnismäßigkeit (verneint), Erforderlichkeit, generelles Verbot des Mitführens sowie des Einsatzes von Trommeln während der, gesamten Dauer einer Versammlung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 21644

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Nr. 2.3.3 des Bescheids des Landratsamts aaaa … vom 02.06.2023 wird angeordnet.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine Beschränkung einer angezeigten Versammlung am 06.06.2023 und begehrt bei dieser, Trommeln einzusetzen.
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1. Die Antragstellerin zeigte als Versammlungsleiterin für den 06.06.2023 eine fortbewegende Versammlung mit Zwischenkundgebung in bbbb … unter dem Thema „…“ an. Die Versammlung soll um 18:00 Uhr beginnen und um 20:30 Uhr enden. Die Antragstellerin meldete als technische Hilfsmittel u.a. große Trommeln an. Gerechnet werde mit ca. 50 bis 100 Teilnehmern.
3
Mit Bescheid vom 02.06.2023 hat das Landratsamt aaaa … unter dessen Nr. 2.3.3 folgende Beschränkung zu den zugelassenen Kundgebungsmitteln bzw. technischen Hilfsmitteln erlassen:
Das Mitführen sowie der Einsatz von Trommeln ist während der gesamten Dauer der Versammlung untersagt.
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Begründet hat das Landratsamt diese Entscheidung neben allgemeinen Ausführungen zur Rechtsgrundlage wie folgt: Die Beschränkung unter Nr. 2.3.3, Trommeln während der gesamten Dauer der Versammlung zu untersagen, diene dem Schutz Dritter. Bei den wöchentlichen, vorausgegangenen gleichartigen Versammlungen in bbbb … hätten sich die verwendeten Trommeln weiterentwickelt von einem Gestaltungsmittel der Veranstalter zur Erregung von Aufmerksamkeit, hin zu einem insbesondere für die Bevölkerung entlang der zwar wechselnden, aber sich dennoch immer wieder wiederholenden Aufzugstrecken, bedrohlich wirkenden Mittel, das gemeinsam mit der Marschformation der Teilnehmer eine einschüchternde Wirkung entfalte. Zudem stelle die Lautstärke der intensiv genutzten Trommeln eine Lärmkulisse dar, die seit über einem Jahr nahezu wöchentlich für Anwohner in den Wohngebieten, insbesondere für Kinder, eine übermäßige Belastung darstelle. Dies auch, da es sich bei den Wohngebieten nicht um Lebensbereiche handele, in denen die Bevölkerung regelmäßig mit solchen Lärmkulissen rechnen müsse. Entsprechende Eingaben, Beschwerden und Mitteilungen der Polizeiinspektion … aaaa-Land lägen dem Landratsamt vor und seien nachvollziehbar. Dem verfassungsrechtlich geschützten Ruhebedürfnis der Anwohner der Demonstrationsrouten sei in gebührender Weise Rechnung zu tragen. Dies gelte besonders für das frühere abendliche Ruhebedürfnis von Kleinkindern, welches durch die in Deutschland übliche Lebensweise hervorgerufen werde. Der Veranstalter werde durch die Auflage nicht übermäßig in seinen Gestaltungsrechten eingeschränkt. Insbesondere beeinträchtige die Auflage nicht den kommunikativen Ansatz des Art. 8 GG, weil durch andere Kundgebungsmittel wie beispielsweise Lautsprecher weiterhin Meinungskundgebungen auch außerhalb der Teilnehmer möglich seien. Die Trommeln stünden nicht in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Versammlungsthema.
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2. Die Antragstellerin hat am 04.06.2023 durch ihren Prozessbevollmächtigten Klage gegen den Bescheid erhoben (Az. B 7 K 23.439), mit der sie die Aufhebung des Bescheides des Landratsamts aaaa … vom 02.06.2023 beantragt hat und hat zugleich beantragt,
vor Entscheidung in der Hauptsache, eine einstweilige Anordnung zu erlassen, da dies zur Abwehr schwerer Nachteile für die Klägerin dringend geboten ist.
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Diesen Antrag hat der Prozessbevollmächtigte im Wesentlichen damit begründet, dass die Entscheidung, Trommeln generell zu verbieten, ermessensfehlerhaft und unverhältnismäßig sei. In der Stadt aaaa … seien bei vergleichbaren Veranstaltungen ebenfalls Trommeln erlaubt. Der „Antrag auf eine einstweilige Anordnung“ sei durch Dringlichkeit geboten, da die nächste Veranstaltung, bei der die Trommeln nicht erlaubt seien, bereits am kommenden Dienstag, den 06.06.2023 stattfinde. Es sei der Antragstellerin nicht zuzumuten, bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu warten.
7
Das Landratsamt aaaa … hat für den Antragsgegner am 05.06.2023, ohne einen Antrag gestellt zu haben, die angegriffene Auflage zusätzlich damit begründet, dass die ortstypische Lärmbelastung in der Stadt aaaa … eine andere sei, als in bbbb … In bbbb … sei auch kaum noch zu erwarten, dass neue Personen auf das Anliegen der Versammlungsteilnehmer aufmerksam gemacht werden könnten. Seit der Auflage, keine Trommeln zu nutzen, hätten keine Beschwerden aus bbbb … über die Versammlungen am Dienstagabend das Landratsamt erreicht.
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Entsprechend § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO verweist das Gericht wegen der Einzelheiten auf die Gerichtsakte. Eine Behördenakte wurde nicht vorgelegt; dem Gericht wurde lediglich im Rahmen einer „Vorabübersendung“ am 02.06.2023 der Bescheid mit einen „Anlagenpaket“ vorgelegt. Diese Unterlagen wurden zur Gerichtsakte genommen.
II.
9
Der zulässige Antrag hat in der Sache Erfolg.
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1. Der Antrag „auf Erlass einer einstweiligen Anordnung“ ist als Antrag nach § 80 Abs. 5  Satz 1 Alt. 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen Nr. 2.3.3 des Bescheids vom 02.06.2023 auszulegen.
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Gem. § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Diese Norm gilt gem. § 122 Abs. 1 VwGO entsprechend für Beschlüsse. Maßgebend für den Umfang des Antragsbegehrens ist das aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Antragsbegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel. Insoweit sind die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze (§§ 133, 157 BGB) anzuwenden. Wesentlich ist der geäußerte Parteiwille, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück. Neben dem Antrag und der Begründung des Eilantrags ist auch die Interessenlage des Antragstellers zu berücksichtigen, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und sonstigen für das Gericht und dem Antragsgegner als Empfänger der Prozesserklärung erkennbaren Umständen ergibt. Anträge sind somit unter Berücksichtigung des recht verstandenen Interesses des Antragstellers auszulegen. Ist der Antragsteller bei der Fassung des Antrags in der Eilsache anwaltlich vertreten worden, kommt der Antragsformulierung allerdings gesteigerte Bedeutung für die Ermittlung des tatsächlich Gewollten zu. Selbst dann darf die Auslegung jedoch vom Antragswortlaut abweichen, wenn die Begründung des Eilantrags, die beigefügten Bescheide oder sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Ziel des Eilantrags von der Antragsfassung abweicht (vgl. BVerwG, B.v. 21.1.2015 – 4 B 42/14 – juris Rn. 12 m.w.N.).
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Zwar hat die anwaltlich vertretene Antragstellerin ihren Eilantrag mit „einstweilige Anordnung“ betitelt, der seinem Wortlaut nach auf einen Antrag gem. § 123 Abs. 1 VwGO hindeute könnte. Das Ziel des vorliegenden Eilantrags ist jedoch, eine zügige Entscheidung darüber zu bewirken, dass die Teilnehmer der Versammlung am 06.06.2023, Trommeln mitführen und einsetzen dürfen. Dieses Ziel erreicht die Antragstellerin nur (vgl. § 123 Abs. 5 VwGO) mit einem Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO, um insoweit die aufschiebende Wirkung ihrer eingelegten Anfechtungsklage – die gem. Art. 25 BayVersG entfällt (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) – durch das Gericht anordnen zu lassen.
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2. Der Antrag hat in der Sache Erfolg.
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Im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO ist eine Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse und dem privaten Suspensivinteresse des Antragsstellers am Eintritt der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs vorzunehmen. Dabei trifft das Gericht eine eigene originäre Interessensabwägung, für die in erster Linie die Erfolgsaussichten in der Hauptsache maßgeblich sind. Im Falle einer demnach voraussichtlich aussichtslosen Klage besteht dabei kein überwiegendes Interesse an einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Wird dagegen der Rechtsbehelf in der Hauptsache voraussichtlich erfolgreich sein, so wird regelmäßig nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Bei offenen Erfolgsaussichten ist eine Interessensabwägung vorzunehmen, etwa nach den durch § 80 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO getroffenen Grundsatzregeln, nach der Gewichtung und Beeinträchtigungsintensität der betroffenen Rechtsgüter sowie der Reversibilität im Falle von Fehlentscheidungen. Dem Charakter des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO entspricht dabei grundsätzlich eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage. Zum Schutz von Versammlungen ist jedoch schon im Eilverfahren durch eine intensivere Prüfung dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Sofortvollzug der umstrittenen Maßnahme in der Regel zur endgültigen Verhinderung der Versammlung in der beabsichtigten Form führt (vgl. insoweit auch VG München, B.v. 17.9.2021 – M 13 S 21.4924 – juris m.w.N.).
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Diesen Maßstab zugrunde gelegt, ist dem Antrag – der sich gegen das in Nr. 2.3.3 des Bescheids vom 02.06.2023 verfügte Verbot des Mitführens sowie des Einsatzes von Trommeln während der gesamten Dauer der Versammlung richtet – stattzugeben. Diese behördliche Maßnahme wird sich in einem Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtswidrig erweisen, sodass die Antragstellerin dadurch in ihren Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Das generelle Verbot des Mitführens sowie des Einsatzes von Trommeln während der gesamten Dauer der Versammlung am 06.06.2023 kann nach summarischer Prüfung nicht als rechtmäßig bestätigt werden.
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Gem. Art. 15 Abs. 1 BayVersG kann die zuständige Behörde eine Versammlung beschränken oder verbieten, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Soweit die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht gem. § 114 Satz 1 VwGO, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.
18
Vorliegend hegt das Gericht auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Tatsachengrundlagen Bedenken, ob das Mitführen und der Einsatz von Trommeln an sich die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des Art. 15 Abs. 1 BayVersG unmittelbar gefährdet, mithin überhaupt die tatbestandlichen Voraussetzungen der Eingriffsgrundlage gegeben sind.
19
Selbst wenn man dies einmal unterstelle möchte, gebietet es jedenfalls der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, mit Beschränkungen nicht stärker in die Versammlungsfreiheit einzugreifen, als dies zur Abwehr der unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erforderlich ist. Art. 7 Nr. 2 BayVersG verbietet es, an einer öffentlichen Versammlung in einer Art und Weise teilzunehmen, die dazu beiträgt, dass die Versammlung oder ein Teil hiervon nach dem äußeren Erscheinungsbild paramilitärisch geprägt wird und dadurch eine einschüchternde Wirkung entsteht. Zur Durchsetzung des mit Art. 8 GG grundsätzlich zu vereinbarenden Militanzverbots kommen Beschränkungen nach Art. 15 Abs. 1 BayVersG in Betracht. Denn Art. 8 GG schützt friedliche Aufzüge, nicht aber Aufmärsche mit paramilitärischem oder sonstwie einschüchterndem Charakter. (vgl. BayVGH, U.v. 25.5.2010 – 10 BV 09.1480 – juris Rn. 18 und 20 m.w.N.).
20
Zwar gab es seitens der Polizei … aaaa-Land Hinweise darauf, dass bei einer der letzten Versammlungen aufgefallen sei, dass die mitgeführten Trommeln über längere Zeit gemeinsam im Takt schlugen und so den Eindruck eines geschlossenen Marschierens vermittelten. Bürger erinnere dies an Zeiten der Nationalsozialisten (E-Mail der Polizei … aaaa-Land vom 27.02.2023).
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Möchte man auch in diese Beziehung einmal unterstellen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen, hätte es der zuständigen Behörde aber oblegen, zu prüfen, ob es mildere und gleich effektive Mittel gibt, um die Versammlung zur Abwehr unmittelbarer Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu beschränken. So ist beispielsweise das Einschüchterungspotential regelmäßig gering, wenn die Trommeln lediglich bei ortsfesten Auftakt-, Zwischen- oder Schlusskundgebungen der Versammlung zum Einsatz kommen, um Aufmerksamkeit auf einen Redebeitrag zu lenken. Ein generelles Verbot ist daher nicht erforderlich, zumal die Versammlungsbehörde neben dem Einsatzort und der Zeitdauer auch die Anzahl der Trommeln beschränken und gegebenenfalls deren gleichzeitige Verwendung unterbinden kann (vgl. BayVGH, U.v. 25.5.2010 – 10 BV 09.1480 – juris Rn. 20).
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Die Einschätzung des Gerichts wird durch eine Meldung der Polizeiinspektion … aaaa-Land unterstrichen, die hinsichtlich des Mitführens und des Einsatzes von Trommeln selbst kein pauschales Verbot vorgeschlagen, sondern eine differenzierte Betrachtungsweise angeregt hat.
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Auch die allgemeine „Lärmproblematik“ rechtfertigt vorliegend den Erlass der streitgegenständlichen beschränkenden Verfügung nicht. Das Landratsamt hat nicht hinreichend dargelegt, dass – selbst unter Berücksichtigung des Inhalts der übermittelten Beschwerden von Anwohnern – die im Hinblick auf die Versammlungsfreiheit hohe Eingriffsschwelle des Art. 15 Abs. 1 BayVersG erreicht wäre.
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3. Nach alledem ist dem Antrag mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Der Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.