Inhalt

VG München, Urteil v. 31.07.2023 – M 15 K 23.30228
Titel:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft 

Normenketten:
VwGO § 75
AsylG § 3, § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4, § 24 Abs. 4 S. 1
Leitsatz:
Frauen droht in Afghanistan gegenwärtig mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen ihres Geschlechts. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Afghanistan, Untätigkeitsklage, Im Iran aufgewachsene schiitische Frau, Geschlechtsspezifische Verfolgung bejaht, Afghanistan, geschlechtsspezifische Verfolgung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 21077

Tenor

I.    Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II.    Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

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Die Klägerin ist Staatsangehörige Afghanistans, Zugehörige der Volksgruppe der Tadschiken und schiitischen Glaubens. Sie reiste nach eigenen Angaben am ... auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am ... Asylantrag.
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In der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am ... gab sie im Wesentlichen an, dass sie im fünften Monat schwanger sei. Sie sei im Iran geboren und nie in Afghanistan gewesen. Sie habe dort auch keine Verwandten. Aus dem Iran seien sie und ihr Ehemann ausgereist, weil sie dort als Menschen überhaupt keinen Wert gehabt hätten. Sie hätten keinerlei Rechte gehabt und das Leben dort sei für sie sehr schwer gewesen. Nach Afghanistan könne sie nicht, weil Tadschiken und Schiiten in Afghanistan von den Taliban getötet würden.
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Die Beklagte leitete ein Dublin-Verfahren ein, erklärte aber mit Schreiben vom ... an die Zentrale Ausländerbehörde und den Prozessbevollmächtigten der Klägerin, dass die Überstellungsfrist abgelaufen sei und die Entscheidung im nationalen Verfahren ergehe. Der Dublin-Bescheid vom … … 2022 wurde mit Bescheid vom … … 2022 aufgehoben.
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Am ... erhoben die Prozessbevollmächtigten des Klägers beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Untätigkeitsklage und beantragten,
die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise, den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vorliegen,
hilfsweise, das Asylverfahren der Klägerin fortzuführen und über die Anträge der Klägerin zu entscheiden.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das Asylverfahren der Klägerin seit jedenfalls sieben Monaten nicht weiter betrieben werde und dieser ein weiteres Zuwarten nicht zuzumuten sei. Es liege kein zureichender Grund vor, der die Verzögerung rechtfertige. Die Flüchtlingszahlen seien bekannt. Ebenso seien jedoch auch andere, gleichartige Fälle bekannt, die wesentlich schneller behandelt würden. Eine genaue Verfahrensweise der Beklagten, ob und vor allem wie Asylantragsteller verschiedener Herkunftsländer behandelt würden, sei nicht zu erkennen. Prioritäten würden offensichtlich weder nach Herkunft noch nach Datum des Asylantrags gesetzt. Gründe in der Person der Klägerin, die eine Verzögerung des Verfahrens rechtfertigten, lägen offensichtlich nicht vor. Diese sei stets ihren Mitwirkungspflichten nachgekommen.
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Die Beklagte erhielt bis ... Gelegenheit, Gründe nach § 75 Satz 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) mitzuteilen, äußerte sich hierzu jedoch nicht und stellte auch keinen Antrag.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).

Entscheidungsgründe

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I. Die Klage ist zulässig.
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1. Die Untätigkeitsklage in Form der Verpflichtungsklage ist hier die statthafte Klageart (vgl. BVerwG, U.v. 11.7.2018 – 1 C 18/17 – juris Rn. 22 ff., 46).
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2. Die Klage ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere sind zum Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 75 Rn. 8 m.w.N.) sowohl die Dreimonatsfrist des § 75 Satz 2 VwGO als auch die Sechsmonatsfrist des § 24 Abs. 4 Satz 1 Asylgesetz (AsylG) eingehalten (vgl. BVerwG, U.v. 11.7.2018 – 1 C 18/17 – juris Rn. 19). Weder ist seitens der Beklagten eine Fristverlängerung nach § 24 Abs. 4 Satz 2 AsylG erfolgt noch ist ersichtlich, dass die dort genannten Verlängerungsgründe vorliegen. Ob die Beklagte mit „zureichendem Grund“ im Sinne von § 75 Satz 3 VwGO noch nicht entschieden hat, ist dagegen keine Frage der Zulässigkeit, sondern der Spruchreife als Teil der Begründetheit (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO); auch bei Vorliegen eines „zureichenden Grundes“ ist die Klage dennoch zulässig (BVerwG, U.v. 22.5.1987 – 4 C 30/86 – juris Rn. 12; VG München, U.v. 27.5.2016 – M 17 K 15.31564 juris Rn. 22).
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II. Die Klage ist auch begründet, insbesondere hat die Klägerin zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Da eine Anhörung bereits erfolgt ist, kann das Gericht im vorliegenden Fall insoweit auch durchentscheiden (vgl. BVerwG, U.v. 11.7.2018 – 1 C 18/17 – juris Rn. 32).
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1. Die Beklagte hat keine Begründung vorgebracht, weshalb das Verwaltungsverfahren noch nicht abgeschlossen worden ist. Eine Aussetzung des Verfahrens nach § 75 Satz 3 VwGO ist daher nicht angezeigt, so dass die Sache spruchreif i.S.v. § 113 Abs. 5 VwGO ist.
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2. Die fehlende Entscheidung des Bundesamtes über den Antrag der Klagepartei ist rechtswidrig und verletzt das subjektive Recht des Klägers aus Art. 31 Abs. 2 der RL 2013/32/EU i.V.m. Art. 18 Grundrechte-Charta und Art. 16a Grundgesetz (GG).
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Die materielle Pflicht der Beklagten zur Entscheidung ergibt sich direkt aus Art. 16a Abs. 1 GG als einem subjektiv-öffentlichen Recht. Diesem Grundrecht kann nur durch aktives staatliches Handeln Geltung verschafft werden. Eine Verletzung dieses Grundrechts kann deshalb bereits durch reines Unterlassen, also durch Nichtverbescheidung von Anträgen, eintreten. Somit begründet Art. 16a Abs. 1 GG eine Pflicht des Staates zur Bescheidung von Asylanträgen, die die Gerichte sowohl unmittelbar aufgrund von Art. 16a Abs. 1 GG als auch aufgrund von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu gewährleisten hat (vgl. z.B. VG München, U.v. 27.5.2016 – M 17 K 15.31564 juris Rn. 31).
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3. Die Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG liegen hier vor:
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3.1 Gemäß § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgungshandlungen werden in § 3a AsylG näher umschrieben, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG erläutert. Eine Verfolgung kann nach § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Allerdings wird dem Ausländer gemäß § 3e Abs. 1 AsylG die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
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Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer – bei einer hypo-thetisch zu unterstellenden Rückkehr – die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Der in dem Tatbestandsmerkmal „aus begründeter Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d RL 2011/95/EU enthal-tene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 37.18 – juris Rn. 13).
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3.2 Im Falle der Klägerin zu 1 ist von einer dieser drohenden geschlechtsspezifischen Verfolgung im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG auszugehen.
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Bereits vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 sahen sich Frauen in Afghanistan – trotz aller vorausgegangenen Reformen – erheblichen gesellschaftlichen und sozialen Diskriminierungen ausgesetzt (vgl. hierzu ausführlich VG Freiburg (Breisgau) – U.v. 11.10.2021 – A 15 K 4778/17 – juris Rn. 15) und die afghanische Regierung war nicht willens oder in der Lage, Frauenrechte in Afghanistan vollumfänglich umzusetzen (vgl. Lagebericht v. 20.7.2022, S. 14). In den Wochen und Monaten nach der Machtübernahme durch die Taliban verkündeten diese zahlreiche Maßnahmen und Verordnungen, welche die Rechte von Frauen und Mädchen weiter drastisch einschränkten und geradezu aushöhlten, darunter der Zugang zu Beschäftigung und Bildung, das Recht auf friedliche Versammlung und die Bewegungsfreiheit. Z.B. verkündete im März 2022 das afghanische Innenministerium, dass Frauen nicht arbeiten gehen sollten und am 24. Dezember 2022 bzw. 4. April 2023 wurde ein Beschäftigungsverbot für Nichtregierungsorganisationen und internationale Organisationen erlassen (Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan v. 26.6.2023 – Lagebericht – S. 14). Aber auch jenseits von Bildung und Arbeit sind Frauen durch Dekrete, willkürliche Bedrohung und Angst weitgehend vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Am 26. Dezember 2021 wurde die Beförderung allein reisender Frauen per Dekret verboten, wenn sie mehr als 72 km von ihrem Wohnort entfernt sind und seit 25. März 2022 müssen Frauen laut Medienberichten für Flugreisen innerhalb Afghanistans oder ins Ausland von einem Mahram, einem männlichen Verwandten, begleitet werden. Es gibt mittlerweile Berichte, dass in einigen Provinzen auch innerhalb eines 72 km-Radius sowie bei Besuchen von Behörden und Gesundheitseinrichtungen die Begleitung eines Mahrams erforderlich ist. Auch innerhalb von Städten nahmen in der Folgezeit die Berichte zu, nach denen Frauen ohne Mahram aus Taxis und Mini-Bussen aussteigen mussten, wenn sie an Taliban-Checkpoints auffielen. Es wird auch berichtet, dass Frauen von den Taliban verhaftet und gefoltert wurden, wenn sie ohne Mahram angetroffen wurden oder die Taliban einen männlichen Begleiter nicht als Mahram akzeptierten. Afghanische Frauen berichten, dass die Mahram-Anforderungen ihr tägliches Leben fast unmöglich machten, während zugleich jedes Auftreten in der Öffentlichkeit ohne einen Mahram ein ernsthaftes Risiko darstelle. Laut Berichten vom 2. Mai 2022 haben die Taliban zudem die Ausgabe von PKW-Führerscheinen an Frauen eingestellt. Am 7. Mai 2022 wurde eine Verordnung erlassen, die Frauen anweist, sich von Kopf bis Fuß zu bedecken bzw. eine Burka oder einen langen, schwarzen Schleier zu tragen, der alles außer den Augen bedeckt. Der Erlass sieht zunächst eine Sensibilisierung vor, gefolgt von Verwarnungen und Disziplinarmaßnahmen gegen Ehemänner, Väter und Brüder von Frauen, die sich nicht an die Verordnung halten. Gleichzeitig wurde allen Frauen empfohlen, das Haus nur noch zu verlassen, wenn es unbedingt notwendig ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Afghanistan: Gefährdungsprofile, Stand: 2.11.2022, S. 9 f.). Am 10. November 2022 wurde Frauen der Zutritt zu Sporteinrichtungen, öffentlichen Bädern und (Freizeit-)parks verboten. Obwohl die Taliban im Dezember 2021 ein Dekret zum Verbot von Zwangsverheiratungen erlassen haben, ist die Zahl an Zwangs- und Kinderehen in Afghanistan stark gestiegen, bedingt durch Armut und eine sich verschlimmernde humanitäre und wirtschaftliche Lage, gepaart mit dem Fehlen anderweitiger Chancen für Mädchen aufgrund der Beschneidungen von Frauenrechten. Dabei haben nach Schätzungen ca. 90% aller Frauen in Afghanistan geschlechtsspezifische Gewalt erlebt, mehrheitlich in der Form von Gewalt durch Intimpartner. Zudem hat sich der Zugang zu medizinischer Versorgung und humanitärer Hilfe für Frauen weiter verschlechtert, insbesondere durch die Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit. Die Müttersterblichkeitsrate war 2022 um ca. 30% höher als zuletzt vor der Machtübernahme durch die Taliban. Im Februar 2023 haben die Taliban Apotheken und Hebammen verboten, Verhütungsmittel zu verkaufen (vgl. VG Köln, U.v. 9.5.2023 – 14 K 4792/22.A – juris Rn. 32, 38 ff. m.w.N.; Human Rights Council, Situation of women and girls in Afghanistan v. 20.6.2023, S. 5 f., 12 f.). Allgemein nehmen Restriktionen zu (Lagebericht S. 13) und das repressive gesellschaftliche Klima führt dazu, dass Frauen häufig von sich aus ihren Bewegungsradius einschränken bzw. Familien dafür Sorge tragen (vgl. Human Rights Council, Situation of women and girls in Afghanistan v. 20.6.2023, S. 6, Pro Asyl, „Verfolgt, weil sie Frauen sind: Afghanische Frauen müssen als Flüchtlinge anerkannt werden“ v. 2.2.2023; Lagebericht v. 20.7.2022, S. 15).
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Frauen und Mädchen werden wegen Verstößen gegen die diskriminierenden Vorschriften der Taliban willkürlich inhaftiert, öffentliche Proteste von Frauen gegen die Politik der Taliban zum Teil unter massiver Gewaltanwendung aufgelöst. Frauen sind seit dem Vormarsch der Taliban vermehrt Opfer von gezielter und willkürlicher Gewalt geworden. Rechtliche Mittel, die Frauen vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt schützen, gibt es nicht mehr. Die Taliban haben das für die Gewalt gegen Frauen zuständige Gericht geschlossen. Zudem wurden die staatlich geführten wie auch die meisten nicht-staatlichen Frauenhäuser geschlossen. Auch im Übrigen besteht für Frauen seit der Taliban-Machtübernahme weitgehend keine Möglichkeit mehr, gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen, (vgl. VG Köln, U.v. 9.5.2023 – 14 K 4792/22.A – juris Rn. 44 m.w.N.; Human Rights Council, Situation of women and girls in Afghanistan v. 20.6.2023, S. 7, 17 f.; Lagebericht S. 13). Des Weiteren gibt es Berichte, dass diese Regelungen nicht nur von den Taliban, sondern auch von Nachbarn und Mitgliedern örtlicher Gemeinschaften durchgesetzt werden, was zu einem Klima ständiger Überwachung führt (vgl. AI, Death in Slow Motion, Women and Girls under Taliban Rule, S. 17).
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Im Lichte der systemischen und systematischen Diskriminierung von Frauen und Mädchen durch die Taliban, durch die die Hälfte der Bevölkerung aus dem öffentlichen Leben in Afghanistan verdrängt wird, muss man von einer der schwerwiegendsten Situationen weltweit mit Blick auf die Rechte von Frauen und Mädchen sprechen; die Dekrete der Taliban stellen massive Menschenrechtsverstöße dar (Lagebericht S. 4, 12 f.).
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Das US-Außenministerium kommt in seinem Menschenrechtsbericht für das Jahr 2022 zu dem Ergebnis, dass die von den Taliban erlassenen Vorschriften eine formalisierte und landesweite Diskriminierung von Frauen und Mädchen bedeutet, die diese von den allermeisten Aspekten des sozialen Lebens ausschließt, und nach Auffassung des UN-Sonderberichterstatters kann die systematische Verweigerung der grundlegenden Menschenrechte von Frauen und Mädchen durch die Taliban einer geschlechtsspezifischen Verfolgung gleichkommen. Nach Einschätzung der European Union Agency for Asylum (EUAA) führt die Häufung der verschiedenen von den Taliban eingeführten Maßnahmen, die die Rechte und Freiheiten von Frauen und Mädchen in Afghanistan beeinträchtigen, zu einer Verfolgung. Bei Frauen und Mädchen in Afghanistan sei generell von einer begründeten Furcht vor Verfolgung auszugehen. EU-Länder wie Schweden und Dänemark haben ihre Entscheidungspraxis an diese Einschätzung der EUAA inzwischen angepasst (vgl. VG Köln, U.v. 9.5.2023 – 14 K 4792/22.A – juris Rn. 50 ff. m.w.N.; EUAA, Country guidance: Afghanistan, January 2023, S. 91; https://taz.de/Gefluechtete-Afghaninnen-in-Deutschland/!5917883/). Auch der Human Rights Council bejaht eine geschlechtsspezifische Verfolgung der Frauen in Afghanistan (Situation of women and girls in Afghanistan v. 20.6.2023, S. 20).
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Die Einzelrichterin teilt diese Einschätzung und geht davon aus, dass Frauen in Afghanistan gegenwärtig mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen ihres Geschlechts droht. Bei der Klägerin kommt hinzu, dass sie im Iran aufgewachsen ist, der im Vergleich zu Afghanistan – insbesondere unter dem jetzigen Taliban-Regime – liberaler ist. Nicht zuletzt ist sie Schiitin. Schiiten werden in Afghanistan im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich weiterhin diskriminiert (vgl. https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/rights-freedom/un-human-rights-warns-of-afghanistans-descent-into-authoritarianism/). Damit dürfte die Klägerin von den genannten Restriktionen der Frauen durch die Taliban überdurchschnittlich betroffen sein (vgl. Human Rights Council, Situation of women and girls in Afghanistan v. 20.6.2023, S.18).
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Da der (erste) Hauptantrag erfolgreich ist, musste über die weiteren Anträge nicht mehr entscheiden werden.
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Nach alledem war der Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.