Inhalt

VG München, Gerichtsbescheid v. 12.05.2023 – M 10 K 22.31414
Titel:

Formvorschrift, Dolmetscher, Sprachmittler, Senegal, Abschiebungsverbot

Normenketten:
AsylG § 32
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsätze:
1. Eine Anfechtung der Rücknahme eines Asylantrags ist aus Gründen der Rechtssicherheit grundsätzlich nicht möglich. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Junge, gesunde und arbeitsfähige Rückkehrer werden trotz fehlender Unterstützung durch ein familiäres Netzwerk im Senegal in der Lage sein, sich mit ungelernter Arbeit so viel zu verdienen, dass sie ihren Lebensunterhalt finanzieren können. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl, Herkunftsland: Senegal, Einstellung des Asylverfahrens, Wirksamkeit der Rücknahme des Asylantrags, Abschiebungsverbote, Formvorschrift, Dolmetscher, Sprachmittler, Senegal, Abschiebungsverbot
Fundstelle:
BeckRS 2023, 21072

Tenor

I.  Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Tatbestand

1
Der am … Januar 2000 geborene senegalesische Kläger wendet sich gegen die Einstellung seines Asylverfahrens.
2
Bei der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland am 25. Mai 2022 wurde der Kläger durch die Bundespolizei … aufgegriffen. Im Aufgriffsbericht der Bundespolizei sind bei den Personalien des Klägers als Sprachen Französisch und Wolof notiert. Bei der bundespolizeilichen Befragung vom gleichen Tag, bei der ein Dolmetscher ins Französische übersetzte, gab der Kläger an, sein Heimatland verlassen zu haben, da er dort keine Arbeit und auch keine Familie mehr habe. Des Weiteren habe er Probleme wegen seiner Sexualität gehabt. Er habe eine Partnerschaft mit einem Mann gehabt und sei deswegen von anderen geschlagen worden. Ein Asylgesuch äußerte der Kläger nicht; die Bundespolizei sah im Vortrag des Klägers auch kein Asylgesuch. Bei der bundespolizeilichen Anhörung zur Aufenthaltsbeendigung vom 27. Mai 2022 äußerte sich der Kläger im Hinblick auf die beabsichtigte Abschiebung dahingehend, dass er alleine (ohne Polizei) in den Senegal fliegen werde. Seit 26. Mai 2022 befand sich der Kläger in Abschiebungshaft in der Justizvollzugsanstalt … (JVA …*); die Abschiebung wurde für den 14. Juni 2022 geplant.
3
Ausweislich der Berichte der JVA … vom 9., 10. und 11. Juni 2022 sowie vom 23. September 2022 ist beim Kläger bei der Zugangsuntersuchung eine psychische Auffälligkeit diagnostiziert worden. Am 9., 10. und 11. Juni 2022 sei der Kläger aufgrund medizinischer Notfälle, insbesondere Atemnot, Herzrasen, Übelkeit und Erbrechen, in die Klinik gebracht worden, von dort aber nach jeweils kurzer Zeit ohne Befund wieder entlassen worden. Von einer psychiatrischen Behandlung während des Aufenthalts in der JVA sei nichts bekannt.
4
Die Bevollmächtigten des Klägers stellten (mit unvollständig übermitteltem Fax) am 10. Juni 2022 und (mit vollständig übermitteltem Fax) am 13. Juni 2022 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) für den Kläger einen Asylantrag.
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Mit E-Mail vom 13. Juni 2022 teilte die Sozialinspektorin der JVA … dem Bundesamt mit, dass sie nochmals mit dem Kläger bezüglich einer potentiellen Rücknahme des Asylantrags gesprochen und ihm den Inhalt des anliegenden Rücknahmeschreibens übersetzt habe. Sie habe den Kläger mehrfach aus verschiedenen Winkeln nach seiner Ausreisewilligkeit befragt und er habe jedes Mal gesagt, er wolle in den Senegal zurückkehren. Eine Kommunikation mit dem Kläger in Englisch sei „ohne Probleme möglich“ gewesen. Der Kläger habe sie bereits seit dem 8. Juni 2022 jeden Werktag mindestens zweimal nach einer baldmöglichen Abschiebung in den Senegal befragt. Er habe auch – von sich aus – in einer anderen Befragung am Morgen des 13. Juni 2022 geäußert, schnellstmöglich in den Senegal zurückkehren zu wollen. Mit der vom Bundesamt in deutscher Sprache vorgefertigten „Erklärung über die vorsorgliche Rücknahme des Asylantrags“ vom 13. Juni 2022 nahm der Kläger seinen Asylantrag zurück. Die Erklärung wurde vom Kläger sowie der Sozialinspektorin, die auch als Dolmetscherin für die englische Sprache fungierte, unterschrieben.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 13. Juni 2022 wurde das Asylverfahren aufgrund der Rücknahme des Asylantrags eingestellt und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen.
7
Mit Schriftsatz vom 14. Juni 2022 beantragten die Bevollmächtigten des Klägers unter Bezugnahme auf den gestellten Asylantrag beim Verwaltungsgericht München nach § 123 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), die „in wenigen Minuten“ stattfindende Abschiebung zur Durchführung des Asylverfahrens auszusetzen. Mit Beschluss vom gleichen Tag (versehentlich datiert auf 13.6.2022) ordnete das Verwaltungsgericht München an, die beabsichtigte Abschiebung des Klägers vorläufig auszusetzen (vorläufiges Aktenzeichen: M 10 E 22.unbek., später: M 10 E 22.31358). Der Kläger wurde jedoch dennoch abgeschoben, da der gerichtliche Beschluss der Bundespolizei … erst nach dem Start des Flugzeugs zugestellt wurde. Mit Beschluss vom 8. Juli 2022 hob das Verwaltungsgericht München von Amts wegen entsprechend § 80 Abs. 7 VwGO den zuvor ergangenen Beschluss auf und lehnte den Eilantrag ab (M 10 E 22.31358). Die Voraussetzungen für die Anordnung der vorläufigen Aussetzung der Abschiebung hätten nicht vorgelegen. Entgegen den Ausführungen in der Antragsschrift habe kein Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens in Deutschland bestanden, da der Kläger seinen Asylantrag am 13. Juni 2022 zurückgenommen habe.
8
Der Kläger hat mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 27. Juni 2022, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am gleichen Tag, Klage gegen den Bescheid vom 13. Juni 2022 erhoben. Er beantragt zuletzt,
9
den Bescheid vom 13. Juni 2022, dem Kläger zugestellt am 13. Juni 2022, den Bevollmächtigten zugestellt am 21. Juni 2022, aufzuheben, hilfsweise festzustellen, dass beim Kläger Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Senegal vorliegen.
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Zur Begründung wird in tatsächlicher Hinsicht insbesondere vorgetragen, dass eine Beraterin des Jesuiten Flüchtlingsdienstes den Kläger am 7. Juni 2022 in der JVA … zu einer Beratung getroffen habe. Im Verlauf der Beratung hätten erhebliche Verständigungsschwierigkeiten sowohl in der französischen als auch in der englischen Sprache bestanden. Der Kläger sei aufgrund der Haftsituation und der Unkenntnis über die rechtliche Situation sehr verunsichert und gestresst gewesen. Er habe geweint. Durch die Vermittlung der Beraterin sei es zur Beauftragung der Bevollmächtigten und zur Asylantragstellung gekommen. Hierzu wird ein Gesprächsprotokoll der Beraterin vom 22. Juni 2022 vorgelegt. Aus einem darin befindlichen Nachtrag vom 14. Juni 2022 ergibt sich, dass die Beraterin von Bediensteten der Haftanstalt und von anderen Inhaftierten erfahren habe, dass der Kläger am 10. und 11. Juni 2022 in die Psychiatrie nach … gebracht worden sei. Er habe sich „wie ein Affe benommen“ und „wie verrückt rumgeschrien“. In rechtlicher Hinsicht führen die Bevollmächtigten des Klägers aus, dass die Einstellung des Asylverfahrens rechtswidrig sei. Die Erklärungen des Klägers, so schnell wie möglich in den Senegal ausreisen zu wollen, könnten nicht dahingehend ausgelegt werden, dass er seinen Asylantrag habe zurücknehmen wollen. Die Rücknahmeerklärung vom 13. Juni 2022 sei jedenfalls nichtig, da sich der Kläger in einem Zustand vorübergehender Störung der Geistestätigkeit (§ 105 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB analog) befunden habe. Wie sich aus dem Gesprächsprotokoll der Beraterin des Flüchtlingsdienstes ergebe, sei der Kläger psychisch nicht stabil gewesen. Er sei im Gespräch von einfachen Fragen und Informationen überfordert und des Weiteren in der Psychiatrie gewesen. Zudem wird auf eine eidesstattliche Versicherung des Klägers vom 22. Juni 2022 verwiesen, die in französischer Sprache sowie in deutscher Übersetzung vorgelegt wird. Aus dieser ergebe sich, dass der Kläger die Mitarbeiter (beim Gespräch über die Rücknahme) nicht verstanden habe. Er sei so verwirrt gewesen, dass er nicht gewusst habe, was er da unterschreibe. Er habe den Asylantrag nie zurücknehmen wollen. Ferner sei die Rücknahme des Asylantrags aufgrund der offenkundigen Verständigungsschwierigkeiten nicht wirksam. Das Bundesamt sei verpflichtet gewesen, einen Sprachmittler für die Sprache Französisch beizuziehen. Der Kläger habe die Übersetzung der Rücknahmeerklärung in die englische Sprache nicht verstanden. Aus dem Protokoll über das Gespräch mit der Beraterin des Flüchtlingsdienstes gehe hervor, dass erhebliche Verständigungsschwierigkeiten bestanden hätten. Der Kläger habe die Erklärung auch nur auf Deutsch unterschrieben und keine schriftliche Übersetzung der Rücknahmeerklärung erhalten. Es bestünden überdies erhebliche Zweifel an der Objektivität der Sprachmittlerin, die offenbar in engem Austausch mit dem Bundesamt gestanden habe. Auch die unterlassene Einbeziehung der Klägerbevollmächtigten im Rahmen der Rücknahme führe zu deren Unwirksamkeit. Es sei auch keine Rückfrage bei den Bevollmächtigten erfolgt. Im Übrigen seien die Bevollmächtigten über das Gespräch und die Rücknahme unmittelbar zu informieren gewesen. Jedenfalls habe der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG aufgrund seiner Homosexualität. Homosexuelle Handlungen seien im Senegal strafbar. Die staatliche Gewalt gegen sexuelle Minderheiten habe in den vergangenen Jahren massiv zugenommen, desgleichen die Rhetorik gegen Homosexuelle in den sozialen Medien. Die Diskriminierung von Homosexuellen sei eine tief verwurzelte Realität im Senegal. Es bestehe auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG, da sich der Kläger in einem desolaten psychischen Zustand befinde. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachvortrags wird auf den Schriftsatz vom 6. September 2022 verwiesen.
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Die Beklagte nahm zum Sachvortrag der Klagepartei im Wesentlichen mit Schriftsatz vom 31. Oktober 2022 Stellung. Die Rücknahme des Asylantrags sei wirksam. Da die Verständigung mit der Sozialarbeiterin in der JVA … möglich gewesen sei, sei ein Dolmetscher nicht erforderlich gewesen. Die Sozialarbeiterin in der JVA habe keine Nähe zu irgendeiner Behörde. Die angeführten Angaben der Beraterin des Flüchtlingsdienstes entsprächen nicht den Tatsachen. Der Kläger sei zu keiner Zeit in die Psychiatrie nach … gebracht worden; insoweit werde auf die in der Behördenakte befindlichen Berichte der JVA … verwiesen. Eine Störung der Geistestätigkeit habe nicht vorgelegen. Die Beklagte habe sich auch nicht unter Umgehung der Bevollmächtigten an den Kläger gewandt; vielmehr sei der Kläger eigeninitiativ wegen des Rücknahmewunsches auf die Sozialarbeiterin zugegangen. Die Bevollmächtigten seien über den streitgegenständlichen Bescheid vom 13. Juni 2022 noch am gleichen Tag in Kenntnis gesetzt worden, was nachgewiesen wird. Auch Abschiebungshindernisse lägen nicht vor. Das Verlassen des Heimatlandes aus wirtschaftlichen und persönlichen Gründen sei nicht asylrelevant. Es könne auch keine Furcht des Klägers vor Verfolgung wegen seiner Homosexualität angenommen werden, da er selbst mehrfach den Wunsch geäußert habe, in sein Heimatland zurückzukehren. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG liege nicht vor, da eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung nicht vorgelegt worden sei. Im Übrigen werde mitgeteilt, dass am Tag der Abschiebung eine erneute bundespolizeiliche Befragung zu möglichen Gründen, die der Abschiebung entgegenstehen könnten, durchgeführt worden sei. Derartige Gründe seien verneint worden. Der Kläger habe bei der Abschiebung keinen Widerstand geleistet, er habe das Flugzeug freiwillig betreten. Um im Senegal optimal starten zu können, habe er nach einer monetären Rückkehrhilfe gefragt. Hierzu seien ihm 30 EUR in bar ausgehändigt worden.
12
Mit Beschluss vom 5. April 2023 hat das Gericht den Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen.
13
Die Beteiligten sind mit Schreiben vom 11. April 2023, zugestellt am 11. und 20. April 2023, zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört worden.
14
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, auch im Verfahren M 10 E 22.31358, sowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

15
1. Über die Klage kann nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da sie keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
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2. Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist die zunächst erhobene Verpflichtungsklage zulässigerweise (vgl. § 264 Nr. 2 ZPO) mit Schriftsatz vom 6. September 2022 in eine (statthafte) Anfechtungsklage gegen den Einstellungsbescheid umgestellt worden, wobei hilfsweise die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten beantragt wird. Die Klage ist jedoch unbegründet. Der angegriffene Bescheid vom 13. Juni 2022 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 HS. 2 AsylG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf den hilfsweise beantragten Verwaltungsakt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
17
a) Die Einstellung des Asylverfahrens nach § 32 AsylG ist rechtmäßig.
18
Im Falle der Antragsrücknahme stellt das Bundesamt gemäß § 32 AsylG in seiner Entscheidung fest, dass das Asylverfahren eingestellt ist und ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegt.
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Im vorliegenden Fall ist die Einstellung des Asylverfahrens rechtlich nicht zu beanstanden, da der Asylantrag mit schriftlicher Erklärung vom 13. Juni 2022 wirksam zurückgenommen worden ist. Angesichts dessen kommt es nicht entscheidungserheblich darauf an, ob die mündlichen Erklärungen des Klägers, in den Senegal zurück zu wollen, (ebenso) als Rücknahmeerklärung ausgelegt werden können.
20
Für die Antragsrücknahme bestehen – anders als für die Antragstellung (vgl. § 14 AsylG) – keine Formvorschriften. Allerdings dürfte wohl regelmäßig davon auszugehen sein, dass die Rücknahmeerklärung in der gleichen Form wie die Antragstellung nach § 14 AsylG zu erfolgen hat, die Rücknahme also grundsätzlich schriftlich oder zur Niederschrift erfolgen muss. Die Rücknahme kann insbesondere zur Niederschrift bei der Ausländerbehörde erklärt werden, wobei diese dann verpflichtet ist, die Erklärung unverzüglich an das Bundesamt weiterzuleiten. Wird die Rücknahme zur Niederschrift erklärt, ohne dass der Asylbewerber seinerseits für einen Sprachmittler gesorgt hätte, so ist ein solcher regelmäßig in entsprechender Anwendung des § 17 Abs. 1 AsylG von Amts wegen hinzuzuziehen. Eine Anfechtung der Rücknahme eines Asylantrags ist aus Gründen der Rechtssicherheit grundsätzlich nicht möglich. Ausnahmen sind in Einzelfällen allenfalls bei arglistiger Täuschung, bei Drohung oder unzulässigem Druck, bei unzutreffender Empfehlung oder Belehrung durch das Bundesamt oder die Ausländerbehörde, beim Vorliegen von Wiederaufnahmegründen und im Fall eines offensichtlichen Versehens anzuerkennen (vgl. hierzu: VG München, B.v. 13.11.2017 – M 2 S 17.47016 – juris Rn. 12 f.; VG Ansbach, U.v. 7.5.2013 – AN 1 K 13.30166 – juris Rn. 72).
21
Gemessen hieran liegt in der schriftlichen Erklärung vom 13. Juni 2022 eine wirksame Rücknahme des Asylantrags. Die Rücknahmeerklärung ist eindeutig formuliert und vom Kläger handschriftlich unterschrieben. Sie ist zwar nicht unmittelbar gegenüber dem Bundesamt abgegeben worden. Aber die vom Bundesamt vorbereitete Erklärung ist in der JVA in Anwesenheit der Sozialinspektorin unterschrieben worden und war zur Weiterleitung an das Bundesamt bestimmt. Dort ist die Erklärung auch am 13. Juni 2022 eingegangen. Diese Erklärung hat der Kläger nicht wirksam angefochten, denn er hat einen Anfechtungsgrund nicht substantiiert geltend gemacht. Insbesondere ist nach Aktenlage nicht anzunehmen, dass der Kläger zur Rücknahme des Asylantrags gezwungen worden ist. Der diesbezügliche Vortrag des Klägers in seiner Nachricht an seinen Bevollmächtigten (vorgelegt von der Klagepartei mit Schriftsatz vom 6.9.2022) ist bereits deswegen nicht beachtlich, da es sich um eine undatierte und nicht unterschriebene Erklärung handelt, der nicht der erhöhte Beweiswert einer eidesstattlichen Versicherung zukommt. Zudem ist dieser Vortrag, der sich im Übrigen in der Klageschrift nicht wiederfindet, zu vage, da Details des behaupteten Zwangs nicht beschrieben werden.
22
Anders als die Klagepartei meint, steht der Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung auch nicht entgegen, dass sie nach § 105 Abs. 2 BGB analog wegen vorübergehender Störung der Geistestätigkeit unwirksam wäre. Es ist nicht erkennbar, dass sich der Kläger im Zeitpunkt der Abgabe der Rücknahmeerklärung in einem derartigen Zustand befunden hätte. Zwar gab die Beraterin des Jesuiten Flüchtlingsdienstes in ihrem Nachtrag zum Gesprächsprotokoll vom 14. Juni 2022 an, dass der Kläger in die Psychiatrie nach … gebracht worden sei, worauf sich die Klägerbevollmächtigten auch maßgeblich stützen. Aber ein Aufenthalt des Klägers in der Psychiatrie während des Inhaftierungszeitraums ist nicht belegt. Nach den Berichten der JVA vom 9., 10. und 11. Juni 2022 sowie vom 23. September 2022 wurde der Kläger zwar dreimal insbesondere wegen Herzrasen, Atemnot und Übelkeit in die Klinik gebracht. Er wurde jedoch jedes Mal wieder nach kurzer Zeit ohne Befund entlassen. Insbesondere hielt er sich nicht in der Psychiatrie auf. Abgesehen von der vagen und nicht auf den Zeitpunkt der Rücknahme bezogenen Andeutung in der Stellungnahme der JVA vom 23. September 2022, dass der Kläger bei der Zugangsuntersuchung psychisch auffällig gewesen sei, finden sich keine Anhaltspunkte für eine psychische Auffälligkeit oder Erkrankung des Klägers, die es rechtfertigen könnte, im Zeitpunkt der Abgabe der Rücknahmeerklärung von einer Störung der Geistestätigkeit auszugehen. Insbesondere hat die Klagepartei kein ärztliches Attest vorgelegt. Auch aus der E-Mail der Sozialinspektorin vom 13. Juni 2022 wird eine irgendwie geartete geistige Beeinträchtigung des Klägers im Gespräch über die Rücknahme nicht ersichtlich.
23
Es ist auch rechtlich nicht zu beanstanden, dass zur Übersetzung des Gesprächs über die Rücknahme und der Rücknahmeerklärung kein Dolmetscher für die Sprache Französisch hinzugezogen worden ist. Denn die Zuziehung eines Dolmetschers in der Muttersprache ist nicht erforderlich, wenn auch in einer anderen Sprache, für die ein Dolmetscher zur Verfügung steht, eine hinreichende Verständigung möglich ist (vgl. VGH BW, B.v. 25.3.1999 – 9 S 666/09 – juris; OVG NW, B.v. 13.7.1983 – 19 B 20827/83 – juris; VG Frankfurt, B.v. 21.8.1997 – 7 G 50499/97.A (V) – juris). Vorliegend war ein Dolmetscher für die Sprache Französisch nicht erforderlich, da nach der E-Mail der Sozialinspektorin der JVA vom 13. Juni 2022 eine Kommunikation mit dem Kläger auf Englisch „ohne Probleme möglich“ war.
24
Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger unter dem 22. Juni 2022 eidesstattlich versichert hat, die Mitarbeiter nicht verstanden zu haben und nicht gewusst zu haben, was er unterschreibe. Zwar ist die Versicherung an Eides statt grundsätzlich ein zulässiges Mittel der Glaubhaftmachung mit erhöhtem Beweiswert (vgl. BVerwG, B.v. 1.10.2018 – 3 B 20/17 – juris Rn. 10). Ihr Beweiswert ist vorliegend jedoch in Anbetracht der Gesamtumstände des Falles entkräftet worden. Gemäß der E-Mail vom 13. Juni 2022 fand im Kontext der Rücknahme ein relativ ausführliches Gespräch mit dem Kläger auf Englisch statt, wobei der Kläger in ganzen Sätzen antwortete und nicht lediglich einsilbig beispielsweise mit „ja“, nein“ oder „ich verstehe nicht“. Beispielsweise sagte er, er wolle in den Senegal zurückkehren. Falls dies am nächsten Tag möglich sei, sei dies okay für ihn. Dies legt nahe, dass der Kläger die englischen Ausführungen der Sozialinspektorin verstanden hat und er auch selbst ausreichend gut Englisch spricht. Andernfalls wären ihm derart ausführliche Antworten nicht möglich gewesen. Hinzu kommt, dass der Kläger auch in den Tagen vor dem 13. Juni 2022 eigeninitiativ bereits mit der Sozialinspektorin wohl ebenso auf Englisch kommuniziert hat. Denn gemäß den Ausführungen in der E-Mail vom 13. Juni 2022 hat der Kläger die Sozialinspektorin seit 8. Juni 2022 mindestens zweimal (werk) täglich nach einer baldmöglichen Abschiebung in den Senegal befragt. In diesem Zusammenhang habe er auch erwähnt, dass er sich selbst ein Ticket durch einen Verwandten oder Bekannten besorgen könne. Auch dieser Austausch zeigt, dass der Kläger des Englischen ausreichend mächtig ist. Darüber hinaus fand das Gespräch mit der Beraterin des Flüchtlingsdienstes auch teilweise auf Englisch statt. Entgegen der Annahme der Klägerbevollmächtigten ergibt sich aus dem diesbezüglichen Gesprächsprotokoll der Beraterin nach Auffassung des Gerichts nicht, dass es während des Gesprächs sprachliche Verständigungsprobleme gab. Zu Beginn des Gesprächsprotokolls wird angegeben, dass das Gespräch teils auf Englisch, teils auf Französisch stattgefunden habe. Zur Sicherheit sei ein weiterer Mitinhaftierter anwesend gewesen, der Französisch auf muttersprachlichem Niveau spreche, um Verständigungsschwierigkeiten zu vermeiden. Im Anschluss wird das Gespräch wiedergegeben. Am Ende des Gesprächsprotokolls ist festgehalten, dass die Beraterin den Eindruck gehabt habe, dass der Kläger „die ganze Situation nicht verstehen konnte und überfordert war mit den Informationen und den gestellten Fragen, obwohl sie möglichst leicht verständlich formuliert waren und auf Englisch und Französisch gestellt wurden“. Hieraus geht hervor, dass der Kläger von den Informationen und der Situation (inhaltlich) überfordert war. Es wird jedoch nicht eindeutig klar, dass es ein Verständigungsproblem aufgrund der (englischen) Sprache gab. Als weiteres Indiz, das den Beweiswert der eidesstattlichen Versicherung entkräftet, kommt hinzu, dass der Kläger am Tag der Abschiebung, also einen Tag nach der erklärten Rücknahme, erneut von der Bundespolizei bezüglich Abschiebungshindernissen befragt worden ist. Diese hat er verneint, für einen guten Start im Senegal noch eine monetäre Hilfe erbeten und das Flugzeug freiwillig bestiegen. Jedenfalls ist nicht nachvollziehbar, warum der Kläger – unterstellt, er habe den Inhalt der Rücknahmeerklärung nicht verstanden – diese unterschrieben hat.
25
Entgegen der Behauptung der Klagepartei bestehen auch keine Zweifel an der Objektivität der Sozialinspektorin der JVA. Die Sozialinspektorin ist eine Mitarbeiterin der JVA. Sie steht nicht „auf Seiten“ des Bundesamts, auch wenn sie sich nach Aktenlage im Austausch mit einem Mitarbeiter des Bundesamts befand. Für ihre Neutralität spricht gerade, dass sie einen Zeugen zu dem Gespräch über die Rücknahme zugezogen hat.
26
Gegen die Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung kann auch nicht mit Erfolg eingewandt werden, dass zu dem diesbezüglichen Gespräch nicht die Klägerbevollmächtigten hinzugezogen worden sind. Der Kläger kann unabhängig von seinen Bevollmächtigten im Asylverfahren Erklärungen abgeben. Wenn er sich im Hinblick auf die Abgabe der Rücknahmeerklärung unsicher gewesen wäre, wäre es ihm frei gestanden, sich vor der Unterschrift Rechtsrat einzuholen. Im Übrigen ist nicht das Bundesamt wegen der Rücknahme des Asylantrags an den Kläger direkt (unter Umgehung der Bevollmächtigten) herangetreten, sondern der Kläger ist nach Aktenlage mehrfach eigeninitiativ wegen seines Rückkehrwunsches auf die Sozialinspektorin zugegangen.
27
Das Bundesamt war nach Erhalt der Rücknahmeerklärung auch nicht zur Rückfrage bei den Klägerbevollmächtigten verpflichtet. Im Fall der wirksamen Rücknahme des Asylantrags hat das Bundesamt kein Ermessen, wie es hierauf reagieren will. Die Einstellung des Verfahrens ist nach § 32 AsylG eine gebundene Entscheidung. Das Bundesamt hat die Klägerbevollmächtigten noch am 13. Juni 2022 über die Rücknahme des Asylantrags sowie den ergangenen Bescheid informiert, vgl. die Nachweise hierzu im Schriftsatz der Beklagten vom 12. Dezember 2022.
28
Im Übrigen dringt die Klagepartei mit ihrem Einwand, dass der Kläger keine schriftliche Übersetzung seiner Rücknahmeerklärung erhalten habe, nicht durch. Denn hierbei handelt es sich um ein nachträgliches Ereignis, das keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Rücknahmeerklärung haben kann.
29
b) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die hilfsweise beantragte Feststellung eines Abschiebungsverbots.
30
Soweit sich der Kläger darauf beruft, im Senegal keine Familie und keine Arbeit zu haben, kann hieraus ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention nicht hergeleitet werden. Es ist nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer (vgl. hierzu jüngst: VG München, U.v. 14.3.2023 – M 10 K 21.31382 n.v.) anzunehmen, dass junge, gesunde und arbeitsfähige Rückkehrer trotz fehlender Unterstützung durch ein familiäres Netzwerk im Senegal in der Lage sein werden, sich mit ungelernter Arbeit so viel zu verdienen, dass sie ihren Lebensunterhalt finanzieren können. Ein entsprechendes Abschiebungsverbot folgt auch nicht aus dem Vortrag zur Homosexualität des Klägers. Das Gericht ist schon nicht überzeugt, dass der Kläger deswegen individuell eine Verfolgung im Senegal befürchtet, anderenfalls hätte er in Deutschland nicht mehrfach – auch bereits gegenüber der Bundespolizei – einen Rückkehrwunsch geäußert. Jedenfalls ist eine staatliche Verfolgung des Klägers wegen seiner Homosexualität nach ständiger Rechtsprechung der Kammer nicht beachtlich wahrscheinlich (vgl. hierzu nur: VG München, U.v. 14.3.2023, a.a.O.; VG München, GB v. 8.5.2020 – M 10 K 16.31023 n.v., Rn. 18 ff.). Im Hinblick auf eine etwaige nichtstaatliche Verfolgung ist der Kläger auf eine inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylG zu verweisen.
31
Auch die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG scheidet aus, da der Kläger zum Nachweis einer etwaigen Erkrankung keine qualifizierte ärztliche Bescheinigung gemäß § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vorgelegt hat.
32
c) Im Übrigen sind Rechtsfehler des angefochtenen Bescheids weder vorgetragen noch ersichtlich.
33
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 84 Abs. 1 Satz 3, § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).